Quelle: Peter Himsel
Service aktuellNeujahrsempfang 2020: Neue Chance für Europa
Eine neue Chance für Europa? Im Vorjahr hatten das Tauziehen um den Brexit und die Sorge, EU-skeptische oder gar -feindliche Kräfte könnten nach der Europawahl den Einigungsprozess lahmlegen den Neujahrsempfang der Hans-Böckler-Stiftung dominiert. Und nun? Gibt es wieder Licht am Hoizont für die Europäische Union und ihre 510 Millionen Bürgerinnen und Bürger?
Zumindest ist viel in Bewegung. Die EU-Kommission hat einen Green Deal für Europa vorgelegt. Das ehrgeizige Ziel lautet: Die Europäische Union soll bis 2050 klimaneutral werden. Das ist zwar nicht gerade übermorgen, aber auch keine Ewigkeit mehr hin. Vor allem wenn man sich vor Augen führt, wie sehr sich Leben, Arbeit und Mobilität in den nächsten 30 Jahren verändern müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Dass bei der Europawahl der befürchtete Rechtsruck ausblieb, sieht Michael Guggemos, Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung, als Aufschub für Europa. Man könnte auch sagen: eine Bewährungsfrist. Die Europäische Union müsse die gewonnene Zeit nutzen, um Europa eine neue Chance zu verschaffen. Dabei müssen unterschiedliche Ebenen zusammengreifen: „Der green deal kann nur erfolgreich sein, wenn in den Unternehmen entsprechende Initiativen folgen“, sagte Guggemos beispielsweise. „Das gelingt in mitbestimmten Unternehmen besser.“
Die Errungenschaften, die Europa im Vergleich zu manch anderen Weltgegenden auszeichnen, begründen Ansprüche und Erwartungen seiner Bürger. Eine zentrale ist: Die anstehende enorme Transformation soll ohne soziale Verwerfungen und Schäden für die Demokratie erreicht werden. Aber bislang haben viele Menschen Zweifel, dass die Politik, ob in Berlin oder Brüssel, dieses Ziel erreichen kann. Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz sah darin eine mögliche Erklärung, warum es inzwischen ziemlich viele schlecht gelaunte Menschen mit chronisch skeptischer Grundhaltung gibt. Mit dem DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann diskutierte Scholz beim Neujahrsempfang, wie Politik die Menschen davon überzeugen könne, dass Veränderungen mutig angegangen werden müssen und fair für alle gestaltet werden können. Dabei betonte er mehrfach, dass gerade angesichts des Ausmaßes der Transformation nationale Alleingänge nirgendwo hinführen. „Wenn wir die Welt von morgen nach unseren Vorstellungen gestalten wollen, wenn wir Demokratie, soziale Marktwirtschaft und Mitbestimmung sichern wollen, können wir das nur in einem gemeinsamen Europa.“
Auch im Hinblick auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im Sommer formulierte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann Anforderungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Aus ihrer Sicht müsse es gelingen, die Arbeitnehmerrechte durch eine Rahmenrichtlinie zu Unterrichtung, Anhörung und Unternehmensmitbestimmung im europäischen Gesellschaftsrecht zu verankern. „Das europäische Gesellschaftsrecht darf nicht dazu dienen, dass Unternehmen sich aus der Mitbestimmung verabschieden.“ Zur Umgehung von national garantierten Mitbestimmungsrechten dürfe Europa nicht einladen, betonte auch Scholz – ebenso wenig wie zum Steuerdumping. „Es kann nicht sein, dass Unternehmen sich aus der Mitbestimmung verabschieden, wenn sie sich europäisch aufstellen. Daran werden wir arbeiten“, sagte der Finanzminister.
Damit der europäische green deal zu einem Erfolg wird, müssen aus Sicht der Gewerkschaften Beschäftigte nicht nur mitbestimmen, sie müssen bei großen Umbrüchen auch sozial aufgefangen werden. „Wenn wir etwa die Energiewende nicht so gestalten, dass auch der Durchschnittsverdiener am Ende noch seine Stromrechnung bezahlen kann, wird sie nicht akzeptiert werden.“ Um Umbrüche sozial abzufedern, brauche es Investitionen für die Entwicklung der Regionen, in denen Wirtschaftszweige wegbrechen, und in Bildung. Dabei sieht das IMK der Hans-Böckler-Stiftung einen weitaus größeren Finanzbedarf, als die EU-Kommission jetzt eingeplant hat.
Zur Finanzierung schlug Hofmann vor, Investitionen von der Schuldenregel auszunehmen: „Das sind keine Schulden, das sind Investitionen für unsere Kinder und Enkel.“ Eine zweite Möglichkeit, Geld für Investitionen locker zu machen, sei mehr Steuergerechtigkeit zu schaffen, indem etwa Schlupflöcher geschlossen werden.
Auch beim Mindestlohn in Europa richten sich die Augen der Gewerkschaften auf die deutsche Ratspräsidentschaft. „Wir hoffen, dass wir dem Ziel zwölf Euro Mindestlohn in diesem Jahr näherkommen“, sagte HBS-Geschäftsführer Michael Guggemos. Olaf Scholz hatte sich bereits im vergangenen Jahr zu diesem Ziel bekannt. Blieb nur die Frage offen, ob er es mit dem Koalitionspartner auch erreiche.