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Magazin Mitbestimmung

: Showdown im Tarifrecht

Ausgabe 09/2005

Was CDU/CSU und FDP als harmlose Stärkung der Bündnisse für Arbeit verkaufen, ist eine massive Änderung im Tarifrecht. Der Systemwechsel brigt im Detail erhebliche Risiken - er wäre eine Zerreißprobe für die Arbeitgeber und selbst für die CDU.

Von Britta Rehder
Dr. Rehder ist Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. rehder@mpi-fg-koeln.mpg.de

Im Wahlkampf spielt das Tarifrecht nur eine untergeordnete Rolle. Dabei steht gerade hier ein Systemwechsel zur Wahl, der die Landschaft der Arbeitsbeziehungen nachhaltig verändern würde. Oft wird darüber nur oberflächlich berichtet. So manchen mag abschrecken, dass hier sehr komplexe Rechtsfragen berührt werden, deren Details höchstens eine Handvoll Juristen wirklich verstehen.

Wieder andere vertrösten sich damit, dass die Reformvorschläge der Parteien sämtlich unter dem Vorbehalt der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht stehen, und niemand kann heute vorhersagen, welche Gesetzesänderungen den Weg durch die Rechtsinstanzen überleben würden - auch wenn es viele Juristen gibt, die behaupten, es heute schon ganz genau zu wissen. Tatsächlich sind viele praktische und juristische Details ungelöst. Wer heute Licht ins Dickicht schlagen will, dem bleibt nur, die politischen Positionen zu vergleichen, ihre Chancen auf Realisation abzuschätzen und mögliche Konsequenzen aufzuzeigen.

Das wollen die Parteien

Mit Ausnahme der Linkspartei sind alle Parteien sich darin einig, dass betriebliche Bündnisse für Arbeit gefördert werden sollen - sie sprechen sich also für eine Dezentralisierung des Tarifsystems aus - allerdings in sehr unterschiedlichem Maße. Insbesondere ist umstritten, welche Rolle die Gewerkschaften und die Betriebsräte spielen sollen, wenn tarifliche Standards unterschritten werden. Für die rot-grüne Bundesregierung ist die Reform des Tarifrechts kein Thema - sie setzt bei der Dezentralisierung auf den seit 15 Jahren praktizierten Weg durch tarifvertragliche Öffnungsklauseln: Tarifgebundene Betriebe können dann von überbetrieblichen Regelungen abweichen, wenn die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zustimmen.

Die Gewerkschaften haben damit ein Vetorecht. Ohne ihre Zustimmung sind legale Abweichungen vom Tarifvertrag nicht möglich. Vielen Unternehmen reicht das Instrument nicht aus. Sie wollen nicht auf die Zustimmung der Gewerkschaft angewiesen sein. Aus diesem Grund haben die CDU/CSU und die FDP die Einführung gesetzlicher Öffnungsklauseln auf ihre Agenda gesetzt. Sie wollen den Einfluss der Gewerkschaften schmälern, allerdings in unterschiedlicher Intensität.

Die FDP möchte explizit den Wettbewerb zwischen überbetrieblichen und betrieblichen Regelungen etablieren. Wenn 75 Prozent einer Belegschaft oder der Betriebsrat dem zustimmen, sollen lokale Tarifabweichungen möglich sein, und zwar ohne dass die Tarifparteien dies verhindern können.

Die CDU/CSU tendiert in eine ähnliche Richtung. Sie möchte lokale Tarifabweichungen ermöglichen, wenn sowohl zwei Drittel der Belegschaft als auch zwei Drittel der Mitglieder des Betriebsrates zustimmen. Dabei müssen die abweichenden Vereinbarungen den Tarifparteien angezeigt werden. Widersprechen diese nicht innerhalb von vier Wochen, tritt die Vereinbarung in Kraft - dies zumindest sieht der CDU/CSU-Gesetzentwurf von 2003 vor, auch wenn sich die CDU jüngst in Richtung FDP bewegt hat. Worin liegt nun der Systemwechsel?

