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Magazin Mitbestimmung

: Hart, aber ehrlich

Ausgabe 10/2008

SIEMENS AG Lange ging es Siemens gut, das Unternehmen spielte jedoch gegenüber seinen Beschäftigten falsch. Inzwischen sind die Zeiten rauer geworden, aber diese Konfliktpartnerschaft ist auf jeden Fall aufrichtiger.

Von Uwe Schmidt, Redakteur in der Hans-Böckler-Stiftung/Foto: Werner Bachmeier

Einen solchen Ansturm zu einer Betriebsversammlung hat der Weltkonzern selten erlebt. Gut 2000 Beschäftigte drängeln sich auf den beiden Etagen der Kantine am Röthelheimpark, und weil drinnen einfach kein Platz mehr ist, stehen vor den Türen noch mal so viele Menschen. Der Siemens-Vorstand hat am Vortag angekündigt, dass von den etwa 8000 Mitarbeitern von Siemens Healthcare in Erlangen 500 gehen sollen - trotz guter Rendite, voller Auftragbücher und hoher Arbeitsbelastung. Kaum ein Beschäftigter versteht die Entscheidung, der Ärger treibt sie aus den Büros und Werkhallen. In der Betriebsversammlung schimpfen nicht nur jene, die Angst um den eigenen Job haben. Auch viele Führungskräfte fragen: "Wie sollen wir denn die Arbeit schaffen, wenn wir bald noch weniger Leute haben?" Der Vorsitzende des Betriebsrats, Werner Mönius, kann viele nicht zu Wort kommen lassen und muss die Versammlung schließlich vertagen. "Noch eine Woche später ist mein Postfach mit Mails übergelaufen, in denen die Kollegen ihren Unmut ausdrückten", sagt er.

Immer neue Umstrukturierungen, Schmiergelder im In- und Ausland - Siemens steht seit über zwei Jahren ständig in der Öffentlichkeit. Dadurch vergisst man leicht, dass offen ausgetragene Konflikte zwischen den Sozialparteien bei Siemens eine eher neue Erscheinung sind. "Das Leitbild war über Jahrzehnte das einer Familie", erklärt Wolfgang Niclas, erster Bevollmächtigter der IG Metall in Erlangen. "Und die Siemens-Familie war nicht nur eine Phrase, das wurde tatsächlich gelebt." Wer eine Stelle bei Siemens hatte, verdiente gut und blieb in der Regel bis zur Rente. Siemens galt als beliebtester Arbeitgeber des Landes. Doch wie jede Familie hatte auch diese ihre Macken, eine war der Grundsatz: "Wir regeln unsere Dinge selbst."

Gewerkschaften waren in der Familie nicht besonders geschätzt. Der langjährige Vorstandsvorsitzende Heinrich von Pierer nahm den Namen "IG Metall" nicht mal in den Mund, er sprach stets von der "Gewerkschaft". Nicht nur das ist bei seinen Nachfolgern deutlich anders. Auch die aus schwarzen Kassen finanzierte Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Beschäftigter (AUB) hat in allen Siemens-Betriebsräten die Mehrheit eingebüßt. Niclas, seit 1986 in der Siemens-Stadt Erlangen, seit 1996 erster Bevollmächtiger der IG Metall, sagt darum: "Die Interessenvertretung ist über die Jahre härter geworden, aber zugleich auch klarer, realistischer und Erfolg versprechender."

Erlangen ist die heimliche Hauptstadt des Siemens-Reiches. Es ist der weltgrößte Standort des Unternehmens, und in der
100 000-Einwohner-Stadt in Franken befinden sich auch die operativen Leitungen aller Konzernsektoren, von Industry, Energy und Healthcare. An diesem Ort ist der Wandel gut zu beobachten, in Erlangen löst sich unter dem Druck von Globalisierung und radikaler Kapitalmarkt-Orientierung die lebenslange Bindung und die lebenslange Verpflichtung des Unternehmens auf - und was bleibt, ist im besten Fall eine Konfliktpartnerschaft. Zum anderen zeigt sich aber auch in dieser Stadt, dass die Entwicklung nicht unbedingt eine Verschlechterung ist, denn die alte Sozialpartnerschaft bei Siemens war keine ehrliche, sondern eine teilweise gekaufte Beziehung. Der Konzern spielte jahrzehntelange falsch gegenüber seinen Mitarbeitern.

Schon in den 70er Jahren hatte die Unternehmensführung in Erlangen damit begonnen, eine ihr genehme Arbeitnehmervertretung aufzubauen. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Siemens über die Jahre 30 Millionen Euro an die AUB gezahlt hat. Es könnte gar die doppelte Summe gewesen sein, vermutet IG Metaller Niclas. Die AUBler profitierten nicht nur von Spenden. "Den Leuten wurde signalisiert: ‚Wenn du für die AUB in den Betriebsrat gehst, soll das nicht zu deinem Nachteil sein.‘ Und nach ihrer Betriebsratzeit sind dann auch sehr viele befördert worden", erzählt Niclas. Wer dagegen über die Liste der IG Metall antrat, hatte oft seine Karriere in eine Sackgasse manövriert. Vor einigen Jahren gelang es der gelben Gewerkschaft, einen Metall-Betriebsrat zum Wechsel zur AUB zu überreden. Dadurch veränderten sich die Mehrheitsverhältnisse im Betriebsrat des Verwaltungssitzes, die Betriebspolitik wurde zahmer. Der Kollege hatte eine Entgelterhöhung in Aussicht gestellt bekommen, vermutete Niclas schon damals. "Aber beweisen Sie das mal!"

Das System Siemens-AUB basierte auf gezielter Missachtung des Betriebsverfassungsgesetzes, aber es konnte auch deshalb so gut funktionieren, weil es die Industriegewerkschaft grundsätzlich schwer hat in einem Angestellten-Unternehmen. Niclas und Andrea Fehrmann, seine IG Metall-Mitstreiterin, waren lange Außenseiter in Erlangen, und sie wissen, dass ihre Position weiter schwierig ist. Darum gehen sie sehr strategisch und überlegt vor: "Wir müssen gute Interessenpolitik machen, nicht nur für die Facharbeiter, auch für die anderen Beschäftigtengruppen", sagen sie. "Wo wir nicht aufpassen und einen Bewusstseinswandel mit der Brechstange erzwingen wollen, da haben die Unabhängigen ihre Chancen." Die Gewerkschaft will sich um alle Beschäftigten kümmern, um die vielen ungelernten Kräfte wie um die Ingenieure - und der Bedarf danach ist spürbar gewachsen. Weil der Anteil der Facharbeiter an der Belegschaft sinkt. Und weil der Druck auf die Beschäftigten steigt.

Der neue Vorstandsvorsitzende Peter Löscher trat im Winter mit der Aussage an, dass Siemens in Vertrieb, Marketing und Verwaltung zu teuer sei. Was darauf folgen würde, war dem erfahrenen Arbeitnehmervertreter Werner Mönius sofort klar. Dass der Schnitt jedoch so hart sein würde und vor allem seine gut verdienende Medizinsparte Healthcare trifft, hatte er nicht erwartet. Mönius sitzt in seinem Erlanger Büro, er trägt an diesem Nachmittag einen dunkelblauen Anzug mit hellblauem Hemd, und doch könnte seine Distanz zum Management im Moment kaum größer sein. Noch Wochen später schüttelt er den Kopf darüber, wie dürftig Löschers Begründung ausfiel. "Wir wissen doch alle, was von Benchmarks zu halten ist", sagt er. Beim Abgleich von Siemens-Kennzahlen mit denen des Hauptkonkurrenten General Electric zogen einige renditeschwache Siemens-Betriebe den Durchschnitt herunter. Dadurch stand das eigentlich sehr profitable Werk in Erlangen mit einem Mal schlecht da, und darum soll bald eine geschrumpfte Belegschaft die Kernspintomografen und Ultraschallgeräte fertigen. Auch über Löschers Stil wundert sich Mönius: "Die Führungskräfte mussten sich als ‚Lehmschicht‘ beschimpfen lassen, dabei sind das doch genau die Leute, die den Umbau bewerkstelligen sollen."

Werner Mönius kennt das Gefüge des Gesamtunternehmens wie wenige andere. Er hat 1971 eine Lehre als Feingeräteelektroniker bei Siemens begonnen, zum Betriebsrat wurde er 1984, er ist im Gesamtbetriebsrat und im Aufsichtsrat vertreten und Sprecher des Europäischen Betriebsrates. Der unmittelbare Umgang der Arbeitnehmervertreter mit der Kapitalseite ist nicht unfairer geworden, sagt er. Im Gegenteil, die Zusammenarbeit mit dem neuen Aufsichtsratsvorsitzenden Gerhard Cromme sei sehr gut. Nur im Alltag habe das Diktat der Zahlen zugenommen und schwebe über jeder Entscheidung. Die Betriebsleiter stünden unter enormem Druck. Sie haben strikte Vorgaben umzusetzen und kaum Spielräume, das mache das Miteinander am Standort so schwierig. Die Führungskräfte leiden ebenso wie die übrigen Beschäftigten unter dem Druck der Zentrale und unter den übertriebenen Renditeerwartungen. "Dass wir uns am Weltmarkt behaupten müssen, das ist richtig", sagt Mönius. Aber die Gier, die vom Finanzmarkt ins Unternehmen getragen wird, stört ihn. "Healthcare soll jährlich eine Rendite von 14 bis 17 Prozent bringen, und damit bin ich nicht einverstanden. Seit einem Jahrzehnt haben wir eine Produktivitätssteigerung von jährlich neun, zehn Prozent - das können wir nicht ewig so fortführen. Wir können unsere Margen nicht beliebig in die Höhe treiben."

Der Druck nimmt seit den frühen 90er Jahren stetig zu, das hat auch Helmut Saffer beobachtet. Saffer ist Betriebsrat in einer Fabrik am anderen Ende von Erlangen, die im Siemens-Jargon "das Werk" genannt wird, hier entstehen Steuerungen für Motoren. Auch Saffer vertritt wie Mönius seit den 80er Jahren seine Kollegen im Betrieb, und auch er spricht mit ruhigen Worten von einem Kulturwandel bei Siemens. Ein Wandel, der ihm Sorgen macht. Richtig gespürt haben sie im Werk den Druck des Kapitalmarktes seit den Umstrukturierungen 1998 und 1999, sagt Saffer: "Von da an unterstützen sich die Geschäftsbereiche einander nicht mehr, und seitdem kann auch keine Rede mehr von der Siemens-Familie sein." Die Umstrukturierung ging einher mit dem Gang an die US-Börse - einem Schritt, der den Konzern nun sehr teuer zu stehen kommen dürfte, denn ausgerechnet die amerikanische Börsenaufsicht wird voraussichtlich die Schmiergelder des Konzerns mit einer Milliardenstrafe ahnden.

Saffers Motorenkomponenten-Werk kommt bei den aktuellen Kürzungsplänen noch relativ gut weg, doch auch er spürt die Verschlechterungen. Die Fabrik ist ein Schmuckstück des Konzerns, in den vergangenen vier Jahren wurde sie zweimal von Hochschulen und Unternehmensberatungen als beste Fabrik des Landes ausgezeichnet. Aber wenn man Saffer zuhört, bekommt man Zweifel, ob in Zukunft solche Auszeichnungen weiter möglich sind. Das Unternehmen sei durch die niedrigen Einstiegsgehälter für junge Ingenieure unattraktiv geworden, beobachtet der Betriebsrat. Weil Ingenieurs-Stellen unbesetzt bleiben, stocken Arbeitsprozesse, Produkte kommen zu spät auf den Markt. "Und das merken wir natürlich auch: Bei Ankündigungen von Personalabbau gehen natürlich zuerst die Guten, diejenigen, die rasch eine neue Stelle finden", sagt Saffer. Da gehe viel Wissen verloren.

