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Weiterbildungsmentoren Peter Strelow (d.v.r) und Monika Beckmann (z.v.l.) im Einsatz bei einem Wursthersteller Magazin Mitbestimmung

Qualifizierung: Einmal Dreher - nicht immer Dreher

Ausgabe 04/2023

Im Rahmen der Nationalen Weiterbildungsstrategie leisten gewerkschaftliche Coaches und Mentoren einen Beitrag im Kampf gegen den Fachkräftemangel. Von Stefan Scheytt

Betriebsrat Peter Strelow promovierte in mittelalterlicher Geschichte, kam dann, weil sich kein Job als Historiker fand, auf dem zweiten Bildungsweg zur IT und landete beim Wursthersteller The Family Butchers. An dessen Standort in Nortrup ist Strelow heute Leiter IT-Service und Ausbilder. Dazulernen, qualifizieren, fortbilden – das ist Strelows Thema. Sein jüngstes Projekt heißt Weiterbildungsmentor, wozu sich Strelow mit einer Betriebsratskollegin im Bildungszentrum Oberjosbach schulen ließ. Weiterbildungsmentoren (WBM) sollen, kurz gesagt, dafür sorgen, dass jetzt, wo alle Welt nach Fachkräften schreit, Beschäftigteauch wirklich die Chance bekommen, Fachkräfte zu werden und zu bleiben.

Peter Strelow hat deshalb gemeinsam mit seiner Mentoren-Kollegin und einer Personalerin den Kurs „Deutsch am Arbeitsplatz“ aufgesetzt. Für rund 20 Beschäftigte, die meisten aus Osteuropa, beginnt in diesen Wochen eine Onlineschulung, für die der Betrieb die Tablets stellt und die als Arbeitszeit zählt. „Es stimmt doch etwas nicht“, findet Strelow,„wenn wir auch deshalb eine hohe Fluktuation haben, weil Menschen wenige Wochen nach der Einstellung mit der Begründung wieder entlassen werden, ihr Deutsch sei mangelhaft.“ Wenn der Sprachkurs Erfolge zeigt, wünscht sich NGG-Mitglied Strelow eine Ausdehnung auf weitere Standorte und Inhalte: „Dann könnten wir mit den Kollegen auch über individuelle Weiterbildung nachdenken.“ Und „das Schönste überhaupt“ wäre es, irgendwann „die Weiterbildung im Tarifvertrag zu verankern“.

Einen Tick weiter ist man beim Wurstproduzenten Böklunder nahe Flensburg. Dort hat Betriebsratschef Jens Feddersen mit einem zum WBM geschulten Kollegen und der Personalabteilung rund 50 Beschäftigte mit ausländischen Wurzeln nicht nur für einen Sprachkurs gewonnen, auch die Stelle für eine Deutschlehrerin wurde gerade genehmigt. Parallel dazu sollen viele von ihnen außerdem zum Maschinen- und Anlagenführer oder zur Fachkraft für Lebensmitteltechnik nachqualifiziert werden. „Oft sagen die Kollegen: ‚Hab verstanden‘, obwohl sie nichts verstanden haben“, berichtet Feddersen. Wenn die nun bald sattelfest Arbeitsanweisungen oder Bedienungsanleitungen für die Maschinen lesen könnten und dadurch Anerkennung und Sicherheit erfahren würden, sei das von Vorteil für alle – fürs Unternehmen, für den Standort, für die Region, für die Sicherheit der Lebensmittel und natürlich für die Beschäftigten selbst und ihre Familien.

Lange To-do-Liste

Das von der IG Metall bereits 2008 entwickelte Konzept des gewerkschaftlichen Weiterbildungsmentors erlebt seit dem Ende der Coronakrise eine Renaissance. Im Rahmen der Nationalen Weiterbildungsstrategie, in der Ministerien, die Arbeitsagentur, Arbeitgeberverbände, IG Metall, Verdi, NGG und IGBCE sowie weitere Partner zusammenarbeiten, soll die Weiterbildungskultur in den Betrieben entwickelt und das Lernen und Qualifizieren als fester Bestandteil etabliert werden. Damit die Weiterbildungsbeteiligung von 54 Prozent (2018) auf 65 Prozent im Jahr 2030 steigt, sollen die WBM ihre Kolleginnen und Kollegen informieren, aktivieren, ermutigen, beraten und gleichzeitig mit der Arbeitgeberseite Weiterbildungsstrategien und Personalentwicklungskonzepte erstellen und umsetzen.

