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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Die WASG ist eine populistische Partei'

Ausgabe 09/2005

Deutschland ist doppelt polarisiert: Die Konservativen legen zu, zugleich ist die Linke tief gespalten. Oskar Negt, einer der Protagonisten der 68er-Bewegung, träumt von einem zweiten Frühling der Außerparlamentarischen Opposition.

Das Gespräch führten Margarete Hasel und Kay Meiners.

Herr Professor, zu den Bundestagswahlen tritt eine neue Parteienformation an - die Linkspartei. Das Bündnis von PDS und WASG erzielt in Umfragen rund zehn Prozent der Stimmen. Warum ist es so erfolgreich?
Es gibt so etwas wie einen Angstrohstoff in dieser Gesellschaft, der sich in den letzten Jahren beträchtlich vergrößert hat. Nicht immer stehen echte Existenznöte dahinter, oft genügen schon kleine Einschränkungen. Das Spektrum der Erfahrungen ist weit. Aber die Ängste in Ost und West kumulieren sich in einem hohen Anteil von Protestwählern.

Welche Folgen hat das für die politische Landschaft?
Selbst wenn die Linkspartei nur sechs oder sieben Prozent bekommt - und damit muss man mindestens rechnen -, bedeutet das eine erhebliche Veränderung des Parteienspektrums. Gerhard Schröder, mit dem ich befreundet bin, hält es sogar für möglich, dass nach den Wahlen rechnerisch einzig eine große Koalition übrig bleibt.

Die Regierung der "neuen Mitte" wird zwischen links und rechts aufgerieben.
Die Wahlen werden eine Katastrophe für die rot-grüne Koalition. Sie trat mit dem Ziel eines ökologischen und sozialen Politikwechsels an - ich selbst habe dafür geworben. Die Regierung versuchte, den Staat zunächst mit einzelnen, pragmatischen Schritten zu reformieren - oft unausgegoren, unvorbereitet und ohne eine wirkliche öffentliche Symbolbildung. In der zweiten Legislaturperiode kam sie auf den Gedanken, die Gesellschaftsreform auf allen Ebenen gleichzeitig anzupacken. Beides konnte nicht gut gehen. Die Menschen sind zwar opferbereit, aber nur, wenn es gerecht zugeht und wenn sie verstehen, wohin man will.

Ist die Gründung der WASG ein einmaliges Phänomen?
Keineswegs! Populistische Abspaltungen von linken Parteien hat es in der Geschichte immer wieder gegeben - darunter waren übrigens auch immer solche, die hart am rechten Rand fischten. Denken Sie nur an die Regierung Perón in Argentinien. Was die WASG außerdem charakterisiert, ist, dass es sich um eine typische Wahlpartei handelt, nicht um eine Programmpartei.

Deren Forderungen erinnern in Inhalt und Diktion stark an die Positionen der Gewerkschaften.
Das ist ein Gebräu, in dem Sie ebenso Forderungen der SPD-Linken, der CDU-Sozialausschüsse und der PDS wiederfinden, dazu gibt es in der Partei Altstalinisten und auch ganz junge Leute. Ein ganz erstaunliches Spektrum.

Jetzt relativieren Sie. Die Übereinstimmungen mit Gewerkschaftspositionen sind doch eklatant.
Ich weiß, dass es bei den Gewerkschaften Sympathien für die WASG gibt - bis hinein in die Vorstandsetagen. Doch viele Gewerkschafter schätzen den Traditionszusammenhang, der zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften besteht, nach wie vor sehr hoch ein. Sie sind nicht bereit, ihn leichtfertig zu opfern. Sobald die SPD in die Opposition gerät, wird sie sich vermutlich wieder stärker den Gewerkschaftspositionen annähern.

Wünschen Sie als  SPD-Mitglied sich die Partei zurück in die Opposition?
Ich sehne mich nicht nach Opposition. Aber viele unserer Probleme haben mit strukturellen Veränderungen der Arbeitswelt zu tun. Eine bloße Arbeitsmarktreform löst die Widersprüche unserer Gesellschaft nicht. Ich sehe großes Unbehagen in der Gesellschaft darüber, dass alles über Deregulierungen, Privatisierungen und über den Markt gelöst werden soll. Franz Müntefering hat mit seinem Ausspruch von den Heuschrecken dafür das Symbol gesetzt. Antikapitalistische Gefühle sind in dieser Gesellschaft sehr verbreitet, aber sie werden von den Gewerkschaften nicht wirklich im Sinne von Widerstand mobilisiert.

Dieser Aufgabe hat sich jetzt die Linkspartei verschrieben.
Ich finde es sehr anmaßend, dass sich eine Partei Linkspartei nennt. Das bedeutet, dass linke Positionen ausschließlich in Parteien zum Tragen kommen. Leute, die sich bei Greenpeace, bei Attac oder Amnesty international engagieren, sind für mich die authentischeren Linken. Die Unterscheidung zwischen links und rechts hat offenbar an Trennschärfe verloren. Viele, die mich in den 70er Jahren links überholt haben, finde ich heute bei der FAZ wieder. Ich will gar nicht das Beispiel Horst Mahler bringen. Oskar Lafontaine könnte sich in eine ähnliche Richtung entwickeln. Wenn er von "Fremdarbeitern" spricht, ist das kein bloßer Versprecher.

Verscherzen Sie es sich durch solche Äußerungen nicht mit alten Freunden?
Natürlich wollen die alten Freunde - ich möchte keine Namen nennen - mich in die WASG hineinbringen. Sie laden mich zu Diskussionen ein. Aber ich halte die Idee, Entscheidendes würde sich ändern, wenn 40 PDS- oder WASG-Leute im Bundestag sitzen, einfach für eine Täuschung. Diese Leute erwecken den Anschein, als ob sie etwas bewirken könnten - und die Bürger werden noch einmal enttäuscht. So bereitet man den Boden für die Rechten. Am Ende haben das Parlament und die Gerichte überhaupt keine Bedeutung mehr, es herrscht der permanente Notstand.

Haben Sie vielleicht selbst den Glauben ans Parlament verloren?
Ich erwarte derzeit tatsächlich mehr von außerparlamentarischen Bewegungen. Das bloße Gesetzgebungsverfahren ist nicht das Zentrum der Demokratie. Zwar ist das Parlament unverzichtbar, aber ohne außerparlamentarische Kräfte, die bestimmte Positionen im Parlament legitimieren und unterstützen, ist es ein Ohnmachtsinstrument. Die Eigenmacht und Eigengewalt der Apparate ist sehr groß.

Welche Rolle weisen die den Gewerkschaften zu?
Die Gewerkschaften sind immer auch Verteidiger von Besitzständen. Das ist ganz natürlich. Das Problem ist aber ein anderes. Wenn sie nur in der Verteidigungshaltung bleiben, wenn sie ihr kulturelles und politisches Mandat nicht ausweiten, wird ihr Spielraum mit der Zeit immer enger werden. Sie müssen aus der Defensive heraus - zum Beispiel könnten sie zum Kern großer Streikbewegungen werden wie in Frankreich. Wenn sie kein öffentliches Terrain zurückgewinnen, können sie am Ende nicht einmal mehr Tarifverhandlungen durchstehen. Wo ist die gewerkschaftliche Kulturpolitik? Was machen die Gewerkschaften aus ihren Mandaten in den Rundfunkräten? Solche Fragen sind viel wichtiger als ein paar Abgeordnete. Eine Phase des Nachdenkens und der Reflexion ist unverzichtbar.

Bei einigen Linken gelten Sie damit als Zauderer. Im Internet und auf Flugblättern der WASG bezeichnet man Sie als "Hofintellektuellen" der Regierung Schröder.
Diese Leute können nicht verstehen, dass man einander freundschaftlich verbunden sein kann, ohne politisch immer übereinzustimmen. Sie wollen Eindeutigkeit. Dass es mehrere Gleise gibt, halten sie für unehrenhaft. Gerhard Schröder kenne ich seit 30 Jahren, und wenn wir Geburtstag haben, besuchen wir uns. Aber ich kann dem Schröder auch mal sagen: Die ganzen Hartz-Gesetze sind Quatsch.

Sie sind kein Freund der Hartz-Reformen?
Der Versuch, den Arbeitsmarkt über die Rationalisierung der Vermittlung zu sanieren, konnte nicht gelingen. Oder nehmen Sie die Ich-AG: eine furchtbare Verschandelung der Sprache. Ebenso haben die Ein-Euro-Jobs, die den Anschein erweckten, man müsse sich nur in der Nähe von Arbeit aufhalten, um wieder integriert zu werden, wenig bewirkt. Die Regierung hätte mehr tun müssen, sie hätte zum Beispiel auch die Unternehmensformen reformieren oder diejenigen Unternehmen steuerlich begünstigen müssen, die in neue Arbeitsplätze investieren.

Das könnte so ähnlich auch im WASG-Programm stehen. Was unterscheidet Sie wirklich von dieser Partei, außer dass Ihnen das Fischen am rechten Rand missfällt?
Programmatisch nicht viel, von den Grundthemen und Grundsätzen her. Die Frage ist aber doch, was davon durchsetzbar ist. Schließlich plädiert auch die CDU in ihrem Programm für mehr soziale Gerechtigkeit. Die oppositionellen Kräfte müssen zunächst wieder eine hegemoniale Position in der Öffentlichkeit erringen. Die Themen, die heute öffentlich diskutiert werden, sind alle von der Bild-Zeitung vorgegeben.

Kritiker halten die WASG-Forderungen für unbezahlbar.
Schon die jetzige Koalition ist an den gesellschaftlichen Reichtum nicht herangekommen. Eine Partei, die nicht mehrheitsfähig ist, wird nichts bewirken. Das ist eine Folge der derzeitigen Machtverhältnisse.

Im Jahr 1984 erschien ein Buch des Soziologen Burkart Lutz: "Der kurze Traum immerwährender Prosperität". Darin sagte er eine lange Stagnationsphase voraus.
Ich kenne Burkart Lutz und auch diesen Text gut. Heute wird mit immer weniger Arbeit immer mehr produziert. Viele Leute haben trotzdem das Gefühl, dass die Gesellschaft ärmer wird. Die alte Formel Helmut Schmidts, wonach die Gewinne von heute die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen sind, stimmt nicht mehr. Die Gewinne von heute sind die Arbeitslosen von morgen. Dieses Strukturproblem kann man nicht mit technischen Lösungen bewältigen. Die Gründung einer Partei im Eilverfahren ist da eine Ablenkung, die ich für gefährlich halte.

Wie können die Strukturprobleme gelöst werden?
Wir brauchen wieder eine politische Vernunft, die der Betriebswirtschaft ihre begrenzte Rolle innerhalb der Gesellschaft zuweist. Wir müssen Missstände moralisch skandalisieren. Für das Buch "Briefe an den Reichtum", herausgeben von Carl Amery, habe ich einen Brief an Heinrich von Pierer geschrieben - damals der Vorstandsvorsitzende von Siemens. In einer der letzten Konzernbilanzen war nachzulesen, dass die Manager wegen der guten Gewinne insgesamt 28 Millionen Euro als Weihnachtsgratifikation erhielten. Drei Wochen darauf wurde erklärt, man müsse Betriebsteile von Deutschland nach Polen verlagern - aus Kostengründen, wie es hieß. Hier eignen sich einige wenige den kollektiven Reichtum an.

Wie groß sind die Spielräume von Politik überhaupt noch?
Gerhard Schröder hat mir oft gesagt, ein gutes Verhältnis zu den Unternehmern sei wichtig. Jetzt sagt er, das sei eine völlig falsche Strategie gewesen. Schröder schonte die Unternehmer, aber sie erfüllten ihre Versprechen nicht. Sie respektieren Macht, aber nicht Ohnmacht. Trotzdem hat jede Regierung die Möglichkeit, die sozialen Bedingungen zu verbessern oder zu verschlechtern. Wenn man sich einreden lässt, dass die Mitbestimmung oder der Kündigungsschutz vielleicht doch eine Mitschuld an der Krise tragen, dann halte ich das für einen Irrtum. Wenn die CDU und die FDP an die Regierung kommen, werden sie hier aber Hand anlegen.

Was ist Ihre Hauptkritik am gegenwärtigen Kapitalismus?
Der Kapitalismus hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einen Legitimationsschub bekommen, den so niemand erwartet hat. Die Zähmung des Marktes innerhalb einer sozialen Marktwirtschaft wurde zuvor unterstützt durch den Wettlauf der Systeme. Jetzt funktioniert das Kapital zum ersten Mal so, wie Marx es einst beschrieben hat - auf seiner eigenen Grundlage, mit dem Markt als einzigem Regulator. Die gegenwärtige Entbettung des Marktes jedoch nährt die Illusion, dass der Markt alle Probleme lösen kann. Und das ist ein großer Trugschluss.

Wollen Sie einen Systemwechsel?
Systemüberwindend ist im Augenblick gar nichts. Markt und Kapital sind wichtige Wertschöpfungsfelder - allerdings bin ich für eine gebundene Form. Keine Politik ist alternativlos. Sonst wäre sie ein Naturgesetz. Politik besteht gerade darin, Alternativen aufzuzeigen.

 

Zur Person

Oskar Negt, geboren am 1. August 1934 in Kapkeim im früheren Ostpreußen, lebt in einer Altbauwohnung im Zentrum Hannovers. Im Bücherregal stehen die Werke von Marx und Engels. Er promovierte bei Theodor W. Adorno und arbeitete danach als Assistent von Jürgen Habermas. Im Jahr 1970 wurde er auf den Lehrstuhl für Soziologie der Universität Hannover berufen, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002 innehatte. Er wurde u.a. durch seine Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Alexander Kluge und als Mitgründer der Glocksee-Schule bekannt, einer der wenigen Alternativschulen in der Bundesrepublik. Zuletzt erschien seine Streitschrift "Wozu noch Gewerkschaften?"

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