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Magazin Mitbestimmung

: Weichgespülte Arbeitsbeziehungen

Ausgabe 10/2008

MITBESTIMMUNG Der Drogeriemarkt dm setzt auf Kreativität und Engagement seiner Beschäftigten. Erst seit sechs Jahren gibt es Betriebsräte. Denen wird es in der kuscheligen Atmosphäre schwer gemacht, klare Absprachen durchzusetzen.

Von Annette Jensen, Journalistin in Berlin/Foto: Keystone

Verglichen mit anderen Unternehmen erscheint dm wie eine Insel der Seligen: Outsourcing, Leiharbeit, Verlagerung - all das gibt es bei der Drogeriekette nicht. Die 18?000 Mitarbeiter in Deutschland erhalten selbstverständlich Tariflöhne, und in der Zentrale im Karlsruher Westen verdienen viele sogar deutlich mehr. Die Büros dort sind licht und schön eingerichtet, Kaffee und Sprudel gibt es kostenlos und auf jedem Stockwerk eine Küche. Auch die Filialen werden häufig modernisiert. Alle Mitarbeiter haben Zugang zum Intranet und können sich über das Unternehmen und neue Produkte informieren. Im vergangenen Jahr erhielt jede dm-Vollzeitkraft einen Sonderbonus in Höhe von 750 Euro, und wenn die Beschäftigten in den eigenen Läden einkaufen, bekommen sie zehn Prozent Rabatt.

MIT DEM UNTERNEHMEN IDENTIFIZIEREN_ Fast jede Filiale bildet einen Azubi aus. Während die jungen Leute anderswo im Einzelhandel oft monatelang als billige Kräfte missbraucht werden, fördert dm explizit die Eigeninitiative. Statt Leitfäden und Handlungsanweisungen gibt das Unternehmen dem Nachwuchs Lernaufgaben, die die Azubis unter realen Arbeitsbedingungen bewältigen sollen. Außerdem nehmen die angehenden Drogisten an einem achttägigen Theaterworkshop mit Profikünstlern teil, dessen Ergebnis den Kollegen und Freunden dann später vorgeführt wird. Ziel ist es, "zu lernen, sich selbst und seine Umwelt besser zu begreifen", rechtfertigt der anthroposophisch geprägte Unternehmensgründer Götz W. Werner solche Ausbildungselemente.

Auch in den Verteilzentren können sich Mitarbeiter zu künstlerischen Fähigkeitswerkstätten oder gemeinsamen Museumsbesuchen anmelden. Dabei sollen Hierarchien und Abteilungsgrenzen verschwimmen und sich den "Kollegen", wie der Chef, der sich im Mai 2008 von der Spitze zurückgezogen hat, die Beschäftigten stets bezeichnet hat, neue Sichtweisen erschließen.

Der Effekt, dass sich die dm-Belegschaft stark mit dem Unternehmen identifiziert, ist gewollt. Wer eine Idee für eine Sonderaktion hat, hat freie Bahn - nur die zusätzliche Arbeit muss dann natürlich auch irgendwie bewältigt werden. So arbeiten viele dm-Beschäftigten wesentlich länger als in ihren Arbeitsverträgen steht. Eine Zeiterfassung gibt es nicht: Es gilt Vertrauensarbeitszeit.

VIELE ARBEITEN AM LIMIT_ Inzwischen jagt eine Sonderaktion die nächste: Wellness-Tage, Spendensammlungen für Kinderfreizeiten oder Kulturtage und Tipps für werdende Mütter - nicht nur die Belegschaft, sondern auch die Kundschaft gehört zur Gemeinde. Wenn sich nebenan die Konkurrenz ansiedelt, überlegen die Leute in der jeweiligen Filiale selbst, ob sie mit Verköstigungen oder günstigeren Preisen reagieren. Außerdem soll jeder im Laden möglichst über alle Produkte Bescheid wissen - und deren Zahl und Komplexität wächst. "Es gibt inzwischen einen großen Druck, ständig besser zu werden", beschreibt eine Betriebsrätin die Situation. "Viele arbeiten am Limit. Erholungs- und Ruhephasen, so wie früher, treten fast nicht mehr ein." Der Umsatz wächst rasant: Durchschnittlich fünf Prozent legte jede Filiale im aktuellen Geschäftsjahr zu. Dank neuer Standorte steigen die dm-Verkaufszahlen sogar zweistellig. Allein in Deutschland hat dm im vergangenen Jahr Waren im Wert von drei Milliarden Euro verkauft und rückt damit wieder ein Stück näher an den Marktführer Schlecker heran.

