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Bühne beim HSI Kongress 2022 Service aktuell

Tagung "Gewerkschaftsrechte heute": "Das Arbeitsrecht muss sich auf mehr Dynamik einstellen"

Wie können die juristischen Rahmenbedingungen der Arbeitswelt mit den vielfältigen Krisen und Umbrüchen unserer Zeit Schritt halten? Darum ging es beim Jubiläumskongress des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht.

[08.07.2022]

Von Annette Jensen

Die Arbeitswelt verändert sich und daran muss sich auch das Arbeitsrecht anpassen. Mehr Tempo wünschen sich der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften dabei. Denn wie sie erwartet auch Johanna Wenckebach, Wissenschaftliche Leiterin des Hugo Sinzheimer Instituts (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung: "Das Arbeitsrecht muss sich auf eine sehr dynamische Entwicklung einstellen.“ Mit dieser Prognose begrüßte sie die etwa 160 Gäste beim HSI-Jubiläumskongress in Berlin, der sich aufgrund der Coronapandemie um zwei Jahre verspätet hatte.

Vor zwölf Jahren wurde das Institut in Frankfurt am Main gegründet – eine in juristischen Fachkreisen inzwischen hochangesehene Institution für Arbeits- und Sozialrecht unter dem Dach der Hans-Böckler-Stiftung, wie auch Jörg Hofmann, erster Vorsitzender der IG Metall, anmerkte: „Das Hugo Sinzheimer Institut hat sich großes Gewicht in der arbeitsrechtlichen Debatte erarbeitet.“ Bei seiner Gründung kurz nach der Finanz- und Wirtschaftskrise habe ein rauer Zeitgeist geherrscht. Inzwischen aber sei auf breiter Ebene angekommen, dass der Markt nichts richtet und der gewerkschaftliche Einfluss wieder gewachsen.

So steht die HSI-Schriftenreihe auch neben dem Schreibtisch von Inken Gallner, wie die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts auf der Veranstaltung erzählte. Und selbst Roland Wolf, Abteilungsleiter für Arbeitsrecht und Tarifpolitik bei der BDA räumte ein, man müsse sich mit den HSI-Positionen intensiv auseinandersetzen.

Arbeitsrecht in Zeiten wachsender Dynamik

Vor dem Hintergrund von Klimakrise, Pandemie und Umbrüchen in der globalen Wirtschaft, aber auch der rasch voranschreitenden Digitalisierung und Veränderung von Betriebsstrukturen sehen die Gewerkschaften an vielen Stellen Verbesserungsbedarf. Im April legte der DGB daher einen Vorschlag für ein zeitgemäßes Betriebsverfassungsgesetz vor. Peter Roggendorff vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales stimmte zu, dass das Recht angepasst werden müsse, etwa bei den Themen Plattformökonomie, Homeoffice sowie der Möglichkeit für Betriebsräte, die Belegschaft auch digital zu erreichen. Für den Herbst kündigte er einen Sozialpartnerdialog an.

Angesichts der dynamischen Veränderungen in den Betrieben setzt die IG Metall seit 2021 auf Zukunftstarifverträge, die Unternehmen zur Erarbeitung betrieblicher Perspektiven und Weiterbildungsprogramme verpflichten. Dagegen bezeichnete der Leiter des IG Metall-Fachbereichs Tarifpolitik Stefan Schaumburg den Umgang der Autoindustrie mit dem absehbaren Abschied vom Verbrennungsmotor als erschreckend. Es gäbe bisher keine Strategie. Immer wieder Thema auf dem Kongress war deshalb auch die Entscheidung von Ford, sein neues E-Auto in Valencia und nicht in Saarlouis bauen zu wollen. „Im Saarland sind 98 Prozent organisiert. Wir werden uns diesen Standort nicht einfach von Ford zumachen lassen“, stellte Schaumburg klar.

  • Team des Hugo Sinzheimer Instituts
    Verspätete Feierlichkeiten: Das Team des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) feiert das 10-jährige Bestehen des Instituts.

Gesetzlicher Regelungsbedarf nimmt zu

Weil die neue DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi wegen eines Streiks in Brüssel nicht kommen konnte, übernahm die Leiterin der DGB-Rechtsabteilung Micha Klapp die Aufgabe, dem BDA-Mann Wolf Paroli zu bieten. Der hatte eine staatliche Regelung verlangt, um den Betrieb von Infrastruktureinrichtungen wie Containerterminals in Krisenzeiten zu sichern – was beispielsweise den aktuellen Streik bei Eurogate unterbinden würde. Dem setzte Klapp nicht nur die Forderung nach einem angemessenen Tarifangebot für die Hafenarbeiter entgegen. "Wie viel noch gesetzlich geregelt werden muss, zeigt die Lage von Lkw-Fahrern, Paketzustellern und Landarbeitern," sagte Klapp. Die Arbeitsbedingungen in diesen Branchen seien weiterhin äußerst prekär.