Erstens: Der Regulierungsvorrang der Tarifparteien wird relativiert, bei der FDP wird er sogar aufgehoben. Im CDU/CSU-Modell verfügen die Gewerkschaften zwar formal über ein Vetorecht, die Erfahrungen zeigen jedoch, dass es einer Gewerkschaft schwer fällt, eine Vereinbarung noch zu verhindern, wenn sich die Betriebsparteien und die Belegschaft geeinigt haben und die Gewerkschaft nicht am Verhandlungsprozess beteiligt war.

Zweitens: Es wird ein basisdemokratisches Element in die Arbeitsbeziehungen eingefügt. Die Beschäftigten sollen über Abweichungen vom Tarifvertrag abstimmen können. Das ist neu, weil die betriebliche Mitbestimmung den Prinzipien der repräsentativen Demokratie unterliegt.

Drittens: Ein normatives Fundament des deutschen Tarifrechtes wird aufgegeben. Mit dem basisdemokratischen Element wird unterstellt, dass die befragten Arbeitnehmer frei entscheiden können. Das gegenwärtige kollektive Arbeitsrecht basiert aber gerade auf der Annahme, dass beim Arbeitnehmer genau diese Freiheit nicht vorliegt. Er hat im Regelfall nicht die Wahl, eine Tarifabweichung abzulehnen, wenn alternativ sein Arbeitsplatz auf dem Spiel steht.

Aus diesem Grund sind die Koalitionsfreiheit und der überbetriebliche Regulierungsvorrang der Tarifparteien gesetzlich geschützt. Die Annahme dabei ist, dass die Arbeitnehmer nur im Kollektiv, also im Rahmen von Gewerkschaften, ein Machtgegengewicht zur Arbeitgeberseite bilden können, wodurch die Voraussetzung zum freien Vertragsschluss hergestellt wird. Diese Position wird aufgegeben - bei der FDP mehr, bei der CDU/CSU weniger.

Wie die Änderungen im Tarifrecht genau ausgestaltet werden sollen, ist weitgehend unklar. In der Vergangenheit hat es Gesetzentwürfe zum Arbeitsrecht gegeben. Ob sie die Grundlage für zukünftige Koalitionsverhandlungen bilden werden, muss man abwarten. Denn die Wahlprogramme der Parteien enthalten nur oberflächliche Informationen, um sich Verhandlungsspielräume zu erhalten.

Tarifreform mit Hindernissen

Welche Pläne umgesetzt werden, hängt von mindestens drei Faktoren ab - zunächst natürlich vom Wahlergebnis. Sollte die Linkspartei so stark werden, dass die CDU/CSU und die FDP keine stabile Mehrheit erringen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit einer großen Koalition. Das dürfte dann erst einmal das Ende jeder umfassenden Tarifreform bedeuten. Denn sie ist zwischen den beiden großen Volksparteien heftig umstritten. Andererseits müssen sowohl die SPD als auch die Unionsparteien ein Interesse daran haben, die Linkspartei auszutrocknen, um nicht ständig in eine große Koalition gezwungen zu werden. Dieses Ziel indessen würden sie mit einer übertriebenen Liberalisierung des Arbeitsrechtes kaum erreichen.

Der zweite Faktor ist die Entwicklung der CDU selbst. Sie verfügte von Konrad Adenauer bis zu Helmut Kohl über eine dominante Stellung im Parteiensystem, weil sie als Volkspartei klassenübergreifend Mitglieder und Wähler rekrutieren konnte. Die Unionsparteien sind bürgerlich, dennoch haben sie immer ordentliche Beziehungen zu den Gewerkschaften gepflegt. Es gab auch immer eine große Arbeitnehmerfraktion innerhalb der Parteien und in der Wählerschaft. Doch unter der Führung von Angela Merkel hat sich die CDU programmatisch liberalisiert. Die Arbeitnehmergruppierungen haben innerparteilich deutlich an Einfluss verloren. Dieser Kurswechsel verlief in der Opposition relativ reibungslos. Der Praxistest in der Regierungsverantwortung und auch die Auseinandersetzung mit der CSU stehen der Partei erst noch bevor. Für viele Mitglieder der christlichen Parteien ist eine Liberalisierung des Arbeitsrechts alles andere als selbstverständlich.

