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Magazin Mitbestimmung

: Betriebsräte als neue Tarifakteure?

Ausgabe 05/2009

TARIFPOLITIK Etwa jeder zehnte Betrieb der Chemie- und der Metallbranche ist in den vergangenen Jahren vom Tarifvertrag abgewichen. Das hat Auswirkungen auf die Mitbestimmung der Betriebsräte. Ergebnisse eines Böckler-Forschungsprojekts.

Von THOMAS HAIPETER, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen

Tarifabweichungen sind inzwischen in vielen Branchen der deutschen Wirtschaft gängige Praxis. Die damit verbundene Unterschreitung von Tarifstandards für Unternehmen, einzelne Betriebe oder bestimmte Beschäftigtengruppen bedeutet eine große Herausforderung für das Bestreben der Gewerkschaften, die Prägekraft der Tarifvertragsnormen zu erhalten. Doch Tarifabweichungen ziehen auch neuartige Herausforderungen für die Mitbestimmung der Betriebsräte nach sich. Sie sind die ersten Adressaten der Unternehmensleitungen, sie müssen die Forderungen mit ihrer Gewerkschaft koordinieren, sie nehmen an vorderer Stelle an den Verhandlungen zu Tarifabweichungen teil, sie müssen die Unterstützung der Beschäftigten für ihren Kurs gewinnen, und sie müssen die Umsetzung von Tarifabweichungen im Betrieb kontrollieren.

ARBEITSBEZIEHUNGEN GEFESTIGT_ Die Initiative zur Aushandlung von Tarifabweichungen ging immer von den Unternehmensleitungen aus. Dadurch gerieten die Betriebsräte zunächst in eine Position der Defensive. Sie mussten ausloten, ob sie einer Unterschreitung von Tarifnormen zustimmen können oder nicht, wie weit sie dabei zu gehen bereit sind und was sie als Gegenleistung verlangen sollen. In den untersuchten Fällen haben die Betriebsräte von Beginn an ihre gewerkschaftlichen Betreuer hinzugezogen. Ausschlaggebend für eine Zustimmung zu Verhandlungen war durchgängig die Sicherung der Beschäftigung, die von den Unternehmensleitungen in Drohszenarien infrage gestellt worden war. "Wir wollten Personal schützen", formuliert der Betriebsratsvorsitzende eines Unternehmens der chemischen Industrie, "und dafür wollte der Arbeitgeber eine Gegenleistung."

Die Verhandlungen selber waren häufig langwierig und konflikt-reich. Überall wurde zäh um Konzessionen bei Löhnen und Arbeitszeiten und um die Gegenleistungen der Unternehmen bei Beschäftigungszusagen oder Investitionen gerungen. Nachhaltigere Konflikte und Belastungen der betrieblichen Arbeitsbeziehungen ergaben sich daraus aber nicht. In den meisten Fällen wurden mit der Tarifabweichung vielmehr Standortkoalitionen fortgeführt oder begründet: Betriebsrat und Management bekannten sich ausdrücklich zu einer gemeinsamen Schnittmenge von Interessen. Standortkoalitionen finden sich in einer sozialpartnerschaftlichen und einer konfliktpartnerschaftlichen Variante.

Die Verhandlungen haben deshalb an den bestehenden Mustern der Arbeitsbeziehungen zwischen Management und Betriebsrat wenig geändert; diese wurden im Gegenteil zumeist verstärkt. Während in sozialpartnerschaftlichen Konstellationen die Tarifabweichung von den Betriebsparteien als Beweis für die Tragfähigkeit gemeinsamer Interessen betrachtet wird, tritt in konfliktpartnerschaftlichen Konstellationen die Einschätzung hinzu, dass mit der Tarifabweichung die eigenen Interessen erfolgreich durchgesetzt worden seien.

Eine Ausnahme von dieser Regel sind die wenigen Fälle, die sich vor der Tarifabweichung durch geringe Aktivitäten der Betriebsräte oder durch die eindeutige Dominanz der Unternehmensleitungen auszeichneten. Hier brachen mit der Tarifabweichung die traditionellen Beziehungsmuster auf. Die Folge war, dass nun der Betriebsrat insgesamt oder einzelne Fraktionen eine stärkere Position in den Arbeitsbeziehungen einforderten und die Dominanz der Geschäftsleitungen in Frage stellten.

Insgesamt ist der fast durchgängigen Einschätzung beider Betriebsparteien zuzustimmen, dass die Betriebsräte in ihrer betriebspolitischen Stellung durch die Aushandlung der Tarifabweichung gestärkt worden sind. Dies liegt vor allem daran, dass sie sich als durchsetzungsfähige Verhandlungsakteure auf einem neuen Verhandlungsfeld beweisen konnten. "Man hat jetzt im Management erkannt, dass wir einen sehr kompetenten Betriebsrat haben, das Ansehen des Gesamtbetriebsrats wurde gestärkt", unterstreicht der Betriebsrat eines Reifenherstellers.

NUR MIT RÜCKENDECKUNG DER GEWERKSCHAFTEN_ Die Verhandlungserfolge wären nach Einschätzung aller befragten Betriebsräte ohne die Unterstützung der Gewerkschaft nicht durchsetzbar gewesen. Erst die Gewerkschaft hat ihnen hinreichend Expertise und Rückendeckung verschaffen können, eigene Forderungen zu entwickeln und erfolgreich zu verhandeln. Die Voraussetzung dafür war in beiden Branchen der Zustimmungsvorbehalt der Gewerkschaften. Die Gewerkschaft konnte ihre Vetoposition in den Verhandlungen für die Durchsetzung eigener Forderungen nutzen, und davon profitierten auch die Betriebsräte. "Als Betriebsrat kann man das gar nicht so leisten, ohne die Verhandlungsprofis von der Gewerkschaft geht das nicht", räumt ein Betriebsrat aus der chemischen Industrie ein. Eine allgemeine Öffnungsklausel ohne Beteiligung der Gewerkschaft - wie sie von einigen Arbeitgeberverbänden immer wieder gefordert wird - lehnen alle Betriebsräte ab.

Die Abstimmung zwischen Betriebsrat und Gewerkschaft erfolgte zumeist einvernehmlich. Nur in zwei Fällen wurden die tarifpolitischen Leitlinien der Gewerkschaft als Beschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten empfunden. In dem einen Fall wollte der Betriebsrat längere Laufzeiten für die abweichende Vereinbarung durchsetzen, in dem anderen wollte er einer Arbeitszeitverlängerung auf 40 Wochenstunden zustimmen, um eine Kürzung der Pausenzeiten zu vermeiden. Nur einmal kam es zu größeren Konflikten. Diese hatten den erstaunlichen Effekt, dass sich eine gewerkschaftlich orientierte Fraktion im Betriebsrat bildete, die sich gegen den gewerkschaftsfernen Betriebsratsvorsitzenden und die paternalistischen Arbeitsbeziehungen im Unternehmen auflehnte.

Für die Stellung der Gewerkschaft im Betrieb erwies sich die Einbindung der Mitglieder bei der Tarifabweichung von großer Bedeutung. Teilweise wurden neue Beteiligungsformen entwickelt. Dazu zählen die Wahl von betrieblichen Tarifkommissionen durch die Mitglieder in Mitgliederversammlungen, die Teilnahme an Tarifkommissionen und nicht zuletzt die Bindung der Annahme von Verhandlungsergebnissen an eine Mitgliederentscheidung. Wurde zugleich die besondere Bedeutung der Gewerkschaftsmitgliedschaft für die betriebliche Durchsetzungsfähigkeit in Tariffragen betont und die Tarifpolitik mit einer Mitgliederkampagne verknüpft, konnte die Gewerkschaft Rekrutierungserfolge erzielen. In einem Fall wurde der Organisationsgrad sogar verdoppelt und durch Neugründung einer Vertrauensleuteorganisation gewerkschaftliche Strukturen im Betrieb verankert.

BESCHÄFTIGTE ALS KRITISCHE GRÖSSE_ Die Beschäftigten sind für die Betriebsräte in den Verhandlungen zur Tarifabweichung eine kritische Größe. Dies liegt vor allem daran, dass sie mehrheitlich Tarifabweichungen ablehnten. Die Forderungen der Unternehmensleitungen wurden als nicht legitim betrachtet - in der Hoffnung, selber nicht von drohendem Personalabbau betroffen zu sein. Die Betriebsräte mussten die Beschäftigten von der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges erst überzeugen. Die Legitimierung ihres Handelns war keineswegs im Vorhinein gegeben.

Deshalb haben alle Betriebsräte große Mühen darauf verwandt, die Beschäftigten über die Beweggründe ihres Handelns zu informieren und für die eigenen Strategien zu werben - sowohl auf außerordentlichen Betriebs- und Abteilungsversammlungen als auch im persönlichen Gespräch im Betrieb. Hierbei erwiesen sich Vertrauensleutekörper als wichtige Hilfen. Erfolgreich waren diese Bemühungen vor allem dann, wenn es den Betriebsräten gelang, sich in konfliktorientierten Strategien als Verteidiger der Beschäftigteninteressen gegen die Zumutungen der Unternehmensleitungen zu positionieren. Zwar gab es keine größeren Arbeitskämpfe in den Verhandlungen; Arbeitsniederlegungen beschränkten sich auf kleinere symbolträchtige Aktionen beispielsweise vor Verhandlungsterminen. Doch erwiesen sich gerade diese Symbole als wichtig für die Legitimation des Betriebsratshandelns. "Wir haben während der Verhandlungen einen spontanen Warnstreik gemacht, die rege Beteiligung hat nicht nur die Unternehmensleitung, sondern auch die IG Metall überrascht", verrät ein Betriebsratsvorsitzender aus der Metallindustrie. Allerdings wurden konfliktorientierte Strategien nur in einem Drittel der Fälle eingeschlagen.

WIRTSCHAFTLICHE KOMPETENZEN GEFORDERT_ Die treibende Kraft der Tarifabweichung bei den Betriebsräten sind die Betriebsratsvorsitzenden. Sie sind getragen von der Überzeugung, im (Beschäftigungs-)Interesse der Beschäftigten das Richtige zu tun. In den Betriebsratsgremien fanden jeweils offene und zumeist kontroverse Diskussionen zur Tarifabweichung statt, in denen sich der Vorsitzende schließlich durchsetzte. Die Selbsteinschätzung der Vorsitzenden bewegt sich zwischen einer defensiven Position, in Sachzwängen zu stehen und nicht anders handeln zu können, und der offensiven Position, durch die Tarifabweichung die eigene Stellung als Interessenvertretung zu stärken. Nicht wenige Betriebsräte neigen zu der zweiten Sichtweise.

Mit den Verhandlungen zu Tarifabweichungen sind die wirtschaftlichen Kompetenzen der Betriebsräte besonders gefordert. Zwar gibt es in allen untersuchten Fällen Wirtschaftsausschüsse, in denen sich die Betriebsräte regelmäßig über die wirtschaftliche Entwicklung unterrichten lassen. Die Beurteilung der Rahmenbedingungen bei Tarifabweichungen hat aber eine besondere Qualität, weil die Unternehmen hier ausgefeilte Begründungen für Standortverlagerungen oder Beschäftigungsabbau vorlegen. In dieser Situation greifen einige Betriebsräte zu externer Expertise durch Wirtschaftsprüfer. Andere vertrauen ganz auf die Gewerkschaft, die in beiden Branchen die Begründungen der Unternehmen ausführlich prüft oder prüfen lässt. Problematisch ist die Situation hingegen für Betriebsräte, die sich vorher um wirtschaftliche Fragen nicht gekümmert haben.

Auch deshalb ist nach einer Tarifabweichung die Betriebsratsarbeit eine andere als zuvor. Kosten- und Standortfragen bleiben unweigerlich auf der Tagesordnung, zumal die Betriebsräte auch die Umsetzung der Tarifabweichung - also die Einhaltung der Zusagen des Unternehmens - kontrollieren müssen. "Der Betriebsrat weiß genau, wie viel Geld wir verdienen jeden Monat, das war vorher nicht ganz so", räumt ein Betriebsratsvorsitzender aus der Metallindustrie ein, "wir haben eine andere Rolle als früher, wir warten nicht mehr nur ab, sondern machen aktiv mit."

Die Umsetzungskontrolle wird von den Betriebsräten sehr ernst genommen, insbesondere bei Investitions- und Innovationszusagen der Unternehmen. Nur in wenigen Fällen waren sie damit überfordert oder konnten Nichteinhaltungen durch die Unternehmen nicht sanktionieren - aus Angst, damit den Kündigungsschutz aufs Spiel zu setzen.

Die Betriebsräte werden also dazu gezwungen, ihre Kompetenzen zu erweitern. Dies konnte vor allem in kleineren Betrieben mit nur einem oder wenigen Freigestellten dazu führen, dass die Ressourcen der Betriebsräte durch die Verhandlung und Umsetzung der Tarifabweichung überstrapaziert wurden. Derartige Defizite wurden teilweise durch hohe persönliche Kompetenz und großen Einsatz der Betriebsratsvorsitzenden wettgemacht.

BETRIEBSRÄTE GESTÄRKT_ Als Akteure der Tarifabweichung machen die Betriebsräte eine erstaunlich gute Figur. Dort, wo die Betriebsräte zuvor schwach waren, bewirkte die Tarifabweichung einen Aufbruch aus der Passivität. Die Betriebsräte mussten ihre wirtschaftlichen Kompetenzen erweitern und haben neue Mitbestimmungsansprüche gestellt. Darüber hinaus haben sich insgesamt die Beziehungen zu Management, Gewerkschaften und Beschäftigten zum Vorteil der Betriebsräte verändert.

Die Machtposition der Betriebsräte gegenüber dem Management ist zumeist gestärkt worden. Auch die ohnehin engen Bande zur Gewerkschaft wurden wechselseitig bekräftigt und ausgebaut. Die Gewerkschaften gaben den Betriebsräten entscheidenden Rückhalt, und diese haben wiederum versucht, die Gewerkschaft im Betrieb breiter zu verankern. Schließlich gelang es den Betriebsräten auch, die mehrheitlich skeptischen Beschäftigten mitzuziehen. Allerdings wurden die Beschäftigten nur in wenigen Fällen in konfliktorientierte Strategien eingebunden. Eine wichtige Ressource der Handlungslegitimation für die Betriebsräte liegt damit noch weitgehend brach.


STUDIE

Tarifabweichungen in der Chemie- und der Metallindustrie

In beiden Branchen gab es in den Jahren 2006 und 2007 in durchschnittlich jedem zehnten Betrieb eine Tarifabweichung, bei den Konzessionen der Arbeitnehmer dominierte jeweils die Verlängerung der Arbeitszeit ohne Entgeltausgleich.

In der chemischen Industrie wurden Möglichkeiten der Unterschreitung von Tarifnormen in Form von Bandbreiten respektive Unterschreitungsspielräumen tariflich festgelegt. Dies geschah seit 1994 schrittweise für die Themen Arbeitszeit, Entgelt und Jahresleistung. Eine Besonderheit dieser Regelungen besteht darin, dass Tarifabweichungen in Form von Betriebsvereinbarungen ausgehandelt werden, diese aber der Zustimmung durch die Tarifvertragsparteien unterliegen.

In der Metallindustrie begann die tarifliche Regelung der Tarifabweichung mit der Härtefallklausel 1993 für die ostdeutschen Tarifgebiete. Sie wurde 2004 mit der Pforzheimer Vereinbarung neu geregelt. Diese erlaubt Tarifunterschreitungen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und zu Sicherung und Ausbau der Beschäftigung. Im Unterschied zur chemischen Industrie sind Tarifabweichungen in der Metallindustrie nicht als Betriebsvereinbarungen von den Betriebsparteien, sondern als Ergänzungstarifverträge von den Tarifvertragsparteien auszuhandeln.

Für das von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierte Forschungsprojekt zum Wandel der Mitbestimmung bei Tarifabweichungen wurden in beiden Branchen je sechs Fallstudien durchgeführt - jeweils auf der Grundlage von Interviews mit mehreren Betriebsräten, Vertrauensleuten, einem Vertreter der Geschäftsleitung und dem gewerkschaftlichen Betreuer.

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