SPÄTE BETRIEBSRATSGRÜNDUNG_ Erst seit sechs Jahren gibt es bei dm Betriebsräte und einen Aufsichtsrat, in dem offiziell die Arbeitnehmervertreter/-innen mitbestimmen. Damals hatten einige Kollegen in zwei Verteilzentren die Initiative ergriffen und mit ver.di Kontakt aufgenommen - und daraufhin entschied der Chef: wenn schon Betriebsräte, dann überall. "Das war ein cleverer Schachzug", urteilt eine Betriebsrätin, die namentlich nicht genannt werden möchte. Gezielt habe die Unternehmensleitung damals Mitarbeiter angesprochen; allzu kritische Geister waren selbstverständlich nicht darunter. Zwei engagierte Wahlvorstände für die Betriebsratswahlen, die auf klare Verhältnisse drängten, hielten dagegen plötzlich den Mund, nachdem die Unternehmensführung bei ihnen gewesen war. Und obwohl beispielsweise der Betriebsrat Nord von dm für rund 5000 Filial-Mitarbeiter zuständig ist, nimmt dort keine einzige Person im Betriebsrat das Recht auf Freistellung wahr - obwohl ihnen das Betriebsverfassungsgesetz sechs bis sieben freigestellte Betriebsräte garantiert, damit sie ihre Aufgabe bewältigen können.

VERTRAUEN IST GUT, RECHTE SIND BESSER_ Ein klares Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhältnis hat sich bei dm bis heute nicht eingestellt. Viele Absprachen werden nicht einmal schriftlich festgehalten, und die meisten Betriebsräte übernehmen ihre Aufgabe nur zaghaft und verhalten sich merkwürdig ambivalent. Vorherrschend ist die Haltung: Das Verhältnis ist sehr gut, man vertraut den Vorgesetzen und will sie nicht durch das Einfordern fester Regeln brüskieren. "Ich geb' Ihnen mein Wort - reicht Ihnen das etwa nicht?" bekommen die Betriebsräte immer wieder zu hören. Längst nicht immer trauen sie sich ein "Nein" als Antwort zu.

Viele Betriebsratsmitglieder fürchten, wenn der Betriebsrat eine bei der Geschäftsführung unbeliebte Entscheidung getroffen hat, persönlich darauf angesprochen zu werden und dafür persönlich Rede und Antwort stehen zu müssen. Auch mit einem Vertreter der Gewerkschaft ver.di gesehen zu werden ist vielen unangenehm; der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Betriebsrat ist entsprechend gering.

Dabei gibt es umgekehrt durchaus klare Betriebsvereinbarungen, wenn sie das Unternehmen als nützlich ansieht. "Dass Azubis bei uns eingestellt werden können, ohne dass der Betriebsrat zustimmen muss, war ganz schnell unter Dach und Fach", berichtet eine Beteiligte. Und anders als in anderen Unternehmen möchten dm-Arbeitnehmervertreter auch nicht namentlich im Magazin Mitbestimmung der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung auftauchen. "Es gibt Angst vor Repressalien - bis dahin, dass wir fürchten rauszufliegen", beschreibt ein Arbeitnehmervertreter die Situation.

"Solange man bei dm mit dem Strom schwimmt, ist es das beste Unternehmen, das es gibt", beschreibt ein ver.di-Funktionär die Situation. Doch zum Beispiel zu thematisieren, dass die Überstunden beim Einbau der neuen Kassensoftware an Sonntagen bezahlt werden müssten, weil ein Freizeitausgleich völlig unrealistisch sei, empfände das dm-Management schon als Affront.

Darauf angesprochen, weist Unternehmensleiter Erich Harsch dies zurück und zeigt sich im Gegenteil offen für Kritik: "Ich denke, gemeinschaftliche Auseinandersetzungen sind wichtig und bringen uns voran. Gerade im Austausch kann sich etwas entwickeln." Dass die Betriebsräte in seinem Unternehmen nicht mit ihren Namen zitiert werden wollen, erklärt er damit, dass Presseanfragen normalerweise immer über die PR-Abteilung abgewickelt würden und sie deswegen wohl unsicher gewesen seien. Dass kritische Äußerungen "merkwürdige Folgen" haben könnten, müsste jedenfalls kein dm-Mitarbeiter fürchten, versichert er.

Ganz langsam ändert sich die Atmosphäre im Unternehmen. Nicht nur preschen Kollegen aus den Verteilzentren immer wieder vor, wenn es um klare Absprachen geht. Die Belegschaft wächst auch laufend - und damit die Anonymität. Außerdem leitet seit Mai nicht mehr der Unternehmensgründer Götz W. Werner (der das Unternehmen als seine "soziale Skulptur" begreift) das Unternehmen, sondern sein bisheriger Stellvertreter Erich Harsch. "Man hat jetzt öfter das Gefühl, nicht mehr ernst genommen zu werden", berichtet ein Betriebsratsmitglied. Das sieht eine Betriebsrats-Kollegin anders. Sie beobachtet, dass der patriarchalisch-familiäre Unternehmergeist im Schwinden ist. Die neuen dm-Mitarbeiter im Management, die erst vor Kurzem angestellt wurden, nähmen die Betriebsräte als Institutionen ernster und würden sie früher in Entscheidungen mit einbeziehen, ist sie überzeugt. "Diejenigen, die schon lange dabei sind, vergessen dagegen noch oft, dass es uns überhaupt gibt."

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