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Interview PH HERO Böckler Impuls

Steuerfreie Überstunden: „Eine Reihe schädlicher Nebenwirkungen“

Ausgabe 09/2024

Damit mehr gearbeitet wird, möchte Finanzminister Christian Lindner Vollzeitbeschäftigten die Steuern auf Überstunden erlassen. IMK-Direktor Sebastian Dullien erklärt im Interview, warum das eine schlechte Idee ist.

Welchen Effekt hätten steuerfreie Überstunden? Würden Beschäftigte tatsächlich länger arbeiten?

Sebastian Dullien: Das wissen wir nicht. Es gibt keinerlei empirische Evidenz, ob derzeit überhaupt Beschäftigte in relevantem Maß Überstunden jenseits der Vollbeschäftigung ablehnen, weil die Steuerbelastung zu hoch wäre. Das aber ist ja eine Voraussetzung, dass die Maßnahme überhaupt greift. Von daher ist der Effekt auf das Arbeitsangebot unklar.

Selbst wenn die Steuerfreistellung von Überstunden wie gehofft wirkt, hätte sie aber absehbar eine Reihe von schädlichen Nebenwirkungen: Eine Besserstellung von Überstunden schafft bei den Unternehmen den Anreiz, lieber auf überlange Arbeitszeiten zu setzen, statt Nachwuchs zu rekrutieren oder auszubilden oder bei Teilzeitbeschäftigten die Voraussetzungen für Mehrarbeit zu schaffen. 

Außerdem verschärft eine solche Besserstellung die geschlechtsspezifische Ungleichheit am Arbeitsmarkt, weil es für Familien attraktiver wird, wenn eine Person sehr viele Stunden arbeitet und der Partner oder die Partnerin weniger Stunden arbeitet oder ganz zu Hause bleibt. Da schon heute mehr Väter als Mütter Vollzeit arbeiten, wäre zu erwarten, dass Väter mehr, Mütter weniger arbeiten. Langfristig ist das zudem schädlich für das Arbeitsangebot, weil wir beobachten, dass Frauen, die in Jahren mit kleinen Kindern aus dem Job ausgestiegen sind, auch in späteren Jahren nicht wieder in Vollzeit in qualifizierte Jobs zurückkehren.

Zuletzt wäre eine solche Lösung nicht nachhaltig, denn sowohl Produktivität als auch Gesundheit der Beschäftigten leiden bei überlangen Arbeitszeiten. Die Gefahr ist also, dass wir mehr Überstunden jenseits der Vollzeit fördern, dafür aber künftig weniger produktiv arbeiten und das Arbeitsangebot fällt.

Sebastian Dullien ist Wissenschaftlicher Direktor des IMK.

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Wer würde von Lindners Vorschlag profitieren?

Wir haben Erfahrungen aus Frankreich mit einer ähnlichen Politik, als 2007 die Regierung von Präsident Nicolas Sarkozy Steuer- und Abgabenermäßigungen für Überstunden einführte. Wissenschaftliche Analysen zeigen heute: Die Zahl der geleisteten Stunden wurde damit nicht erhöht. Allerdings nutzten gut qualifizierte Besserverdienende die Vergünstigungen, um mehr Überstunden anzugeben und ihre Steuerlast zu senken.

Also: Ganz klar würden jene profitieren, die heute auch schon ohne die Steuerbefreiung bezahlte Überstunden leisten, weil sie darauf dann keine Steuern zahlen müssten. Zweitens dürften jene profitieren, die es hinbekommen, durch Tricksen Überstunden gegenüber der Steuer abzurechnen, die heute bereits anderweitig abgegolten oder gar nicht angefallen sind. Und Besserverdienende werden stärker profitieren als Geringverdienende, weil ihre Grenzsteuersätze höher sind.

Was ließe sich stattdessen tun, um den Fachkräftemangel in den Griff zu bekommen?

Wir wissen aus den Arbeiten des WSI, dass viele Eltern unter mangelnder Verfügbarkeit und Verlässlichkeit von Kinderbetreuung leiden und deshalb ihre Arbeitszeit reduziert haben. Eine Verbesserung der Betreuungsmöglichkeiten wäre deshalb eine gute Möglichkeit, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Ebenso könnte man die Geflüchteten im Land gezielter schulen und in den Arbeitsmarkt integrieren. Außerdem gibt es immer noch sehr viele in Deutschland geborene Geringqualifizierte, die man mit gezielten Weiterbildungsangeboten zu Fachkräften ausbilden könnte. Zuletzt ist die gesteuerte Zuwanderung von Menschen mit dringend benötigter Qualifikation eine Option. All diese Maßnahmen kosten allerdings Geld. In Zeiten beschränkter öffentlicher Ausgaben durch die Schuldenbremse wären Mittel hier besser investiert als mit einer Steuerfreistellung von Überstunden.

Die Unternehmen könnten allerdings auch etwas tun, um den Fachkräftemangel zu lindern: Viele Menschen würden mehr Stunden arbeiten, wenn ihnen die Unternehmen flexiblere Arbeitszeiten erlauben würden. Dies scheitert oft nicht an echten organisatorischen Hindernissen, sondern an einem überkommenen Verhältnis zu Präsenz und Arbeitszeiten bei Vorgesetzten. In manchen Branchen sind zudem die Arbeitsbedingungen so schlecht, dass die Beschäftigten einfach nicht mehr arbeiten wollen. Auch hier ist es an den Unternehmen, die Bedingungen zu verbessern.
 

Mehr Infos im Netz

Eine Infografik zu den gültigen Arbeitszeitgrenzen, Pausen- und Erholungszeiten sowie Ausnahme­bestimmungen ist hier abrufbar.

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