: Gestärkte Betriebsräte
Mit einer Wahlbeteiligung von über 80 Prozent haben Deutschlands Beschäftigte ihre Interessenvertreter bei den Betriebsratswahlen legitimiert. Doch sie haben den Gewerkschaften auch Hausaufgaben aufgegeben.
Von Wolfram Wassermann und Wolfgang Rudolph
Die Autoren sind wissenschaftliche Mitarbeiter im Büro für Sozialforschung Kassel. Im von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt "Trendreport Betriebsratswahlen 2006" analysierten sie die diesjährigen Wahlergebnisse.
wolfram.wassermann@bfs-kassel.de
Die Betriebsratswahlen 2006 fanden vor einem außergewöhnlichen politischen Hintergrund statt. Im Bundestagswahlkampf 2005 hatten CDU und FDP angekündigt, nach ihrem Wahlsieg die Mitbestimmung der Arbeitnehmer einzuschränken, weil sie sich in ihrer heutigen Form als wirtschaftsfeindlich erwiesen hätte. Wir erinnern uns: Die Zahl der Betriebsratsmandate sollte gesenkt werden, Freistellungen sollte es erst in Betrieben ab 500 Beschäftigten geben, durch zusätzliche Vorwahlen oder Wahlbeteiligungsquoren sollte die Bildung neuer Betriebsräte erschwert werden.
Das 2001 eingeführte vereinfachte Wahlverfahren sollte in Kleinbetrieben nicht mehr obligatorisch sein. Auch von insbesondere für den Mittelstand ruinösen Kosten der Betriebsratsarbeit war die Rede gewesen. Liberale Stimmen hatten sich zu dem Vorschlag verstiegen, die Belegschaften sollten künftig für die Kosten der Betriebsratsarbeit selbst aufkommen. Das Ganze lief auf eine Revision der Betriebsverfassungsreform von 2001 hinaus. Sowohl die Mitbestimmung der Betriebsräte als auch die Unternehmensmitbestimmung sollten in diesem Sinne "modernisiert" werden: schlanker, billiger, zahnloser!
Bei den Betriebsratswahlen haben sich die Arbeitnehmer offenbar an dieses Szenario erinnert. Ihr Votum für die Mitbestimmung ist nicht misszuverstehen. Die wichtigsten Ergebnisse der diesjährigen Betriebsratswahlen:
Die Wahlbeteiligung der Arbeitnehmer an den Wahlen, ein Indikator für die Wertschätzung der Betriebsräte, ist seit der Reform des Betriebsverfassungsgesetz 2001 zum zweiten Mal in Folge gestiegen. Wichtige Innovationen aus der Reform 2001 wurden erneut bestätigt. Dies betrifft die verbesserte Repräsentanz der Frauen in den Betriebsräten, eine weitere Verbreitung des vereinfachten Wahlverfahrens sowie die Inanspruchnahme neuer Freistellungsrechte.
Die gewerkschaftlich engagierten Betriebsratsmitglieder konnten trotz fortlaufender Strukturveränderungen in Belegschaften und Unternehmen ihre konkurrenzlose Spitzenstellung in den Betriebsräten erhalten. Mit ihren Mehrheiten werden sie auch die Arbeit der neuen Betriebsräte prägen.
Das Kasseler Büro für Sozialforschung legt im Dezember im Rahmen seines dritten Trendreports erste detaillierte Ergebnisse vor. Die Datengrundlage bilden Wahlmeldungen aus rund 20 000 Betrieben im Organisationsbereich von vier Einzelgewerkschaften, der IG Metall, ver.di, IG BAU und IG BCE. Sie umfasst etwa die Hälfte der von den Gewerkschaften insgesamt registrierten Betriebsratsgremien. Das ist eine stabile Datengrundlage, die verallgemeinernde Bewertungen erlaubt. Doch was die Repräsentativität der Ergebnisse betrifft, ist Zurückhaltung angebracht, denn niemand kennt die Gesamtzahl aller Betriebsräte.
Überzeugende Bestätigung der neuen Betriebsverfassung
Seit Mitte der 80er Jahre war insgesamt eine kontinuierlich rückläufige Wahlbeteiligung zu verzeichnen, die ihren Tiefpunkt bei den Wahlen 1998 mit nur rund 75 Prozent erreichte. Damals fehlten den Betriebsräten die nötigen Entwicklungsimpulse zur Anpassung an die veränderten Unternehmensstrukturen. Dies änderte sich mit der Reform der Betriebsverfassung von 2001, die den Betriebsräten eine neue Arbeitsgrundlage bot.
Die Wahlbeteiligung stieg bei den Wahlen 2002 wieder auf 80,2 Prozent an. Dieser Trend stabilisierte sich nun 2006 bei 81 Prozent. In neu gegründeten Betriebsräten betrug sie sogar über 86 Prozent, was als Ausdruck besonders hoher Erwartungen dieser Belegschaften an die Mitbestimmung gewertet werden kann. Eine derart hohe Wahlbeteiligung ist eine solide Legitimationsgrundlage für die Betriebsräte.
Auch das 2001 eingeführte vereinfachte Wahlverfahren gewinnt weiter an Akzeptanz. Für Betriebe bis 50 Beschäftigte ist dieses Verfahren obligatorisch, bei Betrieben zwischen 51 und 100 Beschäftigten bedarf es der Zustimmung des Arbeitgebers. Bei den Wahlen 2002 erfolgte dies in fast jedem zweiten Betrieb dieser Größenordnung, 2006 machten bereits über 60 Prozent der Betriebe davon Gebrauch. Offensichtlich findet das vereinfachte Verfahren auch im Mittelstand eine wachsende Akzeptanz. Verbandspropaganda, derzufolge durch das neue "Hauruck-Verfahren", so BDA-Chef Dieter Hundt, radikale Minderheiten an die Macht kämen, werden damit Lügen gestraft.
Zu den besonders heftig umstrittenen Neuerungen der Reform 2001 zählte die Möglichkeit der Freistellung eines Betriebsratsmitgliedes in Betrieben ab 200 Arbeitnehmern. Die Verbände hatten argumentiert, durch die entstehenden Kosten würden ganze mittelständische Branchen in den wirtschaftlichen Ruin getrieben.
Die Ergebnisse aus den Wahlen zeigen ein differenziertes Bild: 2002 hatten die Betriebsräte in rund 72 Prozent der untersuchten Betriebe zwischen 200 und 300 Beschäftigten ihr neues Freistellungsrecht beansprucht. Nach den Wahlen 2006 stieg der Anteil auf knapp 77 Prozent. Die absolute Zahl von Freistellungen hingegen ging leicht zurück - im Zuge von Belegschaftsabbau wurden in etlichen Betrieben die für die Freistellung maßgeblichen Schwellenwerte unterschritten.
Seit 2001 gilt auch die so genannte Geschlechterquote, wonach Frauen und Männer entsprechend ihren Anteilen an der Belegschaft in den Betriebsräten vertreten sein müssen. Bei den Wahlen 2002 kam es zu einer Zunahme der weiblichen Betriebsratsmitglieder von rund 24 (1998) auf 25,4 Prozent. 2006 sind es knapp 26 Prozent in den untersuchten Betrieben. Diese Entwicklung ist von Branche zu Branche sehr verschieden. In manchen Dienstleistungsbereichen sind Frauen im Betriebsrat in der Mehrheit. Der Anteil der Betriebe, in denen die Geschlechterquote erfüllt wird, ist von 70,5 auf 72,5 Prozent gestiegen. Damit ist die Frauenrepräsentanz Teil einer neuen Normalität in der Betriebsratsarbeit.
Betriebsräte und Gewerkschaften
Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Betriebsräte gilt als Indikator für die Bindung zwischen betrieblicher Interessenvertretung und Gewerkschaften. Traditionell bilden Mitglieder der DGB-Gewerkschaften eine konkurrenzlos starke Mehrheit in den Betriebsräten. Aber gleichzeitig ist seit Jahren auch ein allmählicher Schwund dieser Mehrheitsposition - wenn auch auf hohem Niveau - zu beobachten. Hintergrund ist der Strukturwandel in den Belegschaften: Das Angestelltenmilieu, gegenüber gewerkschaftlichen Traditionen traditionell distanziert, gewinnt an Bedeutung. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil gewerkschaftlich nicht gebundener Kandidaten kontinuierlich gestiegen.
Auch bei den Wahlen 2006 ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Betriebsratsmitglieder erneut leicht gesunken - auf 73 Prozent gegenüber 75,7 Prozent bei den Wahlen vor vier Jahren. Der Anteil der Unorganisierten stieg im gleichen Zeitraum von 21,2 auf 23,6 Prozent. Über die Zusammensetzung dieser wachsenden Gruppe sagen die Zählungen der Gewerkschaften nichts aus.
Es ist jedoch höchst strittig, ob diese Zahlen tatsächlich auch einen nachlassenden gewerkschaftlichen Einfluss auf die Betriebsratsarbeit signalisieren. Gerade aus Frauen- und Angestelltengruppen, die traditionell eher in Distanz zum überwiegend durch männliche Facharbeiter geprägten Gewerkschaftsmilieu stehen, kommt mit jeder Wahl gewissermaßen frisches Blut in die Betriebsräte.
Die gewerkschaftlichen Listen öffnen sich gegenüber diesen neuen Kandidaten, und vielfach gelingt es, sie im Laufe der Wahlperiode auch in die Gewerkschaft zu holen. Das Organisationsniveau der Betriebsräte ist stets zu Beginn einer Wahlperiode niedriger als gegen Ende. Bis zu fünf Prozent der Betriebsratsmitglieder dürften auch in dieser Wahlperiode zusätzlich in die Gewerkschaft eintreten. So könnte der Anteil gewerkschaftlich nicht organisierter Mandatsträger bis 2010 wieder unter 20 Prozent fallen, der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Betriebsräte entsprechend ansteigen.
"Unabhängige" formieren sich
Für Verwirrung sorgte Anfang Oktober eine Veröffentlichung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Unter der Überschrift "DGB weiter im Abwärtstrend" wurden Zahlen präsentiert, denen zufolge nur noch weniger als die Hälfte der Mandatsträger Mitglied einer DGB-Gewerkschaft seien. Die Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsräte (AUB) erklärte mit Bezug auf diese Zahlen, sie hätte bei den Wahlen 2006 zehn Prozent aller Betriebsratsmandate erhalten.
Was hat es mit diesen Zahlen auf sich? Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) veröffentlicht bereits seit den 70er Jahren eigene Auswertungen zu den Betriebsratswahlen. Die Datengrundlage dieser Wahlanalyse ist sehr viel schmaler als der Gewerkschaften. Mit rund 4500 befragten Unternehmen umfasste sie 2002 nur etwas mehr als ein Zehntel der von den Gewerkschaften registrierten Betriebsräte.
Zudem hat sich seit 2002 der Kreis der befragten Betriebe stark verändert. Während 2002 noch über 60 Prozent aus der Industrie kamen, waren es diesmal nur noch rund 40 Prozent. Der Anteil der Dienstleistungsbetriebe stieg gleichzeitig auf fast 60 Prozent. So kommt man zwangsläufig auch zu anderen Zahlen bezüglich der gewerkschaftlichen Präsenz in den Betrieben. Eine allgemeine Entwicklungstendenz kann man auf einer solch unsicheren Datenbasis jedoch nicht ableiten.
Vor allem aber richtet sich die IW-Befragung an die Arbeitgeber. Dies hat zur Folge, dass die Angaben über die Zusammensetzung der Betriebsräte oft ungenau sind. Gezählt werden hier beispielsweise nicht die gewerkschaftlich organisierten Betriebsratsmitglieder, sondern die Bewerber auf gewerkschaftlichen bzw. nicht-gewerkschaftlichen Listen. Dabei bleibt unbeachtet, dass Gewerkschafter oft auch auf so genannten offenen Listen ohne Gewerkschaftslabel kandidieren.
Diese Unsicherheit räumen die IW-Autoren auch ein und vermuten, der Anteil der Gewerkschafter in den Betriebsräten könne tatsächlich höher liegen, als bei ihnen ausgewiesen. In den vom IW untersuchten Betrieben gelten heute rund 48 Prozent der Mandatsträger als gewerkschaftsunabhängig. In den vom DGB registrierten Betrieben ist deren Anteil halb so hoch. Die Erklärung für die Differenz dürfte bei der speziellen Betriebsauswahl und der Untersuchungsmethode des IW zu suchen sein. Gemeinsam ist beiden Auswertungen, dass der Anteil der so genannten Unorganisierten in den Betriebsräten seit Jahren von Wahl zu Wahl stetig ansteigt.
Besonderes Augenmerk richtet das IW auf die Wahlerfolge der AUB. Dabei handelt es sich um eine Organisation, die bei den Wahlen unabhängige oder gewerkschaftsgegnerische Kandidaten unterstützt. Die AUB ist mittlerweile gewissermaßen die "Gewerkschaft der Gewerkschaftsgegner" mit eigener Mitgliedschaft, Betriebsgruppenorganisation und Beratungsservice.
Bereits seit Jahren erzielen AUB-Kandidaten im Angestelltenbereich großer Elektrofirmen Erfolge. Einzelne Siemens-Standorte zählen zu ihren Hochburgen. Aber die Erfolge der AUB sind heute nicht mehr auf einzelne "Inseln" begrenzt. Vor allem in Betrieben des Einzelhandels haben sie 2006 Erfolge erzielt. In den vom IW ausgezählten Betriebsräten gehört heute jedes fünfte so genannte unabhängige Mitglied der AUB an.
Auch wenn Zweifel gegenüber der Behauptung von AUB angebracht sind, mittlerweile 19 000 Betriebsratsmitglieder zu organisieren, entsteht hier möglicherweise eine ernst zu nehmende Konkurrenz zu den DGB-Betriebsräten. Es handelt sich bei den "Unorganisierten" eben häufig nicht mehr um ein paar Abweichler, wie es sie auf lokaler Ebene immer gegeben hat. Ist es der AUB gelungen, in den Angestelltenmilieus die Lücke zu besetzen, die die DAG hinterlassen hat?
Dann hätten es die DGB-Gewerkschaften mittlerweile mit einer bundesweit organisierten und bundesweit agierenden Betriebsräteopposition zu tun. Sollten die Gewerkschaften das Phänomen der nur scheinbar unorganisierten Betriebsräte nicht systematischer, das heißt auf betriebs- und organisationsübergreifender Ebene angehen? Ein notwendiger erster Schritt dazu wäre, die Entwicklung der AUB-Betriebsräte und anderer Konkurrenten auf Bundesebene genauer zu analysieren.
Zum Weiterlesen
Wolfgang Rudolph/Wolfram Wassermann: Trendreport Betriebsrätewahlen 2006 (www.bfs-kassel.de)
Wolfgang Rudolph/Wolfram Wassermann: Betriebsräte nach der Reform. Eine empirische Untersuchung ausgewählter Effekte der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 2001 in der Praxis. Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot 2001
Horst-Udo Niedenhoff: Betriebsratswahlen 2006. Köln, Institut der deutschen Wirtschaft 2006