Quelle: Frank Rumpenhorst
Service aktuellTagung Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und Barrierefreiheit: Der Worte sind genug gewechselt, lasst uns nun endlich Taten sehen!
Auf dem Weg zu einer barrierefreien Gesellschaft stehen noch einige Hindernisse. Darüber diskutierte man bei der Tagung des Hugo Sinzheimer Instituts in Kooperation mit der Universität Kassel in Frankfurt.
von Fabienne Melzer
Dieses Ergebnis sorgte für Heiterkeit. Komplizierte Verfahren bei Behörden erleben Menschen mit Behinderungen als häufigste Barriere in ihrem Alltag. Das brachte einige Lacher und den Einwurf, dass diese Hürde nicht nur für Menschen mit Behinderung bestehe. In einer gemeinsamen Evaluation hatten sich das Hugo Sinzheimer Institut (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung, das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) in Köln und die Uni Kassel angeschaut, wie das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und seine Novellierung 2016 in der rechtlichen und gesellschaftlichen Praxis ankommt und wie barrierefrei Menschen die Welt um sie herum inzwischen erleben.
Mit dem BGG will der Gesetzgeber Barrierefreiheit herstellen und vor Benachteiligungen durch Behörden der Bundesverwaltung schützen. Auf einer Tagung Mitte Oktober in Frankfurt stellten Felix Welti, Professor an der Uni Kassel und Dietrich Engels, Geschäftsführer des ISG, die Ergebnisse vor und diskutierten sie mit Menschen aus Wissenschaft, Juristerei, Politik, Sozialverbänden und Bundesbehörden.
Mit dem BGG setzte die Bundesregierung 2002 die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention, der EU-Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie und des Grundgesetzes um. Danach muss der Staat Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben und gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen. Dazu gehört beispielsweise auch die Teilnahme an einer Fachtagung wie der, zu der das HSI in Frankfurt eingeladen hatte. Dabei stellte Johanna Wenckebach, wissenschaftliche Direktorin des HSI fest, wie schwer der Weg von der Theorie in die Praxis ist: „Über Barrierefreiheit schreiben, ist etwas anderes, als sie selbst auch umzusetzen.“ Denn genau das hatte sich das HSI in Frankfurt vorgenommen.
Der Weg zum Veranstaltungsort, ein Hotel gegenüber des Frankfurter Bahnhofs, war angesichts abgeflachter Bürgersteige, Aufzügen und Rampen für Rollstuhlfahrer problemlos zu erreichen. Im Saal übersetzen Gebärden- und Schriftdolmetscher für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen in Gebärdensprache und Text. Der Text wurde auf Monitore im ganzen Raum und teilweise direkt vor die Sitzreihen übertragen. Zudem gab es Tonübertragungsgeräte. Trotz allem wollte Antonia Seeland, die beim HSI die Veranstaltung mit organisierte, nicht von barrierefrei sprechen. „Es ist barrierearm“, sagte sie. Doch das ist schon viel mehr als Menschen mit Behinderungen sonst in ihrem Alltag erleben. Dies zeigte sich in diesem Jahr auch in Genf, wo die UN die Umsetzung der Konvention prüft und sich Annette Tabbara vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales stellvertretend den Rüffel abgeholt hatte. „Dort wurde noch einmal deutlich gemacht, dass es nicht sein kann, dass ein reiches Land wie Deutschland keine Barrierefreiheit herstellt“, sagte Tabbara.
