zurück
Bettina Kohlrausch, Yasmin Fahimi, Olaf Scholz und Claudia Bogedan beim Festakt zu 70 Jahre Betriebsverfassungsgesetz Service aktuell

Festakt zum 70. Jubiläum des Betriebsverfassungsgesetzes: Einige Wünsche blieben offen

DGB und Hans-Böckler-Stiftung feierten in Berlin den 70. Geburtstag des Betriebsverfassungsgesetzes. Besonders gespannt warteten die Gäste, was der Bundeskanzler zur Feier mitbringen würde. Von Fabienne Melzer

[11.11.2022]

Wer zu einer Geburtstagsfeier eingeladen wird, bringt Geschenke mit. Zu einem runden Geburtstag fallen die Geschenke schon mal etwas größer aus. Mit dieser Erwartung begrüßte Claudia Bogedan, Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung, die Gäste, die zum 70. Geburtstag des Betriebsverfassungsgesetzes Anfang November in den Hamburger Bahnhof in Berlin gekommen waren. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz war der Einladung von Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) und Hans-Böckler-Stiftung gefolgt. Auf sein Geburtstagsgeschenk waren wohl alle am meisten gespannt.

Schließlich kann nur die Bundesregierung der Mitbestimmung ihren zurzeit größten Wunsch erfüllen: ein Betriebsverfassungsgesetz auf der Höhe der Zeit. Auf der Höhe einer Zeit, die Wirtschaft und Gesellschaft durch Krisen erschüttert und durch technischen Wandel herausfordert. Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi sieht die Gesellschaft in einer Phase, in der Mut und Einsatz gefragt sind. Es gehe nicht mehr darum, ob sich die Gesellschaft verändern muss, es gehe nur noch um das Wie. Davon hänge allerdings nicht wenig ab. „Transformation – zumal in Krisenzeiten – kann nur gelingen, wenn sie auf dem Auge sozialer Nachhaltigkeit nicht blind bleibt“, sagte Fahimi beim Festakt in Berlin.

  • Claudia Bogedan auf dem Festakt 70 Jahre Betriebsverfassungsgesetz

Nur fehlten hierfür der Mitbestimmung nach 70 Jahren die passenden gesetzlichen Werkzeuge. Das fange schon bei der grundlegenden Frage an, ob Beschäftigte ihr Vertretungsrecht wahrnehmen können. So wird jede sechste Betriebsratsneugründung mit illegalen Mitteln be- oder verhindert. Deshalb sei es richtig, dass die Bundesregierung Betriebsratsbehinderungen zum Offizialdelikt machen wolle, sagte Fahimi: „So steht es im Koalitionsvertrag und wir erwarten, dass es zügig umgesetzt wird.“ Doch auch, wer eine Betriebsratswahl initiieren will, müsse besser geschützt werden.

Aus eigener Erfahrung konnte dazu Serdal Sardas, erster und einziger Betriebsratsvorsitzender beim Online-Händler Amazon berichten. In amerikanischen Unternehmen stoße nach seiner Einschätzung nicht nur jede sechste Betriebsratsneuwahl auf den Widerstand des Arbeitgebers, die Quote sei deutlich höher. Auch der Weg zum Betriebsrat am Amazon-Standort Wunstorf war für Sardas und seine Mitstreiter lang und steinig. Ohne die ständige Unterstützung der Gewerkschaft Verdi, die für Sardas jederzeit erreichbar war, hätten sie es kaum geschafft. Noch immer kämpfen sie mit den Attacken der Geschäftsleitung, wehren sich gegen Disziplinarverfahren und nichtverlängerte Befristungen von Betriebsratsmitgliedern.

  • Yasmin Fahimi auf dem Festakt 70 Jahre Betriebsverfassungsgesetz

Für viele Beschäftigte am Standort Wunstorf war es aber nicht nur die erste Betriebsratswahl. Viele sind Geflüchtete und konnten zum ersten Mal überhaupt demokratisch wählen. „Die Mitbestimmung hat ihnen den Einstieg in die Demokratie eröffnet“, sagte Sardas. Deshalb geht es für Bettina Kohlrausch, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), bei der Erneuerung des Betriebsverfassungsgesetzes nicht nur um Paragrafen: „Es geht um die Frage, ob wir Menschen das Recht zugestehen, echte demokratische Teilhabe am Arbeitsplatz zu erleben. Damit steht und fällt auch die Glaubwürdigkeit der Demokratie.“

Gelebte Demokratie nannte auch Carsten Bätzold, Betriebsratsvorsitzender bei VW in Baunatal, die Mitbestimmung. „Betriebsräte, die ihren Kopf hinhalten, brauchen den Schutz des Gesetzes, aber ohne die Beschäftigten können sie nichts machen.“ Deshalb teilen sie bei VW Betriebsversammlungen in kleinere Gruppen. So kommen sie besser mit den Beschäftigten ins Gespräch.

  • Bettina Kohlrausch auf dem Festakt 70 Jahre Betriebsverfassungsgesetz

Der Bundeskanzler – in diesen Tagen fast nahtlos unterwegs zwischen China und der Klimakonferenz in Ägypten – unterstrich die Bedeutung des Betriebsverfassungsgesetzes mit einer Zahl: „Im Februar gab es in Deutschland 1773 Gesetze. Nicht alle werden eine Feier zu ihrem 70. Geburtstag bekommen.“ Nach einem Ausflug in die Geschichte nannte auch Scholz die Mitbestimmung gelebte Demokratie und wichtig für das Gelingen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels. „Ein starker Sozialstaat schafft Zusammenhalt, den es braucht, um Krisen zu bewältigen.“ Die Transformation könne daher nur mit Betriebsräten gelingen. Sie sind die Fachleute vor Ort, wissen, was die Beschäftigten brauchen, vermitteln zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft. „Damit Betriebsräte, das alles leisten können, wollen wir sie stärken und das Betriebsverfassungsgesetz weiterentwickeln“, sagte Scholz und zählte noch einmal die im Koalitionsvertrag genannten Reformen auf: das Recht auf digitalen Zugang zum Betrieb und die Einstufung der Betriebsratsbehinderung als Offizialdelikt.

Da blieben einige Wünsche offen. So hatte Yasmin Fahimi neben diesen beiden Reformen auch auf weitere notwendige Änderungen verwiesen. Dazu gehören Mitspracherechte beim Umwelt- und Klimaschutz, bei der Digitalisierung, der Vielfalt im Betrieb sowie eine Demokratiezeit für alle Beschäftigten. Lucie Wähler von Azubis4Future, die an der Diskussionsrunde teilnahm, würde die Demokratiezeit gerne für ihren Einsatz für den Klimaschutz nutzen oder für die Teilnahme an Diskussionsrunden wie bei diesem Festakt: „Ich musste hierfür heute einen Tag Urlaub nehmen“, sagte die Auszubildende für Garten- und Landschaftsbau.

  • Olaf Scholz auf dem Festakt 70 Jahre Betriebsverfassungsgesetz

Zum Geburtstag gab es natürlich auch Musik. Das Quartett „Die Grenzgänger“ spielte unter anderem das Einheitsfrontlied von Bertolt Brecht und Hans Eisler sowie Beethovens „Ode an die Freude“. Im Gespräch mit der Moderatorin Julia Kropf erfuhren die Gäste von den Musikern dann auch noch etwas über den demokratischen Geist des Volkslieds. Es konnte sich nur durchsetzen, wenn es eine Mehrheit im Volk fand.

Weitere Informationen

Johanna Wenckebach: "So wäre es zeitgemäß"

Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler über die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes: "Zeit für den nächsten Reformschub"

 

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen