zurück
Neujahrsempfang 2023 Axel Honneth Service aktuell

Neujahrsempfang 2023: „Eine Frage der Macht“

Der Sozialphilosoph Axel Honneth entwarf bei unserem Neujahrsempfang ein Anforderungsprofil für Arbeitsbedingungen, die demokratische Teilhabe ermöglichen.

[31.1.2023]

Von Andreas Molitor

Es kommt nicht allzu häufig vor, dass sich Gallionsfiguren aus Gewerkschaftsbewegung und Philosophie auf einem Diskussionspodium argumentativ die Bälle zuwerfen. In den Gedanken der meisten Gegenwartsphilosophen spielen die Bedingungen, unter denen Menschen arbeiten, keine allzu große Rolle. Ganz anders bei unserem Neujahrsempfang am 25. Januar in Berlin, wo sich die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi und der Sozialphilosoph Axel Honneth in ihren Appellen für die Weiterentwicklung von Mitbestimmung und betrieblicher Demokratie immer wieder gegenseitig befeuerten. „Arbeit ist doch nicht irgendein Ort, wo ich mich hin und wieder aufhalte“, sagte Fahimi. „Wir reden nicht von Beteiligung, sondern von Mitgestaltung. Wir wollen Beschäftigte, die selber die Initiative ergreifen.“ Axel Honneth, Professor an der Columbia University in New York und Vertreter der dritten Generation der einst von Theodor W. Adorno gegründeten Frankfurter Schule, nickte energisch. „Es gibt durchaus Chancen der Verbesserung der Arbeitsbedingungen unter kapitalistischen Verhältnissen“, nutzte er die Vorlage der DGB-Vorsitzenden und holte aus: „Diese Chancen können allerdings nur genutzt werden, wenn es gelingt, die Macht der Unternehmen einzuschränken und zurückzudrängen.“ Reger Applaus im Saal – und zustimmendes Nicken bei Yasmin Fahimi.

„Der arbeitende Souverän“

Honneth war angereist, um den Gästen des Neujahrsempfangs einen ersten Einblick in sein im März erscheinendes Buch „Der arbeitende Souverän“ zu bieten. Seine These: In der Demokratietheorie werde „immer wieder vergessen, dass die meisten Mitglieder des lauthals beschworenen Souveräns arbeitende Subjekte“ sind. Menschen verbringen – so sie denn Arbeit haben – einen Großteil ihres Lebens am Arbeitsplatz. „Soziale Integration“, so Honneth, „geschieht bei uns primär über die Arbeit.“ Das wiederum habe gravierende Auswirkungen auf die Beteiligung an der demokratischen Willensbildung. „Eine politische Demokratie ist so viel wert, wie es die Arbeitsverhältnisse allen Beschäftigten erlauben, sich wirtschaftlich unbesorgt, ohne Scham und selbstbewusst an der öffentlichen Willensbildung zu beteiligen“ – so lautet das Credo des Philosophen. Nicht freie Wahlen allein, sondern die „Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung“ entscheide maßgeblich darüber, „wie hoch die Chancen zur demokratischen Teilnahme sind“.

Videos des Neujahrsempfangs

Dokumentation

Zur kompletten Dokumentation des Neujahrsempfangs 2023

Honneth skizziert einen Anforderungskatalog an faire oder zumindest „hinreichend gute“ Arbeitsverhältnisse. Unverzichtbar sei vor allem ein „gesicherter, subsistenzgewährender Arbeitsplatz“. Wer hingegen gezwungen sei, „beliebige, nicht willentlich gutgeheißene Arbeitsbedingungen hinzunehmen“, bleibe in seinen Entscheidungen „von fremden Mächten in einer Weise abhängig, die es unmöglich macht, frei und selbstbestimmt an der öffentlichen Willensbildung teilzunehmen“. Auch koste „eng getaktete, mental ermüdende, abwechslungsarme Arbeit“ derart viel Kraft und Zeit, dass kaum noch Platz „für Aktivitäten in der demokratischen Öffentlichkeit“ bleibe. Essenziell sei zudem „eine gewisse Verhandlungsmacht“ der Beschäftigten. Von jemandem, „der an seinem Arbeitsplatz nur daran gewöhnt ist, Anordnungen und Befehle entgegenzunehmen“, werde niemand erwarten können, „plötzlich als politischer Bürger eine Mentalität der Dialogbereitschaft an den Tag zu legen“.

Die Verhältnisse, sie sind nicht so

Trete zur „Verpflichtung auf Unterordnung“ noch eine „große Isolation am Arbeitsplatz hinzu“, sei eine Lebenswelt geschaffen, „die derjenigen der demokratischen Kooperation nahezu diametral entgegengesetzt ist“. Nicht zuletzt gehört die „intellektuelle Dichte“ der Arbeit zu Honneths Magna Charta für faire Arbeit. Völlig klar, denn „je eintöniger, intellektuell anspruchsloser und repetitiver die Arbeit ist, desto eingeschränkter ist die Fähigkeit, aus eigener Kraft Initiativen zur Veränderung der gesellschaftlichen Umwelt zu ergreifen“. Die durch monotone Arbeit erzeugte „Starrheit des eigenen Denkens und Handelns“ unterdrücke „den Impuls, aus eigener Initiative in der demokratischen Öffentlichkeit Stellung zu beziehen“ oder sogar „aktiv in das politische Geschehen einzugreifen“.

Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Das weiß Axel Honneth („Eine Katastrophe für unseren sozialen Zusammenhalt“), und das weiß natürlich auch Yasmin Fahimi. Arbeitgeber, die sich Tarifverträgen entziehen, die Mehrheit der Betriebe und Beschäftigten in Deutschland ohne Betriebsrat, eine ständige Zunahme von prekärer Beschäftigung – der „arbeitende Souverän“ befindet sich vielerorts in misslicher Lage. Auch wenn etwa das Vertrauen der Beschäftigten in die Gewerkschaften in letzter Zeit gewachsen ist, wie Bettina Kohlrausch aus jüngsten Befragungen berichtete. Die Wissenschaftliche Direktorin unseres Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) leuchtet die Situation der Erwerbsbevölkerung in regelmäßigen empirischen Studien aus.

  • Neujahrsempfang 2023 Yasmin Fahimi
    Die DGB-Vorsitzende und Vorsitzende des Vorstands unserer Stiftung, Yasmin Fahimi

Und es gibt natürlich eindrucksvolle Gegenbeispiele: Unternehmen, in denen die Arbeitsbeziehungen funktionieren, in denen Beschäftigte und ihr Betriebsrat Verbesserungen durchsetzen können. Davon berichtet beim Neujahrsempfang Andreas Juhls. Der Betriebsratsvorsitzende bei der Ariane Group in Bremen und Experte für Raketentechnik kann von Erfolgen der Mitbestimmung genauso begeisternd erzählen wie von Sondenmissionen zum Mond. Aber Juhls sieht auch die Lücken und einen großen Modernisierungsrückstand beim Betriebsverfassungsgesetz, das den rechtlichen Rahmen für Betriebsräte setzt. Ein Gesetzentwurf für ein Update von Fachleuten aus DGB-Gewerkschaften, Rechtswissenschaft und unserer Stiftung liegt längst vor. Nun drängt Juhls darauf, dass sich die Regierung für eine Novellierung engagiert: Da fehle aktuell „der Schub von Seiten der Politik“, sagt er.          

Zeitgemäßes Betriebsverfassungsgesetz sollte Kernanliegen sein

Völlig unverständlich bleibt auch für den Sozialphilosophen Honneth, „wie die politischen Akteure in einem erstaunlichen Maße vergessen, wie stark die Demokratie von guter und fairer Arbeit abhängig ist“. Seine Kritik richtet er vor allem an die SPD, der ein zeitgemäßes Betriebsverfassungsgesetz doch ein Kernanliegen sein müsste. „Warum hat die Sozialdemokratie ihr ureigenes Feld vergessen“, fragt er, „warum ist das Bewusstsein so gering für die Orte, an denen es wirklich brennt?“ Zumindest diesen Seitenhieb mag die Sozialdemokratin Yasmin Fahimi nicht ohne Widerspruch hinnehmen. „Auch bei den nachhaltigkeitsbewegten Grünen“, retourniert sie, „habe ich erhebliche Zweifel, ob sie zutiefst begriffen haben, dass die Klimarevolution und die digitale Transformation unserer Gesellschaft nur mit einer starken Mitbestimmung gelingen werden.“

  • Neujahrsempfang 2023 Panel
    WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch, die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi, Andreas Juhls, Betriebsratsvorsitzender bei der Ariane Group und Axel Honneth im Gespräch.

Weitere Informationen

Dokumentation des Neujahrsempfangs 2023

Editorial von Bettina Kohlrausch im Newsletter HANS. 2-2023: Welche Rechte braucht der „arbeitende Souverän“? 

Systemrelevant Podcast: Wie industrielle Staatsbürgerrechte die Demokratie sichern

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen