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Magazin Mitbestimmung

Berufsvorbereitung: "Ihr habt Großes geleistet"

Ausgabe 02/2016

Es ist ein echtes Modellprojekt: In München besuchen junge Menschen aus Krisenländern und gescheiterten Staaten, die Flucht, Krieg und Armut hinter sich haben, die Berufsschule. Ein Ortstermin. Von Jeannette Goddar

Ein Zeugnistag ist immer etwas Besonderes; hier, im Münchner Osten, ist er etwas ganz Besonderes. Ein deutsches Dokument in den Händen zu halten, mit dem sie sich bewerben und eines Tages einen Beruf ergreifen können, davon hätten diese Schüler bis vor nicht allzu langer Zeit kaum zu träumen gewagt. Kein Wunder, dass die allermeisten das Zeugnis in ihrem besten Gewand entgegennehmen, was auch immer das ist: der schwarze Anzug, die unverwaschenste Jeans, der Salwar Kamiz, also die afghanisch-persische Kombination aus luftiger Hose und weitem Hemd, ein afrikanisches Kleid.

Schulleiter Eric Fincks, ansonsten eher norddeutsch-zurückhaltend, kann den Stolz auf das Erreichte nur unterstützen: „Ihr habt Großes geleistet“, ruft er den rund 200 Schülerinnen und Schülern zu – in einer Zeremonie, bei der jedes Zeugnis persönlich überreicht wird: an Senait und Mohammed, Ayse und James, Martha und Boni und all die anderen. Ein Extralob bekommt der 19-jährige Lingala* aus dem Kongo, der es geschafft hat, mit einem Notendurchschnitt von 1,0 und ohne einen Fehltag seinen Mittelschulabschluss zu bekommen. Die Motivation steht ihm ins Gesicht geschrieben. „Den nächsten Schulabschluss schaffe ich auch noch“, sagt er, „dies ist nicht meine letzte Schule in Deutschland.“ 

Viele dieser Schüler hatten sich allein auf den Weg gemacht. Mit einem Minimum an Habseligkeiten flüchteten sie aus Krisenländern, gescheiterten Staaten, Diktaturen. Wenn sie Glück haben, skypen sie abends mit ihren Eltern. Wenn sie Pech haben, sind die nicht erreichbar oder längst tot. Die Schüler stammen aus Afghanistan, Somalia, aus dem Irak, aus Syrien oder Eritrea, sind mal 16 und mal 25 Jahre alt, haben einen höheren Schulabschluss oder vor ihrer Ankunft in Deutschland noch nie eine Schule von innen gesehen. Was diese Schüler an Voraussetzungen mitbringen, das könnte nicht unterschiedlicher sein – und ist eine Herausforderung auch für die Pädagogik.

Ausbildungsreife für junge Flüchtlinge 

Schon 2013, als das Magazin Mitbestimmung hier erstmals zu Besuch kam, war die Außenstelle der Berufsschule zur Berufsvorbereitung in der Münchner Balanstraße etwas Besonderes: ein Ort, an dem junge Flüchtlinge binnen zwei Jahren so weit gebracht werden sollen, dass sie es in eine Ausbildung oder auf eine weiterführende Schule schaffen. Dazu gehören Kenntnisse in Deutsch und in Mathe, Sozialkunde und Ethik, aber auch in Wahlfächern von Holz- und Metalltechnik bis Textilhandwerk, die erste berufskompatible Fertigkeiten vermitteln. 

Dabei soll die Schule auch Modell sein: für die Stadt München, in deren Auftrag der Sozialwissenschaftler und Stiftungs-Vertrauensdozent Philip Anderson das berufliche Bildungsprojekt wissenschaftlich begleitet. Aber auch für Bayern, das 2011 als erstes Bundesland Flüchtlingen bis zum Alter von 21 Jahren (in Ausnahmefällen bis 25) den Weg in die Berufsvorbereitung eröffnete. Von Miesbach bis Deggendorf und von Bamberg bis Oberstdorf entstanden seither Berufsintegrationsklassen für junge Geflüchtete an Berufsschulen. 21 Klassen gab es 2013, derzeit sind es 440. Bis Ende dieses Jahres, gab Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) im Herbst 2015 bekannt, sollen es dreimal so viele Klassen sein. Bayern ist nämlich nicht nur jenes Land, das die meisten Menschen, aus Österreich oder Italien kommend, als Erstes betreten. Es hat auch die meisten unbegleiteten Minderjährigen im Land – diese wurden bis vor einigen Monaten, anders als Erwachsene und Familien, nicht auf die Bundesländer verteilt. Ende 2015 waren 13 500 von rund 120 000 registrierten Flüchtlingen und Asylbewerbern in Bayern allein reisende Kinder und Jugendliche.

