Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Mehr Demokratie wagen
Die Aufbruchstimmung der frühen 70er Jahre war treibende Kraft - auch für die Mitbestimmung. Der Demokratisierungselan ging weit über die Arbeitswelt hinaus. Als sich die Grenzen des Wachstums zeigten, galt es, das Erreichte abzusichern.
Von Klaus Schönhoven
Prof. Dr. Schönhoven lehrt Zeitgeschichte an der Universität Mannheim.
Die anderthalb Jahrzehnte nach 1960 sind in der Geschichte der Bundesrepublik eine Zeitspanne des gesellschaftlichen Umbruchs, der inneren Liberalisierung, des politisch-kulturellen Wandels und schließlich auch der sozialreformerischen Erneuerung gewesen. In diesem Zeitraum verschoben sich die parteipolitischen Koordinaten des Regierungssystems, die sich in den Gründerjahren der Bonner Republik herausgebildet und während der autoritären Kanzlerdemokratie Adenauers geradezu versteinert hatten. Nach ihrer formativen Phase in den 50er Jahren, die von Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum geprägt worden war, durchlebte die Republik in den 60er Jahren ein Jahrzehnt der politischen Verunsicherung und des parlamentarischen Gezeitenwechsels.
Schnelle Kanzlerwechsel, neue Koalitionen
An seinem Ende entschied sich bei der Bundestagswahl von 1969 eine Wählermehrheit gegen die Fortdauer des Regierungsregiments durch die CDU und CSU, deren Vorherrschaft in Bonn viele Bürger bis dahin als geradezu gottgegeben hingenommen hatten. Nunmehr waren auch unter bekennenden Christen andere Koalitionskonstellationen denkbar geworden, was auf eine Lockerung lange wirksamer Milieu- und Parteibindungen hindeutete.
Auf den Patriarchen Adenauer folgten nach dessen 14-jähriger Amtszeit, die im Herbst 1963 endete, mit Erhard, Kiesinger und Brandt drei politisch und persönlich sehr unterschiedlich profilierte Kanzler. Sie standen jedoch allesamt nicht besonders lange an der Regierungsspitze: Erhard und Kiesinger amtierten jeweils nur drei Jahre; Brandt brachte es zwischen 1969 und 1974 auf insgesamt viereinhalb Regierungsjahre, wobei sein vorzeitiger Rücktritt anderthalb Jahre nach seinem triumphalen Wahlsieg vom November 1972 einen tiefen Einschnitt in der sozial-liberalen Ära markierte.
Nicht nur die schnellen Kanzlerwechsel waren ein Kennzeichen der 60er Jahre. Hinzu kamen die ungewohnten Koalitionsbildungen von 1966 und 1969, die als Marksteine in einer Schritt für Schritt vollzogenen Öffnung der verkrusteten politischen Führungsstrukturen in der Bundesrepublik charakterisiert werden können: Im Herbst 1966 übernahm die SPD in einer Großen Koalition mit den Unionsparteien erstmals Regierungsverantwortung im Bonner Kabinett und befreite sich von ihrem Image, die geborene Oppositionspartei zu sein; drei Jahre später, im Herbst 1969, folgte nach 20 Jahren die Ablösung der CDU als Kanzler- und Regierungspartei, ein von den Christdemokraten eigentlich für unvorstellbar gehaltener Machtverlust in Bonn.
Diese Verdrängung der Unionsparteien aus der Regierungszentrale hatten Brandt für die SPD und Scheel für die FDP in der Wahlnacht fast im Alleingang erzwungen, als sie sich auf die Bildung einer sozial-liberalen Koalition und damit auf eine lange Zeit undenkbare parlamentarische Bündniskonstellation verständigten. Nach dem Willen dieser beiden Parteiführer sollte die bis dahin bestehende tiefe Kluft zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft mit der neuen Koalition überbrückt werden.
Die Zäsur von 1969 war ein tiefer Einschnitt in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, aber sie war keine Zeitenwende. Weder kam es zu einer "Kulturrevolution" auf deutschem Boden, noch kam es zu einem dramatischen Kontinuitätsbruch in der Geschichte der Bundesrepublik, zu ihrer Neu- oder Umgründung, wie in manchen politikwissenschaftlichen und zeithistorischen Darstellungen auch heute noch zu lesen ist.
Vielmehr bestand die Bonner Republik mit dem Regierungswechsel von 1969 ihre Bewährungsprobe als parlamentarische Demokratie. Deswegen, weil mit dem Positionstausch zwischen CDU/CSU und SPD im Bundestag die in anderen westlichen Demokratien längst üblichen Spielregeln nun auch in Deutschland praktiziert wurden.
Die erste Kabinettsbildung ohne einen christdemokratischen Kanzler und ohne Minister aus den Reihen der CDU/CSU war nicht der dramatische Auftakt zu einer Systemkrise, sondern der entscheidende Schritt zu einer Normalisierung der bundesrepublikanischen Regierungsweise. Auch in Bonn besaß nun die Regel des parteipolitischen Rollenwechsels zwischen Regierung und Opposition Gültigkeit. In der Bevölkerung gewöhnte man sich an unterschiedliche Koalitionskonstellationen. Und eine von der SPD geführte Regierung konnte in der seriösen Presse nicht mehr als Handlanger Moskaus diffamiert werden, wie es zu Zeiten Adenauers durchaus noch üblich gewesen war.
Aber der Regierungswechsel von 1969 war mehr als nur ein Nachweis für das in der Bundesrepublik nun erreichte westliche Demokratieniveau. Blickt man auf die mentalen Dispositionen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, auf Forderungen nach mehr Partizipation und Pluralität, auf das Verlangen nach einer geistigen Um- und Neuorientierung, auf die Mobilisierung des Fortschrittdenkens und des Zukunftsoptimismus, auf die Atmosphäre des Aufbruchs und auf den Willen zur grundlegenden Modernisierung von Staat und Gesellschaft, dann erkennt man zugleich die hoch gespannten Erwartungen, die viele Menschen mit der Bildung der sozial-liberalen Koalition verbanden.
Das Motto "Wir wollen mehr Demokratie wagen", mit dem Brandt seine erste Regierungserklärung als Bundeskanzler im Herbst 1969 auf den Begriff brachte, wirkte wie ein Fanfarenstoß zur politischen Offensive gegen restaurative Erstarrungen und gesellschaftliche Verkrustungen in der Bundesrepublik.
Der mündige Bürger übt sich in Mitverantwortung
In diesem Motto war ein Demokratisierungsanspruch formuliert, der über den begrenzten Rahmen des parlamentarischen Repräsentativsystems hinausreichte und den demokratischen und sozialen Rechtsstaat jenseits des staatlichen Ordnungsgefüges gesellschaftspolitisch verankern wollte.
Es ging um eine grundlegende Erweiterung der Mitspracherechte der Menschen im Berufsleben, um eine Stärkung ihrer Selbstbestimmungsmöglichkeiten in einer pluralistisch organisierten Republik, um die Überwindung von Barrieren zwischen Staat und Zivilgesellschaft, die im deutschen Verfassungsdenken seit dem 19. Jahrhundert immer wieder aufgebaut worden waren. Die Bandbreite des Brandtschen Konzepts, in dem Demokratie nicht nur als ein staatliches Ordnungsprinzip, sondern als ein gesellschaftlicher Gestaltungsauftrag verstanden wurde, zielte auf alle Lebensbereiche.
Diese neue politische Philosophie wollte die demokratische Beteiligung der Betroffenen in Schule und Universität gesetzlich garantieren, setzte auf Mitsprache in der beruflichen Ausbildung und auf Mitbestimmung im Arbeitsleben, forderte die solidarische Bewältigung von Gemeinschaftsaufgaben außerhalb des Berufsalltags in Familie und Freizeit, vertrat eine Ethik der staatsbürgerlichen Mitverantwortung und Mündigkeit in der Demokratie, die nicht auf die periodische Wahrnehmung des Wahlrechts begrenzt bleiben sollte.
Die politische und gesellschaftliche Umsetzung dieser progressiven Philosophie, die letztlich auf eine Fundamentalpolitisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft abzielte, stieß natürlich auf vielfältige verfassungs- und parteipolitisch sowie intellektuell motivierte Widerstände: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nahm bei wichtigen Gesetzesvorhaben seine Vetoposition entschlossen wahr; die parlamentarischen Gegner der Koalition stellten sich dem sozial-liberalen Reformismus auf den Ebenen des föderalen Systems in Bund und Ländern oft erfolgreich entgegen; publizistische und akademische Wortführer aus dem konservativen Lager lehnten es prinzipiell ab, die Unterscheidung zwischen Politischem und Nichtpolitischem völlig einzuebnen und Emanzipationsprozesse bis in das Familienleben hinein voranzutreiben; gleichzeitig stimulierten sie Gegenkräfte gegen den Prozess der Liberalisierung und Demokratisierung.
Entspannung und innenpolitische Entkrampfung
Trotz dieser Widerstände, die dann in der zweiten Hälfte der 70er Jahre immer wirkungsmächtiger wurden, dominierten in der Ära Brandt Demokratisierungselan und Reformbegeisterung. Hierbei reichte der gesellschaftliche Konsens weit über den engeren Kreis der sozialdemokratischen und linksliberalen Vordenker der Regierungskoalition hinaus, wenn es um die Politikziele der außenpolitischen Entspannung und der innenpolitischen Entkrampfung ging.
Die politisch-kulturelle Hegemonie lag während der frühen 70er Jahre eindeutig links von der Mitte, wo ein optimistisch gestimmter Zeitgeist und ein entschlossener Veränderungswille zusammenwirkten, um das sozialdemokratische Wahlversprechen von 1969 zu verwirklichen. Dies hatte gelautet: "Wir schaffen das moderne Deutschland".
Die Wurzeln dieser sozial-liberalen Aufbruchstimmung lassen sich bis zum Beginn der 60er Jahre zurückverfolgen, als überall in der westlichen Welt ein tief greifender Wandel von Wertorientierungen einsetzte. Dessen Auswirkungen waren in der Bundesrepublik bald in allen gesellschaftlichen Subsystemen spürbar. Es kam zu einer Veränderung der Erziehungsstile und der Erziehungsziele, in deren Verlauf Pflicht- und Akzeptanzwerte wie Disziplin, Gehorsam und Fügsamkeit von Selbstentfaltungswerten mit hedonistischen, partizipatorischen und emanzipatorischen Komponenten überlagert und abgelöst wurden; die schrittweise Öffnung der Bildungsinstitutionen für bis dahin benachteiligte Sozialschichten erweiterte nicht nur die Berufsperspektiven breiter Bevölkerungskreise, sie veränderte auch ihr Selbstbewusstsein, ihre Sozialorientierung und ihr Rollenverständnis.
Zugleich lockerten sich tradierte Milieubindungen, die Kirchen und die Arbeiterbewegung wurden gleichzeitig und gleichermaßen von den Tendenzen struktureller und kultureller Modernisierung erfasst. In beiden Weltanschauungslagern, die vorher ihre Mitglieder von der Wiege bis zur Bahre organisieren und sozialisieren wollten, ging die alte Geschlossenheit verloren und wuchs die Bereitschaft, eingefahrene politische Optionen zu überprüfen und bestehende Grenzen zu überschreiten: Die Kirchen öffneten sich für Reformen, und die SPD wandelte sich zur Volkspartei.
Auf dem Feld der Politik kam es in den 60er und frühen 70er Jahren zu einer Reihe von Grundsatzentscheidungen, deren Spektrum von der Liberalisierung des Strafrechts bis zum forcierten wohlfahrtsstaatlichen Ausbau der Bundesrepublik reichte. Hierzu gingen bereits von der Großen Koalition, die auch ein mächtiges Kartell von christlichen und sozialdemokratischen Sozialpolitikern war, wichtige Impulse aus.