Der dritte Faktor sind die Arbeitgeber. Man könnte meinen, die Reformrezepte des bürgerlichen Lagers fänden vorbehaltlos die Zustimmung der Arbeitgeberverbände, da sie sich mit der Einführung von Verbänden ohne Tarifbindung ohnehin schleichend aus der Tarifpolitik verabschieden und ihre Organisationen durch andere Dienstleistungen sichern wollen. Ihre Zustimmung ist jedoch alles andere als sicher. Für sie lautet die zentrale Frage: Wie ist es möglich, den Einfluss der Gewerkschaften zu schmälern, ohne gleichzeitig die Macht der Betriebsräte zu vergrößern? Besonders für Großunternehmen stellt sich diese Frage. Hier sind die Betriebsräte ohnehin sehr mächtig - durch eine weitere Machtverlagerung könnten faktisch Betriebsgewerkschaften entstehen. Verbände wie Gesamtmetall wollen ein solches Szenario auf jeden Fall verhindern.

Dazu kommt: Wenn es Betriebsräten obliegt, Tarifabweichungen auszuhandeln, werden den Beschäftigten auch in kleineren, bisher betriebsratslosen Firmen harte Anreize gesetzt, Mitbestimmungsgremien zu gründen. Ob die Arbeitgeber einer Reform positiv gegenüberstehen, werden sie deshalb an der Frage entscheiden, ob die Betriebsräte bei der Dezentralisierung ein offizielles Mitbestimmungsrecht bekommen werden oder nicht. Gesamtmetall favorisiert eine Gesetzesänderung, die keinen wirklichen Systemwechsel bedeutet: Eigentlich soll sich nichts ändern; nur in kleineren Unternehmen mit lockerer oder gar keiner gewerkschaftlichen Anbindung und bei sehr widerspenstigen Gewerkschaften will der Verband deren Zustimmung durch das vermeintlich leichter zu erreichende Votum der Beschäftigten ersetzen.

Nicht ausgeschlossen ist, dass ein Betriebsrat durch Abstimmungen unter den Beschäftigten sogar gestärkt würde. Wenn er eine aufgebrachte Menge anführt, werden die Abstimmungen nicht zu einer Ressource der Arbeitgeber, sondern zu einem Faustpfand der Interessenvertretung. Im Arbeitgeberlager steigt die Nervosität. Denn weder aus dem Programm der FDP noch aus dem Vorschlag der CDU/CSU geht eindeutig hervor, welche Rolle die Betriebsräte zukünftig spielen sollen. In den letzten Wochen haben die kritischen Töne zwischen den Unionsparteien und Gesamtmetall zugenommen. Verbandsvertreter meinten, aus dem Wahlprogramm der CDU herauslesen zu können, dass die Betriebsräte gestärkt werden sollen - und protestierten. An solchen Dissonanzen wird deutlich, wie schwer selbst im Arbeitgeberlager eine Mehrheit für die große Tarifreform zu haben ist.

Konfliktträchtige Entwicklung

Eine Antwort drauf, welche Konsequenzen im Einzelnen eine Tarifreform hätte, ist heute noch spekulativ. Mindestens drei Problemkreise lassen sich aber absehen: Erstens würde eine Tarifreform über einen Zeitraum von mehreren Jahren die Rechtsunsicherheit vergrößern. Die Gewerkschaften haben bereits angekündigt, ein eventuelles Gesetz vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen, weil sie die im Grundgesetz verankerte Koalitionsfreiheit bedroht sehen. Dabei wird es auch um die interessante Frage gehen, ob eine gewerkschaftlich nicht organisierte Belegschaftsmehrheit über den Tarifvertrag einer gewerkschaftlich organisierten Minderheit abstimmen darf. Die Differenzierung zwischen gewerkschaftlich organisierten und nicht-organisierten Beschäftigten innerhalb eines Betriebs ist bei den Arbeitgebern ein ausgesprochen unbeliebtes Thema, wie die aktuelle Debatte über Boni für Gewerkschaftsmitglieder zeigt.