Ein echtes Experiment

Auch die Berufsschule für die jungen Geflüchteten in der Balanstraße ist expandiert – von vier Klassen auf 15 binnen fünf Jahren. Nach Ansicht der Stadt könnten es noch mehr sein. Aber wie soll das gehen? Allein im September kamen acht neue Lehrerkollegen; die müssen eingeführt, begleitet, integriert werden, erzählt Schulleiter Fincks. „Wir sind ein lernendes Modell und müssen es bleiben.“ Als man 2011 begann, gab es nicht viel, worauf sich die Kollegen stützen konnten, die sich auf das Experiment einließen: keinen Lehrplan, kaum einschlägige Erfahrungen. „Wir wurden ins kalte Wasser geworfen“, kommentiert Lena Merl, die aus einem bayerischen Gymnasium mit ganz anderer Klientel kam. Immer wieder setzten sich Schulleitung, Lehrkräfte und Fachlehrer seither zusammen, um ihre Lehrpläne gleichsam selbst zu schreiben. Für Deutsch und Mathe, Sozialkunde und Metalltechnik trugen sie auf Basis dessen, was sie in den Klassen sahen und erlebten, zusammen, was ein Schüler wissen und können sollte. So entstanden „Orientierungspläne“. Eine Pionierarbeit, die ihresgleichen sucht.

Mehrere Hundert Schüler sind mit Unterstützung der Münchner Schule zur Berufsvorbereitung seit 2012 so weit gekommen, dass sie auf andere Schulen oder in ein Praktikum oder sogar in eine Ausbildung wechseln konnten. Mit nichts verlässt die Schule kaum einer. „Den einfachen Mittelschulabschluss schafft fast jeder, der sich zwei Jahre lang auf die Schule einlässt, regelmäßig am Unterricht teilnimmt und sich anstrengt“, sagt Schulleiter Fincks. Lehrerin Merl hat hohen Respekt vor „dem Lernwillen und der Disziplin und dass diese Jugendlichen mit diesen Geschichten fast alle fast immer pünktlich in der Schule sitzen – das ist wirklich beeindruckend!“ Laut einer Studie des Münchner Vereins Refugio leidet jeder zweite unbegleitete minderjährige Geflüchtete unter Ängsten, Depressionen, Lernstörungen oder Panikattacken. Gründe dafür gibt es zahlreich: die Verfolgung zu Hause, der Krieg, dem sie entkommen sind, die Sorge um die Eltern, Misshandlungen, denen sie auf der oft jahrelangen Flucht ausgesetzt waren. In diesen Fällen können auch die berufsvorbereitenden Lehrer nicht therapeutisch helfen. Etwas Entscheidendes tun können sie aber doch: professionelle Hilfe holen. 

„Mit Unterricht ist es keinesfalls getan“, sagt Philip Anderson, der Sozialwissenschaftler von der Hochschule Regensburg. „Um erfolgreich zu sein, benötigen wir die Kooperation aller Beteiligten: Kooperation von Schule und Schulsozialarbeit, Kooperation mit den Wohnprojekten, den Agenturen für Arbeit und den Betrieben.“ 

Mehr und mehr Ausbildungsbereitschaft 

Ja, den Betrieben. Denn letztlich steht und fällt das Modell damit, dass die Jugendlichen auch eine Chance auf eine Ausbildung bekommen. Das klappt heute besser als vor zwei Jahren, sagt Lehrerin Merl, die 2013 noch von mühsamer Überzeugungsarbeit berichtete: „Ob im Einzelhandel, in der Elektronikbranche oder in den Arztpraxen: In aller Regel finden sich Arbeitgeber, die diesen Jugendlichen eine Chance geben.“ 

Häufig machen den Schritt eher kleine Betriebe, zu denen die Schule über die Jahre Kontakte aufgebaut hat und die ihre Azubis oft über Praktika kennenlernen. Darunter seien aber auch Großunternehmen wie die Deutsche Bahn, die jüngst ein Ausbildungsprogramm für junge Flüchtlinge auflegte und Schüler von der Balanstraße aufnahm. Die Frage, ob junge Flüchtlinge in Bildung und Ausbildung gehören, stellt sich in Deutschland nicht mehr. Diskutiert wird nur noch das Wie, bestätigt Sozialforscher Anderson. 

