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Mitbestimmungsrechte: Umgehung von Mitbestimmung kann man stoppen

Mindestens 2,1 Millionen Beschäftigten in Deutschland wird paritätische Mitbestimmung vorenthalten – das kann man dagegen tun:

Unternehmen, in denen die Beschäftigten über Betriebsräte und Vertreterinnen und Vertreter im Aufsichtsrat mitbestimmen, bieten bessere Arbeitsbedingungen. Gleichzeitig verfolgen mitbestimmte Unternehmen häufiger ein forschungs- und qualitätsorientiertes Geschäftsmodell und weisen im Mittel bei zentralen betriebswirtschaftlichen Kennzahlen bessere Ergebnisse auf. Das gilt ganz besonders in Phasen von Krisen und Transformationsdruck, wie Forscher am Beispiel der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise ermittelt haben: Sowohl mit Blick auf die operative Rendite, die Bewertung am Kapitalmarkt, die Beschäftigungsentwicklung und bei den Investitionen schnitten im Aufsichtsrat mitbestimmte Unternehmen ab 2008 deutlich besser ab. Diese positiven Effekte, die auch aktuell für die Bewältigung der Corona-Krise und die anstehende wirtschaftliche Transformation bedeutsam sind, belegen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen.

Analysen des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung zeigen aber auch: Die eigentlich durch die deutschen Mitbestimmungsgesetze garantierte demokratische Beteiligung von Beschäftigten wird immer häufiger unterlaufen. Arbeitgeber nutzen rechtliche Lücken, über die Mitbestimmung umgangen wird, etliche ignorieren sogar geltendes Recht. Im Ergebnis besaßen zuletzt von rund 950 Unternehmen, die in Deutschland mehr als 2000 Beschäftigte haben und keinem „Tendenzschutz“ unterliegen, nur rund 650 den nach den Mitbestimmungsgesetzen ab dieser Größe vorgesehenen paritätisch besetzten Aufsichtsrat. Mitbestimmungsvermeidung hat wesentlich dazu beigetragen, dass heute etwa 120 Unternehmen weniger paritätisch mitbestimmt sind als zum Höchststand 2002. In Deutschland sind mindestens 2,1 Millionen Beschäftigte in insgesamt mehr als 300 Unternehmen durch legale juristische Kniffe (in knapp zwei Dritteln der Fälle) oder rechtswidrige Ignorierung der Gesetze von der paritätischen Mitbestimmung ausgeschlossen. Der deutsche und der europäische Gesetzgeber müssen dringend handeln, damit der Standortvorteil Mitbestimmung erhalten bleibt, mahnen die Experten der Stiftung und skizzieren, wo gesetzlich nachgebessert werden muss.   

Allein mindestens 1,4 Millionen inländische Beschäftigte  werden durch legale juristische Konstruktionen um die paritätische Mitwirkung im Aufsichtsrat gebracht, berichtet I.M.U.-Unternehmensrechtler Dr. Sebastian Sick. Der Jurist  stützt sich auf eine I.M.U.-geförderte Erhebung durch das Institut für Rechtstatsachenforschung an der Universität Jena unter Leitung von Prof. Dr. Walter Bayer vom Februar 2020 sowie auf eine I.M.U-Analyse für Unternehmen mit der Rechtsform SE, die aktualisierte Daten mit Stand Juni 2021 bietet. Nimmt man beide Quellen zusammen, sind 198 große Unternehmen bekannt, die über Gesetzeslücken Mitbestimmung legal aushebeln. Die Zahl der durch legale juristische Tricks ausgeschlossenen Beschäftigten ist seit 2015 deutlich gestiegen, betont Sick, der auch Mitglied in der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex ist.

Weitere mindestens 660.000 inländische Beschäftigte in 113 großen Unternehmen (Stand Februar 2020) können die gesetzlich vorgesehenen paritätischen Mitbestimmungsrechte nicht wahrnehmen, weil ihre Arbeitgeber geltendes Recht ignorieren, so Sick. Das Problem: Die Gesetze sehen für Unternehmen, die rechtswidrig keinen mitbestimmten Aufsichtsrat einrichten, keine spürbaren Sanktionen vor.

Nur eingeschränkte Mitbestimmungsrechte bieten schließlich 24 Großunternehmen mit gut 370.000 Beschäftigten im Inland, die als Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) firmieren. Sie haben zwar einen paritätischen Aufsichtsrat. Der besitzt allerdings nur rudimentäre Kompetenzen.

„Das Mitbestimmungsrecht ist löchrig wie ein Schweizer Käse“

„Das Mitbestimmungsrecht ist mittlerweile löchrig wie ein Schweizer Käse. Diese Löcher muss der Gesetzgeber dringend schließen“, konstatiert Unternehmensrechtler Sick. „Sonst droht die nicht umkehrbare Erosion der Mitbestimmung.“ Dabei sei auch die europäische Politik in der Pflicht, betont der Experte. Denn vor allem „durch europäisches Recht sind neue Schlupflöcher entstanden“. Von den genannten 198 Großunternehmen mit formal legaler „Mitbestimmungsvermeidung“ nutzen nach Sicks Analyse 154 eine Rechtskonstruktion mit „europäischem“ Bezug.

Verbreitete Konstruktionen: Auslandsgesellschaften & Co. KG, Einfrier-SE, Familienstiftungen

Ein verbreitetes Vehikel, um Mitbestimmungsrechte über eine juristische Lücke legal zu unterlaufen, sind nach der I.M.U.-Analyse gesellschaftsrechtliche Konstruktionen mit ausländischen Rechtsformen wie beispielsweise die B.V. & Co. KG oder die Ltd. & Co. KG. Hintergrund: Die deutschen Mitbestimmungsgesetze stammen aus einer Zeit, als die weitgehende europäische Niederlassungsfreiheit noch nicht absehbar war. Deshalb beziehen sie sich in ihrem Wortlaut auf Unternehmen in deutscher Rechtsform. Kombinieren Firmen deutsche und ausländische Rechtsformen, fallen sie nach herrschender juristischer Meinung nicht mehr unter das Mitbestimmungsgesetz. Das ist nach europäischem Recht auch Firmen möglich, die ihren Sitz und den Schwerpunkt ihrer Geschäfte in Deutschland haben. Im Februar 2020 firmierten 62 Unternehmen mit jeweils mehr als 2000 inländischen Beschäftigten in einer hybriden Rechtsform, ein Zuwachs um 9 Prozent gegenüber 2015. Mindestens rund 432.000 dort Beschäftigten blieb dadurch die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat versagt. Als Beispiele nennt der Report etwa den Entsorger ALBA, die Meyer Werft oder den Fleischfabrikanten Tönnies.

Ein weiteres großes Schlupfloch, durch das Mitbestimmung ausgehebelt werden kann, stellen lückenhafte Vorschriften zur Europäischen Aktiengesellschaft (SE) dar. Es wird nach Analyse der Forscher oft von jungen, wachsenden Unternehmen genutzt. Immer wieder würden Firmen kurz vor Erreichen der gesetzlichen Schwellenwerte von 500 inländischen Mitarbeitern für eine Drittelbeteiligung oder 2.000 für die paritätische Mitbestimmung zur SE umgewandelt. Da dabei das Vorher-Nachher-Prinzip gilt, der Status quo ohne mitbestimmten Aufsichtsrat also eingefroren wird, können sich Firmen auf diese Weise unwiderruflich aus dem System der Mitbestimmung verabschieden – auch wenn sie später deutlich mehr Beschäftigte haben. Das I.M.U. geht von 62 Unternehmen mit mindestens 269.000 Beschäftigten in Deutschland aus, die als SE (ohne SE & Co. KG und SE & Co. KGaA-Konstruktionen) mit mehr als 2000 Beschäftigten im Inland nicht paritätisch mitbestimmt sind. Dazu zählen etwa der Gesundheitskonzern Schön Klinik, der Personaldienstleister Kötter, das Wohnungsunternehmen Vonovia, der Versandhändler Zalando oder der Autovermieter Sixt. Insgesamt verfüge nur jede fünfte deutsche SE mit mehr als 2000 Beschäftigten über einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat – fast ausschließlich sind das etablierte Großunternehmen, die schon vor der Umwandlung mitbestimmt waren.

Gerade bei börsennotierten Unternehmen ist die SE nach der I.M.U.-Analyse als Vermeidungsoption beliebt, weil andere verbreitete Vermeidungsvehikel keine Börsennotierung erlauben. Fast 10 Prozent der insgesamt rund 750 deutschen SE sind börsennotiert – eine viel höhere Quote als bei normalen Aktiengesellschaften mit nur gut 3 Prozent. Noch höher liegt die Quote börsennotierter SE, wenn man nur operativ tätige SE als Vergleichsbasis nimmt und Vorratsgesellschaften etc. herausrechnet.  

Eine weitere Variante ist die Rechtsform der SE & Co. KG. Unter dieser Konstruktion firmiert laut Studie unter anderem die Dachser Group. Insgesamt zählen die Forscher 24 SE & Co. KG mit rund 138.000 Beschäftigten. Diese Gruppe ist in den letzten Jahren sehr schnell gewachsen.

Zusammengenommen haben also 86 SE mit jeweils mehr als 2000 inländischen Beschäftigten keinen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat. „Die SE ist deshalb ein Kernproblem für die Partizipation im Aufsichtsrat“, schreibt Sick.

Weitere 50 Unternehmen mit zusammen mindestens 550.000 Beschäftigten in Deutschland ordnen die Experten verschiedenen anderen Rechtsformen zu, bei denen Mitbestimmungsrechte von Beschäftigten legal blockiert werden. Knapp die Hälfte verwenden Konstruktionen über (Familien-)Stiftungen, zum Beispiel die Einzelhändler Aldi und Lidl.

Hunderte Unternehmen ignorieren rechtswidrig Mitbestimmungsrechte

Zusätzlich zu den 198 „Mitbestimmungsvermeidern“ zählen die Forscher 113 Unternehmen mit je mindestens 2000 inländischen Beschäftigten, die qua Größe und Rechtsform zwar gesetzlich verpflichtet seien, einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat einzurichten, diese Vorgabe aber schlicht ignorierten. Als Beispiele nennt Unternehmensrechtler Sick die Drogeriekette Rossmann oder den Gebäudedienstleister Piepenbrock. Nach einer älteren Untersuchung am Lehrstuhl von Professor Bayer setzt sich diese „rechtswidrige Mitbestimmungsignorierung“ bei Hunderten mittelgroßen Unternehmen fort, in denen Arbeitnehmer nach dem so genannten Drittelbeteiligungsgesetz eigentlich Anrecht auf ein Drittel der Stimmen im Aufsichtsrat hätten. Demnach hatten 56 Prozent der untersuchten GmbH entgegen der gesetzlichen Vorgabe keinen drittelbeteiligten Aufsichtsrat.

Wie Gesetzeslücken geschlossen werden können

Der Standortvorteil Mitbestimmung sei durch die vielen Umgehungsmöglichkeiten und Verstöße in Gefahr, stellen die Experten der Hans-Böckler-Stiftung fest. Dabei habe der Gesetzgeber sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene etliche Möglichkeiten, der Mitbestimmung Geltung zu verschaffen. Nach Einschätzung der Fachleute ist der gesetzgeberische Aufwand eher gering. Sie empfehlen als zentrale Reformen:

  • Eine gesetzlich bindende Klarstellung, dass die Mitbestimmungsgesetze für alle kapitalistisch strukturierten Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten in Deutschland gelten. Anders als heute könnte dann etwa die Mitbestimmung nicht mehr ausgehebelt werden, wenn ein Wirtschaftsunternehmen in einer Rechtskonstruktion mit einer Stiftung firmiert oder eine hybride Konstruktion mit deutscher und ausländischer Rechtsform wählt. Gerade auch eine Reform, die die Mitbestimmung auf ausländische Rechtsformen erstreckt, ist nach Einschätzung des I.M.U. europarechtskonform möglich.
  • Bei europäischen Rechtsformen wie der Europäischen Aktiengesellschaft SE soll der Gesetzgeber gewährleisten, dass das „Einfrieren“ auf einem Status ohne oder mit geringer Mitbestimmung durch taktische Umwandlung in einem frühen Stadium, in dem das Unternehmen noch nicht unter Mitbestimmungsgesetze fällt, verhindert wird. Konkret heißt das: Wächst die Beschäftigtenzahl einer SE über die Schwellenwerte von 500 bzw. 2000 Beschäftigten, muss es die Chance geben, dass Mitbestimmungsrechte entsprechend wachsen. Sicks Analysen zeigen, dass das europarechtlich möglich ist.
  • Schließung der so genannten „Drittelbeteiligungslücke“. Diese führte beispielsweise dazu, dass im Wirecard-Aufsichtsrat keine Beschäftigtenvertreter als Kontrollinstanz vertreten waren. Sie beruht darauf, dass im Drittelbeteiligungsgesetz, das Arbeitnehmerbeteiligung in den Aufsichtsräten von Unternehmen mit 501 bis 2000 Beschäftigten regelt, keine automatische Konzernzurechnung von Beschäftigten in Tochterunternehmen vorgesehen ist. Ein Konzern bleibt daher ohne jede Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat, wenn er sich in eine Holding und verschiedene Töchter aufgliedert, die jeweils maximal 500 Beschäftigte haben und die nicht über formale „Beherrschungsverträge“ miteinander verbunden sind – auch wenn die verschiedenen abhängigen Unternehmen zusammengenommen weit mehr als 500 Beschäftigte haben, wie im Fall Wirecard.
  • Unternehmen, die Mitbestimmungsgesetze rechtswidrig nicht anwenden, müssen effektiv sanktioniert werden. Dafür nennt I.M.U.-Jurist Sick mehrere Möglichkeiten, unter anderem am Umsatz orientierte Geldbußen. Zudem solle als Konsequenz aus dem Kontrollversagen bei Wirecard die korrekte Anwendung der Mitbestimmungsgesetze als Voraussetzung für eine Börsennotierung und die Teilnahme am Kapitalmarkt eingeführt werden. 
  • Die EU-Kommission sollte eine Rahmenrichtlinie in Angriff nehmen, die europaweit generelle Mindeststandards für die Arbeitnehmerpartizipation setzt. Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müsse als Kernelement der europäischen Corporate Governance verankert werden.

Mitbestimmung sollte aber nicht nur gegen Umgehung gesichert, sondern auch gestärkt werden, empfehlen die Experten. Dabei orientieren sie sich an Regelungen, die heute schon in nach dem Montanmitbestimmungsgesetz mitbestimmten Unternehmen gelten:

  • Paritätische Mitbestimmung in allen Unternehmen, die mindestens 1000 Beschäftigte in Deutschland haben (statt 2000 im Mitbestimmungsgesetz von 1976) bzw. Drittelbeteiligung ab 250 Beschäftigten.
  • Verändertes Schlichtungsverfahren in Pattsituationen. Bislang steht bei Abstimmungen im paritätisch besetzten Aufsichtsrat den Aufsichtsratsvorsitzenden bei Stimmengleichheit ein Doppelstimmrecht zu. Damit hat die Kapitalseite de facto in allen Streitfragen eine Mehrheit, mit der beispielsweise kürzlich im Konflikt um das Continental-Reifenwerk in Aachen eine Betriebsschließung durchgesetzt wurde. Stattdessen sollte bei einem Patt in wichtigen Fragen, speziell bei Maßnahmen der strategischen Ausrichtung des Unternehmens mit Personalbezug, verpflichtend ein Schlichtungsverfahren eingeleitet werden. Ein mögliches Modell dafür liefert seit 70 Jahren die Montanmitbestimmung. Dort gibt es ein „neutrales“ Mitglied im Aufsichtsrat, auf das sich Kapitaleigner und Beschäftigte geeinigt haben. Im Falle eines Patts gibt die Stimme dieser Person den Ausschlag. Grundlegende Entscheidungen wie M&A, Sitzverlagerung, Rechtsformwechsel, Betriebsschließung und -verlagerung oder Massenentlassungen sollten jedenfalls nicht ohne die Stimmen der Mehrheit der Arbeitnehmer gefällt werden. Bei solchen zustimmungsbedürftigen Geschäften könnte zusätzlich eine 2/3-Mehrheit im Aufsichtsrat vorgesehen werden.
  • Festschreibung, dass dem Unternehmensvorstand mitbestimmter Unternehmen eine eigenständige „Arbeitsdirektorin“ oder ein „Arbeitsdirektor“ angehören muss. Bislang hat rund die Hälfte der großen Unternehmen in Deutschland keinen eigenständigen Personalvorstand. Diese Position kann nach dem Reformvorschlag zudem nicht gegen die Stimmen der Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Aufsichtsrat besetzt werden – so wie im Modell der Montanmitbestimmung.

 

 

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