Die Guten, Jungen und Marktfähigen gehen, die anderen bleiben und sorgen sich um ihre Zukunft und die des Standortes Erlangen. Angst sei das dominierende Gefühl, beobachtet der Erlanger IG Metaller Wolfgang Niclas, denn die Siemensianer kennen kaum das Gefühl, sich wehren zu können. "In einer kampferprobten Belegschaft sagen schon mal 70, 80 Prozent der Leute: ‚Da wollen wir doch mal sehen, ob die das so durchbekommen.‘" Bei Siemens aber hat man wenig Erfahrung mit Konflikten. Die Betriebsversammlung in der Healthcare-Kantine war ein Anfang, danach aber ebbte die Lautstärke ab, die Gespräche verkrochen sich in die Teeküchen. Werner Mönius und die anderen Betriebsräte wollen die Resignation stoppen und der Belegschaft das Gefühl eigener Macht geben. Doch der Betriebsrat darf nur vier Versammlungen im Jahr abhalten und keine Kundgebungen organisieren. "Dafür brauchen wir die IG Metall", sagt Mönius.

Eine große Arbeitnehmer-Kundgebung in Erlangen auf die Beine zu stellen ist nicht leicht. "Wir haben keine Organisationsgrade, dass die Schwarte kracht", räumt Niclas ein. Erlangen ist eine kleine Stadt, das Siemensklima der subtilen Einschüchterung wirkt weiter, jahrelang vermittelten die Führungskräfte und Angepassten ihren Kollegen die Haltung: "Wer zu Kundgebungen geht, der hat es wohl nötig. Wir haben anderes zu tun." Gegen diese Stimmung kämpfen die Betriebsräte und Gewerkschaftler nun, sie trommeln in den Werken für die Kundgebung. Mindestens 1000 Teilnehmer müssen es sein, sonst lohnt es sich nicht, sondern schadet womöglich sogar. Zwischenzeitlich bekommen sie Sorge, es könnte ein halbleerer Platz mit nur 500 Menschen werden, die sich allein gelassen und entmutigt fühlen. Doch alle Signale der Vertrauensleute deuten schließlich daraufhin, dass es für eine Kundgebung am 27. Juli deutlich besser aussieht, dass sicher 1500 Siemens-Beschäftigte zusammenkommen. Vielleicht sogar über 2000.

Letztlich fällt die Kundgebung trotzdem aus. Am Vortag geht Löscher auf Forderungen des Konzernbetriebsrates und der IG Metall ein: Es wird Personalabbau geben, aber keine betriebsbedingten Kündigungen, und der konzerneigene Montage-Service SIMS wird nicht verkauft. Gut 80 Prozent der Arbeitnehmer-Forderungen finden Eingang in ein Eckpunktepapier. Direkt nach einer solchen Nachricht lässt sich schlecht demonstrieren. "Das ist natürlich auch schade, denn es wäre ein wichtiges Zeichen für den Kulturwandel im Unternehmen gewesen", sagt Andrea Fehrmann vom Siemens-Team der IG Metall. Die Kundgebung hätte die Erlanger Siemens-Beschäftigten zusammenschweißen können. Doch dass die Kundgebung nicht stattfinden muss, ist eben auch ein Erfolg der Arbeitnehmervertreter. Werner Mönius ist sich sicher, ohne die angedrohte Kundgebung wäre es nicht zu diesem Zugeständnis des Vorstands gekommen. Die Konfliktbereitschaft hat sich ausgezahlt.

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