Das Fazit der BGG-Evaluation, das die Experten aus Kassel und Köln vorstellten, lautete: Es gibt viele gute Ansätze, aber es hapert noch viel zu oft bei der Umsetzung. So hat das Gesetz das Verständnis von Behinderung erweitert. Zum einen verdeutlicht es unterschiedliche Behinderungsformen unter anderem auch intellektuelle und psychische Beeinträchtigungen, zum anderen sieht es die Behinderung nicht nur auf Seiten der betroffenen Menschen, sondern vielmehr in der Wechselwirkung mit den Bedingungen ihrer Umwelt, die sie einschränkt und ihnen Teilhabe verwehrt. Diese Erkenntnis habe sich in den Behörden, die erste Adressaten des Gesetzes sind, bisher allerdings nur mittelmäßig durchgesetzt. Tanja Klenk, Professorin an der Universität der Bundeswehr in Hamburg, attestierte in einer der Diskussionsrunden Beschäftigten von Behörden ein noch immer konservatives Verständnis von Behinderung. Dabei wies sie der Verwaltung als dem Gesicht des Staates eine wichtige Rolle zu: „Die Qualität des Gesetzes hängt auch davon ab, was Behörden daraus machen.“
Menschen mit Behinderungen erleben nicht nur bauliche Barrieren als Hindernis, auch in der Kommunikation und in der zunehmenden Digitalisierung scheitern sie an Hürden. Auch bei vielen Produkten und Dienstleistungen wurde nicht an sie gedacht, wie Uwe Boysen vom Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf an einem einfachen Beispiel deutlich machte: „Wer kann eigentlich eine Packstation der Post einfach bedienen?“
Zu den Forderungen gehörten unter anderem Standards für den digitalen Rechtsverkehr und für die einfache Sprache. Michael Wahl, Leiter der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik, erhielt viel Zustimmung für seine Frage: „Warum ist der Zugang zu Daten nicht genauso wichtig wie der Schutz von Daten?“
In der rechtswissenschaftlichen Evaluation zeigte Felix Welti von der Uni Kassel, dass das BGG auch nach zwei Jahrzehnten im Rechtsleben noch wenig bekannt ist. „In gerichtlichen Entscheidungen wird wesentlich häufiger auf das AGG und die UN-Behindertenkonvention verwiesen“, sagte Welti. Auch in der Fach- und in der Ausbildungsliteratur für angehende Juristen fanden sich nur wenige Hinweise auf das BGG. Das Schlichtungsverfahren werde häufig genutzt, das Verbandsklageverfahren dagegen nur selten. Kritisch beurteilte Welti, dass es sich hierbei lediglich um eine Feststellungsklage handelt, die keinerlei verbindliche Konsequenzen nach sich zieht.
Dieses Verfahren kritisierte auch Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, und machte es gleichzeitig dafür verantwortlich, dass Verbände es so selten nutzen. Deutlich machte sie es am Beispiel einer Klage um den Bahnhof Bad Godesberg. „Das Gericht stellte am Ende fest, dass der Bahnhof nicht barrierefrei ist“, sagte Bentele. „Das wussten wir aber schon vorher.“ Sie forderte daher, dass sich aus einer Feststellung auch die Verpflichtung zum Handeln ergibt. „Bewusstseinsbildung machen wir schon viel zu lange“, sagte die VdK-Präsidentin.
Steffen Luik, Richter am Bundessozialgericht, sieht daneben in den hohen Eingangshürden einen möglichen Grund für die geringe Zahl an Verbandsklagen. Die hohe Zahl der außergerichtlichen Schlichtungsverfahren nannte er gut für den Rechtsfrieden. „Das führt aber dazu, dass in vielen Fragen der Diskriminierung keine Grundsatzentscheidungen getroffen werden“, sagte Luik.
Rechtsvertretung beanspruchen Menschen mit Behinderung häufig wegen Diskriminierung durch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Doch private Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber werden nicht stärker verpflichtet, da unter anderem Vorschriften zur Barrierefreiheit im Privatrecht wie dem AGG und eine stärkere Vernetzung zum BGG fehlen. Gleichzeitig stellt die Evaluation auch fest, dass Schwerbehindertenvertretungen meist sensibler sind für das Thema, das BGG häufiger und besser kennen, mehr Diskriminierungen und Probleme mit der Barrierefreiheit wahrnehmen als der Rest der Belegschaft.
Der Weg zu einer barrierefreien Gesellschaft scheint noch weit, dabei würden davon nicht nur Menschen mit Behinderungen profitieren. Denn wie die Reaktion des Publikums zeigte, wünschen sich nicht nur Menschen mit Behinderungen verständliche Behördenformulare. Oder wie es VdK-Präsidentin Verena Bentele formulierte: „Teilhabe geht mehr als ein paar Menschen an – nämlich alle.“
Mehr Infos
- Das HSI war an der Evaluation des reformierten Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) im Auftrag des BMAS beteiligt. Mehr Informationen zum Forschungsprojekt finden Sie über den nachfolgenden Link.
Zur Projektseite - Systemrelevant Podcast "Barrierefreiheit muss der Standard sein" - Felix Welti von der Uni Kassel und HSI-Direktorin Johanna Wenckebach erläutern die Ergebnisse einer Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes.
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