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HBS Böckler Impuls

Arbeitszeit: Immer kürzer, immer flexibler - und auch wieder länger

Ausgabe 11/2005

Hartnäckig hält sich in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass die tariflichen Arbeitszeitbestimmungen die Betriebe am flexiblen, wettbewerbsfähigen Wirtschaften hindern. Tatsächlich dürfte es schwer sein, überhaupt noch Arbeitszeitmodelle zu erfinden, die durch Tarifverträge nicht bereits möglich sind, zeigen aktuelle Studien aus dem WSI.

Weit mehr als 100 verschiedene Arbeitszeitmodelle in einem Betrieb, das ist heute keine Seltenheit in Deutschland. Parallel zu den Arbeitszeitverkürzungen der vergangenen Jahrzehnte ließen sich Unternehmen und Betriebsräte zahlreiche Arbeitszeitmodelle einfallen, damit die Maschinen trotz kürzerer Wochenarbeitszeiten der Beschäftigten ausgelastet sind.

Aktuell analysierte das WSI die gegenwärtigen tariflichen Arbeitszeitregelungen in 24 Wirtschaftszweigen, die einen typischen Querschnitt der bundesdeutschen Tariflandschaft bilden. Bei einer Fülle von Varianten - je nach Branche und Tarifbereich - enthalten sie diese Grundmuster für betriebliche Lösungen:

  • Es gibt Korridore rund um die regelmäßige tarifliche Arbeitszeit.
  • Die Arbeitszeit kann saisonal schwanken.
  • Die Regel-Arbeitszeit kann über einen bestimmten Zeitraum ("unregelmäßig") verteilt werden. Das ist in nahezu allen Tarifbereichen der Fall.
  • Es gibt unterschiedliche Ausgleichszeiträume, in denen die vereinbarte Arbeitszeit erreicht werden muss.
  • Die Arbeitszeit kann (zum Teil ohne Lohnausgleich) gesenkt werden, um Arbeitsplätze zu sichern.
  • Die Regelarbeitszeit kann mit Mehrarbeit überschritten werden.
  • Für bestimmte Beschäftigtengruppen kann die Arbeitszeit dauerhaft verlängert werden.

Eine solche Bestimmung hat die IG Metall für die Metall- und Elektroindustrie 2004 geschlossen ("Pforzheimer Abschluss"). Demnach kann - etwa in Forschung und Entwicklung - die Arbeitszeit für bis zu 50 Prozent der Belegschaft auf 40 Wochenstunden heraufgesetzt werden. Die Zeit wird bezahlt, die sonst fälligen Zuschläge jedoch nicht.

Quer durch alle Branchen macht jeder vierte tarifgebundene Betrieb von tariflichen Möglichkeiten Gebrauch, Arbeitszeit zu verlängern. Wenn Aufträge und Umsatz schlecht sind, reagieren die Betriebe ebenso mit einer Verlängerung wie auch mit befristeter Verkürzung der Arbeitszeit. Das zeigen die frisch veröffentlichten Ergebnisse der Betriebsrätebefragung des WSI.

Wenn Aufträge und Umsatz schlecht sind, reagieren die Betriebe ebenso mit einer Verlängerung wie auch mit befristeter Verkürzung der Arbeitszeit. Das zeigen die frisch veröffentlichten Ergebnisse der Betriebsrätebefragung des WSI.Variable Arbeitszeiten praktiziert die Hälfte der Betriebe, und zwar unabhängig von der wirtschaftlichen Situation. Zum Teil lassen sich die Grundmodelle miteinander kombinieren. Welche Beweglichkeit dabei entsteht, zeigt das Beispiel Metallindustrie:

  • Regelmäßige Wochenarbeitszeit: 35 Stunden
  • Dauerhafte Verlängerung für maximal die Hälfte der Beschäftigten:40 Stunden
  • Befristete Verkürzung bis auf: 30 Stunden
  • Ungleichmäßige Verteilung über: 12 Monate
  • Zulässige Mehrarbeit (nur Nordwürttemberg-Nordbaden): 10 Wochenstunden oder 20 im Monat
  • Maximale zulässige Wochenarbeitszeit: 50 Stunden.

Arbeitszeitkonten sind mittlerweile fast die Regel geworden. Drei Viertel aller Betriebe nutzen sie, um - meist kurzfristig - Gleitzeit und Überstunden abzurechnen, wie die Betriebsrätebefragung ergab.

Angesichts der Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten formulieren die Betriebsräte in der Befragung des WSI einen klaren Auftrag an die Tarifparteien: Bei der Arbeitszeitflexibilisierung und "Verteidigung der tariflichen Arbeitszeit" soll die Tarifpolitik handeln. "Offensichtlich erhoffen sie sich von betriebsübergreifenden Regelungen handfeste Entlastung", meint der WSI-Tarifexperte Reinhard Bispinck.

Mit der hochgradigen Flexibilisierung der Arbeitszeit wächst die Arbeitsbelastung der Betriebsräte deutlich, viele neue Probleme sind aufgetaucht: Zeitguthaben auf Arbeitszeitkonten verfallen inzwischen in jedem dritten Betrieb, weil die Beschäftigten nicht dazu kommen, sie abzubauen. Nicht planbare Arbeitszeiten nerven und belasten Beschäftigte sogar mehr als längere Arbeitszeiten, wie sich in einer repräsentativen Beschäftigtenbefragung herausstellte. Von der einst versprochenen "Zeitsouveränität" sei im Arbeitsalltag kaum etwas zu spüren.

Durchschnittlich arbeitet heute ein Vollzeitbeschäftigter in Deutschland deutlich länger, als im öffentlichen Streit um die Arbeitszeit herüberkommt. Das DIW errechnete bereits für 2003 die "42,4-Stunden-Woche" als tatsächlich geleistete Arbeit - vier Stunden mehr, als das Institut für die in Tarif- und sonstigen Arbeitsverträgen vereinbarte Zeit ansetzte. Eurostat siedelt Deutschland in seinem statistischen Vergleich der effektiven Arbeitszeit in der alten EU im Mittelfeld an, seine Datenbasis ist eine andere als die des DIW. Die durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit lag Ende 2004 in Westdeutschland bei 37,4 Stunden, im Osten bei 39 Stunden. Auch sie steigt, eben erst wieder durch die einstündige Verlängerung auf 40 Stunden in der Bauwirtschaft.

Realitätsfern wirkt da die Forderung nach gesetzlichen Öffnungsklauseln - wie sie die jetzigen Oppositionsparteien explizit fordern, um Tarifverträge auszuhebeln und den Betrieben flexiblere Arbeitszeiten zu ermöglichen. Bereits im April 2000 konstatierte Dieter Hundt, Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände: "Wir sind heute bei der Arbeitszeit so flexibel, dass jede Behauptung, die Tarifverträge behinderten passgenaue betriebliche Lösungen, entweder bösartig ist oder in Unkenntnis der Tarifverträge erfolgt."

Reinhard Bispinck und WSI-Tarifarchiv: Immer flexibler - und immer länger ?
Tarifliche Regelungen zur Arbeitszeit und ihrer Gestaltung. Eine Analyse von 24 Tarifbereichen, April 2005
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WSI-Mitteilungen 6/2005, Schwerpunktheft "Zur Lage der Interessenvertretung: Die aktuelle WSI-Befragung von Betriebs- und Personalräten"
zum Heft

Frank Bauer, Eva Munz: Arbeitszeiten in Deutschland: 40plus und hochflexibel;
in: WSI-Mitteilungen 01/2005
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