Wenn das Bundesverfassungsgericht eine Reform billigt, hört die Rechtsunsicherheit deswegen noch lange nicht auf, weil es dann die Aufgabe der Arbeitsgerichtsbarkeit und des Gesetzgebers sein wird, die konkreten Verfahrensfragen zu klären: Wie sollen die Abstimmungen ablaufen? Gibt es eine offene oder eine geheime Wahl? Gibt es die Möglichkeit der Briefwahl? Wer ist stimmberechtigt? Welche Fristen müssen eingehalten werden? Wie lang dauert die Phase der Meinungsbildung? Muss es verbindliche Betriebsversammlungen geben? Kann die Unternehmensleitung verpflichtet werden, sich dort zu erklären?

Kann es der zuständigen Gewerkschaft verwehrt werden, ihren Tarifvertrag dort zu verteidigen? Wer trägt die Kosten des Wahlkampfes? Welche Mittel dürfen eingesetzt werden? Müssen sie aus dem Etat des Betriebsrates bestritten werden, oder müssen Sondermittel bereitgestellt werden? Wer trägt die Kosten, wenn der Betriebsrat gar nicht am Verhandlungsprozess beteiligt wird? Wie setzt sich der Wahlausschuss zusammen etc.? Jeder, der schon einmal die Organisation einer Betriebsratswahl beobachtet hat, kann sich vorstellen, was da auf alle Beteiligten zukommen wird.

Als eine zweite Konsequenz dürften Konflikte in den Unternehmen häufiger werden. Ein Hauptvorteil des Flächentarifs liegt ja darin, dass Arbeitskonflikte außerhalb der Betriebe ausgetragen werden. Mit einer weitgehenden Entmachtung der Tarifparteien wird dieser Vorteil aufgegeben. In einer Phase der Rechtsunsicherheit werden zudem alle Beteiligten darum bemüht sein, ihre Verfahrensvorstellungen faktisch durchzusetzen. Zusätzlich wird das Konfliktpotenzial dadurch erhöht, dass Fraktionen diese innerhalb der Belegschaft offen legen. Selbst dann, wenn ein Betrieb nur 30 Beschäftigte hat, ist nicht anzunehmen, dass alle immer die gleiche Position teilen. Von besonderer Bedeutung dürfte dieses Problem in Großunternehmen werden, in denen sich Belegschaften und Betriebsräte nicht selten aus verschiedenen und teilweise konkurrierenden Gruppierungen zusammensetzen, die dann gegeneinander in den Abstimmungswahlkampf ziehen.

Nicht auszuschließen ist, dass betriebsfremde Gruppen versuchen werden, Zugang zum Betrieb zu erlangen, um das Abstimmungsergebnis zu beeinflussen. Beim Bochumer Opel-Streik im letzten Jahr war zu beobachten, wie sich Bürger, Sympathisanten verschiedener Gewerkschaften, Kirchenvertreter, Globalisierungsgegner, Montagsdemonstranten und Kommunisten vor dem Werksgelände postierten, um der einen oder anderen Fraktion Solidarität zu zollen.

Voten mit unsicherem Ausgang

Drittens muss man sich auch grundsätzlich fragen, ob Abstimmungen im Betrieb Bündnisse für Arbeit überhaupt fördern. Wer kann den Ausgang solcher Voten sicher prognostizieren? In der EU lässt man in diesen Tagen über das Projekt einer europäischen Verfassung abstimmen und zahlt reichlich Lehrgeld. Das Risiko für die Arbeitgeber ist so groß, dass auch Beschäftigte den geforderten Konzessionen einmal nicht zustimmen. Was passiert dann? Will eine Unternehmensleitung Investitionsentscheidungen ernsthaft an das Votum einer Belegschaft koppeln?

Zudem ist es nicht sicher, dass ein Betriebsrat durch die Abstimmung der Beschäftigten geschwächt wird. Wenn er eine aufgebrachte Menge anführt, werden die Abstimmungen nicht zu einer Ressource der Arbeitgeber, sondern zu einem Faustpfand der Interessenvertretung. Es ist offen, ob und wie diese Fragen von den Befürwortern einer großen Tarifreform heute beantwortet werden können. Es ist nicht einmal sicher, dass sie sich diese Fragen bisher auch nur gestellt haben.

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