Auf diese lange To-do-Liste werden die WBM von Menschen wie Selma Tabak-Balks und Claudia Büchling von der IG Metall vorbereitet, die in ihrem jeweiligen Bezirk als Coaches tätig sind. Dabei sind ihre Ausbildungsangebote keine kurzatmigen Workshops von der Stange, sondern durchstrukturierte Schulungen mit drei jeweils dreitägigen Modulen (siehe lunten). Dazwischen stehen die Coaches zusätzlich für digitale und persönliche Kontakte bereit, um Weiterbildungsprojekte in den Betrieben voranzutreiben. Für eine quantitative Bilanz in Form von Zahlen über Teilnehmer und Maßnahmen sei es noch zu früh, meint Selma Tabak-Balks. „Trotzdem hat sich die Arbeit schon jetzt gelohnt, wenn wir sehen, wie Zukunfts- oder Ergänzungstarifverträge oder auch Betriebsvereinbarungen, in denen Weiterbildung verankert ist, auf den Weg gebracht werden.“ Kern der Mentorenarbeit sei es, Beschäftigte in persönlichen Gesprächen zu erreichen. „Dann kann es passieren, dass einer erzählt, wie ihm jahrelang Weiterbildung verweigert wurde nach dem
Motto: Einmal Dreher, immer Dreher. Und dann kann man versuchen, das aufzubrechen.“

„Mit ihren Projekten betreten fast alle Neuland und sehen sich oft Hemmnissen gegenüber“, berichtet Coachin Claudia Büchling vom IG-Metall-Bezirk Mitte. „Mal ist es die Unternehmensleitung, die den Mehrwert von Weiterbildung für alle oder für viele nicht sieht, mal sind es Personaler, die sich nicht zuständig glauben. Es gibt aber auch Beschäftigte, die Qualifizierung nicht als Chance, sondern als Bedrohung empfinden.“

Büchling erlebt eine große Bandbreite von Aufgaben vor Ort: „Bei einem Autozulieferer geht es um die Umsetzung eines sehr guten Transformations- und Zukunftstarifvertrags, in dem einiges zur Qualifizierung und Weiterbildung geregelt ist. Beim anderen, etwa bei Continental in Karben, wo für 2025 die Werkschließung angekündigt ist, müssen sie die Beschäftigten  beim Übergang in eine Transfergesellschaft begleiten.“ Keine leichte Aufgabe vor Ort für den Betriebsrat und den frisch ausgebildeten Weiterbildungsmentor David Pecoraro: „Durch den hohen Anteil älterer und un- und angelernter Beschäftigter ist das eine besondere Herausforderung, zumal uns die Zeit davonläuft.“ Vielen sei gar nicht bewusst, was ihre Stärken, Fähigkeiten und Schwächen sind. „Deshalb wollen wir mit allen über ihre persönliche Perspektive sprechen. Als Erstes natürlich mit denen, die uns als Nächstes verlassen müssen.“

  • Gruppenbild bei einem Coaching für Weiterbildungsmentoren
    Selma Tabak-Balks (links) coacht Weiterbildungsmentoren.

Bislang erfolgreich, aber …

250 Mentoren für 50 Betriebe allein bei der IG Metall sollen bis 2024 ein Coaching erhalten – deutlich mehr, als zunächst erwartet. Auch bei der NGG erhöhte sich die Zahl von 35 ursprünglich geplanten auf 49, weitere 40 stünden auf der Warteliste, sagt Projektleiter Kosta Stergatos.

Die Mentoren seien die „New Kids on the Block“ in der betrieblichen Weiterbildung, schreiben in einem Aufsatz Uwe Elsholz und Martina Thomas, Professor und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet Lebenslanges Lernen an der Fernuniversität in Hagen. Gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung begleiten sie das Projekt wissenschaftlich. Potenzial sehen sie darin, dass Mentoren als Kollegen eine „street credibility“ genießen und durch die Erzählung ihrer eigenen Bildungsbiografie Lernwiderstände überwinden können. „Sie können Überzeugungstäter im positiven Sinne sein und dadurch eine andere Weiterbildungskultur fördern“, meint Uwe Elsholz.

Allerdings dürfe man die Mentoren nicht mit Erwartungen überfrachten; insgesamt sei die Weiterbildungssituation in Deutschland unbefriedigend: „Die Chancen für eine Teilnahme an Weiterbildung sind sehr unterschiedlich verteilt, sodass Weiterbildung gesellschaftliche Ungleichheit eher reproduziert, anstatt ihr entgegenzuwirken.“ Dieses Matthäus-Prinzip – wer hat, dem wird gegeben – sei jahrzehntealt und eine missliche Konstante des deutschen Bildungssystems, auch in mitbestimmten Betrieben. Das Brett, das zu bohren ist, ist sehr dick.

Umso verständlicher ist die Sorge, die NGG-Projektleiter Kosta Stergatos umtreibt: „Was wir machen, ist gut und schön, und man sieht erste Erfolge. Aber was wird sein, wenn das Projekt und damit die Förderung Ende 2024 auslaufen? Bricht dann das Haus, das wir mühevoll aufgebaut haben, wieder zusammen?“


Einfach zugreifen

In Schulungen mit drei jeweils dreitägigen Modulen zur Vorbereitung auf ihren Job reflektieren angehende Weiterbildungsmentoren und -mentorinnen über ihre Rollen in dieser Funktion (Lotse, Berater, Initiator etc.), sie lernen Methoden des Projektmanagements und der Gesprächsführung, erfahren, wie sich Beschäftigte am besten auf Qualifizierungsgespräche mit der Personalabteilung vorbereiten und welche (Online-) Tools es gibt, um den Weiterbildungsbedarf eines Betriebs zu ermitteln. Außerdem gibt es eine kleine Auffrischung zu Initiativ- und Mitbestimmungsrechten von Betriebsräten beim Thema Weiterbildung, zu tarifvertraglichen Möglichkeiten und zur Förderung nach Sozialgesetzbuch III.

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