Noch bis vor zwei Jahren sah es in Schlachthöfen ähnlich aus. Freddy Adjan, stellvertretender NGG-Vorsitzender, beschrieb die katastrophale Situation bis zum Corona-Ausbruch bei Tönnies im Sommer 2020. Erst durch den öffentlichen Skandal gab sich der Gesetzgeber endlich nicht mehr zufrieden mit den Selbstverpflichtungen der "Fleischbarone" und trocknete das Werksvertrags-Unwesen aus. Etwa 30.000 Beschäftigte haben inzwischen feste Arbeitsverträge. Leiharbeit ist hier nur noch in engen Grenzen erlaubt und setzt einen Tarifvertrag voraus. So sahen sich die Arbeitgeber gezwungen, auf die NGG zuzugehen. "Es ist kein Vergnügen, mit Leuten zu tun zu haben, die noch nie verhandelt haben", berichtete Adjan. Auch die Beschäftigten zu organisieren sei gar nicht einfach, weil die Informationen in mehrere Sprachen übersetzt werden müssen. Doch inzwischen steigen die NGG-Mitgliedszahlen in der Schlachtindustrie deutlich an. 

Hohes Konfliktpotenzial im Pflegebereich

Ein Schwerpunkt des Kongresses waren die Arbeitsbedingungen in der Pflege. Als Krankenhäuser noch zum öffentlichen Dienst zählten, waren sie von Streikaktionen stets ausgenommen: Die Menschen mussten ja versorgt werden. Durch die Ökonomisierung seit den 1990er Jahren und verschärft durch die Einführung von Fallpauschalen 2004 wurde die Personalausstattung immer dünner, die Arbeitsbedingungen immer härter. 2015 kam es zum ersten großen Streik bei Charité und Vivantes in Berlin. "Im Fokus stand der Gesundheitsschutz der Beschäftigten", fasste Gisela Neunhöffer von Ver.di Berlin-Brandenburg zusammen. Gefordert wurde eine personelle Mindestausstattung – und ein Belastungsausgleich für unterbesetzte Schichten.

Mehr als einen Monat dauerte der Arbeitskampf. Die Hälfte der Berliner Krankenhausbetten war zeitweise gesperrt, zugleich sorgten die Streikenden dafür, dass niemand gefährdet war.  "Solche qualitative Tarifarbeit ist sehr konfliktreich, aber wir haben alle juristischen Auseinandersetzungen gewonnen", berichtete Neunhöffer. So bestätigte das Landesarbeitsgericht: Die unternehmerische Freiheit endet da, wo der Gesundheitsschutz der Beschäftigten anfängt. Drei Tarifverträge konnten schließlich abgeschlossen werden.

In der ambulanten Pflege und in Altenheimen ist es noch schwieriger als in Krankenhäusern: Bettensperrungen sind dort ausgeschlossen. Für Neunhöffer ist die Schlussfolgerung deshalb klar: "Wir brauchen eine gesetzliche Mindestbemessung fürs Personal." Viele Pflegekräfte haben dem Beruf den Rücken gekehrt, weil die Bedingungen einfach zu schlecht sind. "Und wer in einem Altenheim einen Betriebsrat gründen will, muss mit Kündigung rechnen", ergänzte Barbara Susec, beim Ver.di-Bundesvorstand für Gesundheitswesen und -politik zuständig. Immerhin hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im Mai eine „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ eingesetzt. Die Frage der Personalausstattung soll dort eine zentrale Rolle spielen.

Mut machte der Bericht von Joost Korte, Generaldirektor für Arbeit, Soziales und berufliche Bildung der EU-Kommission. Die vor fünf Jahren verabschiedete Europäische Säule sozialer Rechte sei zwar juristisch nicht verbindlich, doch viele EU-Richtlinien verweisen inzwischen darauf. Anfang Juni erreichte die EU-Mindestlohnrichtline die Zielgerade. Auch eine Tarifbindung von 80 Prozent soll angestrebt werden und alle Mitgliedsländer müssen entsprechende Aktionspläne vorlegen. "Ich bin sehr, sehr froh. Ich hätte nicht gedacht, dass das gelingt", sagte Korte und erntete Applaus.

Die vollständige Dokumentation der Veranstaltung finden Sie hier.

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