Es entwickelte sich ein neues Verständnis von Bildungspolitik, in dessen Mittelpunkt der Begriff der Chancengleichheit rückte; sozialpolitische Reformprojekte griffen über die klassischen Schutzfunktionen bei Krankheit, Unfall, Invalidität, Arbeitslosigkeit und Alter hinaus und dehnten den Kanon der sozialen Prävention auf die Bereiche der Gesundheitspolitik, des Städtebaus, der Energie- und Verkehrspolitik und schließlich auch der Umweltpolitik aus. Die Humanisierung des Arbeitslebens wurde zu einem innovativen Leitbegriff; die quantitative Erweiterung und die qualitative Erneuerung von Ausbildung und Weiterbildung definierte man als eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern.
Der entfesselte Reformeifer stieß jedoch bald an finanzielle Barrieren, wozu auch die wechselseitige Überbietungskonkurrenz der Parteien in den Wahlkämpfen beitrug. So stieg das Sozialbudget allein zwischen 1970 und 1975 um ein Drittel an, das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit wurde bis an die Grenze der finanziellen Tragfähigkeit ausgereizt. Gleichzeitig verschärfte sich die Tonlage der Tarifpartner bei Verteilungskämpfen. So demonstrierten im Sommer 1973 wenige hundert Fluglotsen ihre Erpressungsmacht gegen Urlaubsreisende. Im Winter 1973/74 trieb die ÖTV die Regierung mit der Erzwingung eines zweistelligen Lohnabschlusses in die Enge.
Reformskepsis und die Grenzen des Wachstums
Beide Tarifkonflikte kann man als Vorboten eines Klimawandels deuten, denn sie richteten sich auch gegen die sozial-liberale Koalitionsregierung, die den öffentlichen Zorn über geplatzte Ferienreisen und nicht geleerte Mülltonen zu spüren bekam. Brandts Appelle zur lohnpolitischen Besonnenheit verhallten in den Gewerkschaften ungehört, weil er bei ihnen an Reputation eingebüßt hatte.
Dort erwartete man von den Sozialdemokraten eine eindeutigere Haltung bei der Reform der Mitbestimmung, über die seit der Bildung der Großen Koalition jahrelang beraten worden war, und man verfocht eine expansive Lohnpolitik mit Umverteilungszielen, die sich nicht mehr durch die Leitlinien wirtschaftlicher Sachverständigengremien eindämmen ließen. Zeitgleich endete jedoch der lange Wachstumszyklus der Nachkriegszeit und mit ihm das "goldene Zeitalter" des wirtschaftlichen Aufschwungs. Währungsturbulenzen, die die Weltwirtschaft erschütterten, und eine globale Ölkrise, die im November 1973 zu Sonntagsfahrverboten in der Bundesrepublik führte, waren die Vorboten der kommenden Krisenzeiten.
Aus der rückblickenden Distanz ist nicht zu übersehen, dass am Ende der Ära Brandt die Reformeuphorie in Reformskepsis umschlug. Spätestens seit der Mitte der 70er Jahre wird man von einer verunsicherten Republik sprechen müssen. Der Zukunftsoptimismus flaute ab, die Kluft zwischen den zuvor geweckten Erwartungen und den real noch bestehenden Handlungsspielräumen wurde immer größer.
In der Bundesrepublik begann sich eine Stimmung breit zu machen, deren Leitmotiv "Bewahren statt verändern" lautete. Helmut Schmidt, der Nachfolger Brandts als Kanzler, der die sozial-liberale Koalition dann bis zum Herbst 1982 führte, stellte seine erste Regierungserklärung im Mai 1974 nicht zufällig unter das Motto "Kontinuität und Konzentration". Ihm ging es nicht mehr darum, den Reformprozess voranzutreiben, sondern vor allem darum, das Erreichte finanzpolitisch und ökonomisch abzusichern und sich zugleich denjenigen politischen Kräften entgegenzustellen, die auf eine geistig-moralische Wende rückwärts hinarbeiteten und bei Landtagswahlen immer mehr an Oberwasser gewannen.
So kam das Mitbestimmungsgesetz für die Wirtschaft spät, aber sehr viel später hätte es nicht kommen können. Denn seine Realisierung fiel 1976 bereits in eine Phase, die nicht mehr von Reform- und Aufbruchsstimmung, sondern von Ernüchterung und Reformskepsis geprägt war. Brandts Devise "Mehr Demokratie wagen" war nicht mehr das politische Leitmotiv.