Auch darauf gibt es neue Antworten – jedenfalls in Bayern, wo der Fachkräftemangel nicht Schreckgespenst, sondern Realität ist. 3,5 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote; in Oberbayern, wozu München gehört, sind es nur 3,2 Prozent. Viele Branchen, die Gastronomie zum Beispiel, suchen seit Jahren händeringend Auszubildende. Und das Handwerk: 2015 meldete die Branche nicht zum ersten Mal einen gravierenden Nachwuchsmangel. 4000 Lehrstellen waren nach Beginn des Ausbildungsjahres noch unbesetzt. Auch deshalb hat die Handwerkskammer für München und Oberbayern die Stelle „Ausbildungsakquisiteur für junge Flüchtlinge“ geschaffen. Christoph Karmann heißt der und versteht sich als ein Vermittler zwischen Azubis und Arbeitgebern und als ein Berater beider Seiten, von Betrieben wie von Schülern. Auch die Schüler in der Balanstraße unterstützt er in dem Prozess der Berufsfindung – der schließlich schon deutsche Jugendliche in tiefe Ratlosigkeit stürzen kann. Allein im Handwerk gibt es über 130 Ausbildungsberufe, da benötigt jeder Orientierung. Für Jugendliche, die erst seit zwei Jahren im Land sind, gilt das erst recht. Auch alternative Berufswünsche gelte es zuweilen zu suchen, wenn beispielsweise einer „unbedingt Kfz-Mechatroniker werden will und das Deutsch dafür einfach nicht reicht“, sagt Ausbildungsakquisiteur Karmann. 

Auf der anderen Seite informiert er die Handwerksbetriebe: Wer sind die Jugendlichen? Was ist rechtlich zu beachten? Was können sie, und wobei brauchen sie weiterhin Unterstützung? „Das sind keine normalen Azubis“, sagt Karmann, „sie brauchen mehr Hilfe als andere. Und sie werden länger als zwei Jahre Unterstützung in der deutschen Sprache benötigen. Aber wenn man ihnen dabei hilft, wird sich das lohnen.“ Schulleiter Eric Fincks sagt: „Sie bleiben Jugendliche, die häufig niemanden haben, der ihnen zur Seite steht, wenn sie schlechte Nachrichten von daheim bekommen. Das muss jemand übernehmen – sei es der Meister oder der Ausbildungsbeauftragte. Kümmern muss man sich.“ 

Weil das so ist, hat die Schule Hilfe von außen in dieses „Kümmern“ miteinbezogen: Spezielle Fachkräfte vermitteln Fachbegriffe in den angestrebten Berufen; Studierende der Münchner Unis spielen mit den Geflüchteten Fußball und begleiten sie zu Behördengängen. Die Beziehung zu den studierenden Mentoren – alles angehende Lehrer – bleibt im Idealfall in der Ausbildung bestehen. „Mit der direkten bayerischen Art im Betrieb zurechtzukommen ist nicht ohne“, sagt Lena Merl, „da ist es gut, wenn jemand zur Seite steht.“ 

Auch der DGB fordert in seinem Positionspapier „Teilhabechancen eröffnen“ mehr Begleitung und Beratung insbesondere junger Geflüchteter. Dazu gehörten „erfahrene und qualifizierte Fachkräfte“, die nicht nur als „Kümmerer, Unterstützer und Lotsen“ im Umgang mit deutschen Ämtern und Gesetzen wichtig seien, sondern auch, um den Kontakt zu deutschen Lebenswelten herzustellen. Bund, Länder wie Kommunen seien gehalten, die Zusammenarbeit aufzubauen und bei Bedarf finanzielle Mittel bereitzustellen. Ein Blick nach München könnte sich dabei lohnen.

Mehr Informationen

Der DGB fordert in seinem Positionspapier „Teilhabechancen eröffnen“ mehr Begleitung und Beratung insbesondere junger Geflüchteter durch qualifizierte Fachkräfte. Und will für sie bessere Zugänge schaffen in Bildung und Ausbildung. 

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