Quelle: Lea Florence von der Mosel
Service aktuellSozialökologische Transformation: Auf dem Weg zur Transformationskompetenz
Die sozial-ökologische Transformation wird ohne Weiterbildung der Belegschaften nicht gelingen. Aber brauchen eigentlich auch Betriebs- und Personalräte neue Qualifikationen? Eine Tagung in Bremen gab Antworten.
[28.10.2024]
Von Joachim F. Tornau
Dass sie eines Tages noch studieren würde, hätte Barbara Gorgs nie gedacht. Die Einzelhandelsverkäuferin engagiert sich schon seit vielen Jahren als Betriebsrätin im Supermarktkonzern Edeka Minden-Hannover. Sie erlebt tagtäglich mit, wie Transformation und Digitalisierung auch den Lebensmittelhandel verändern, und weiß: „Es ist sehr schwierig, Schritt zu halten mit den Veränderungsprozessen.“ Im Markt genauso wie bei der Interessenvertretung.
Doch das soll sich jetzt ändern. Um die Transformation besser und erfolgreicher gestalten zu können, hat Gorgs sich an der Universität Bremen für einen Studiengang eingeschrieben, der eigens für Menschen wie sie geschaffen wurde: für Mitglieder von Betriebs- und Personalräten, die ihrem langjährig erworbenen Erfahrungswissen auch eine formale Qualifikation folgen lassen möchten. Master „Arbeit – Beratung – Organisation“, kurz: MABO, heißt das mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung entwickelte Studienprogramm. Seit 2023 können sich Studieninteressierte um eine finanzielle Unterstützung der Stiftung bewerben „Als Verkäuferin in Teilzeit“, sagt Barbara Gorgs, „wäre mir die Teilnahme sonst nicht möglich gewesen.“
Wie sich die Arbeit von Betriebs- und Personalräten in der Transformation verändert und welche Rolle Qualifikation und Weiterbildung vor diesem Hintergrund spielen: Darüber wurde bei einer Kooperationstagung von Hans-Böckler-Stiftung und Arbeitnehmerkammer in Bremen diskutiert. „Es geht darum, dass der Transformationsdruck nicht einfach nach unten durchgereicht wird, sondern dass die Beschäftigten Akteure oder sogar Treiber der Veränderungen sind“, sagte Peer Rosenthal, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer, in seiner Begrüßung. Und das wirke, wie Stiftungsgeschäftsführerin Claudia Bogedan betonte, auch über den einzelnen Betrieb hinaus, als Stärkung der Demokratie: „Wir haben in unserer Forschung nachgewiesen, dass Beschäftigte, die gute Arbeit, Mitsprache, echte Gestaltungsmöglichkeiten erleben, weniger dazu neigen, antidemokratische Kräfte zu wählen.“
Warum Beschäftigtenvertretungen in der sozial-ökologischen Transformation nicht einfach so weitermachen sollten wie bisher, erklärte Michaela Gröne, stellvertretende Leiterin der Abteilung Mitbestimmung und Technologieberatung der Arbeitnehmerkammer. Zwar sei Wandel ein „Kerngeschäft von betrieblicher Interessenvertretung“. Aber: Die Anzahl und das Tempo der Veränderungen nähmen so rasant zu, dass turnusmäßige Sitzungen zur Bewältigung allein nicht mehr ausreichen würden.
„Ich bin erstaunt, wie traditionell viele Gremien immer noch unterwegs sind“, sagte Gröne – und empfahl beispielsweise die Nutzung digitaler Boards, um kontinuierlich und transparent an den vielen verschiedenen Aufgaben dranbleiben zu können. Betriebliche Mitbestimmung müsse prozessorientierter werden, weniger auf die Regelung eines Status Quo orientiert. Und auch vor der Ausbildung von Expertenwissen dürfe man in den Vertretungen nicht zurückschrecken: „Es müssen nicht alle alles in der gleichen Tiefe wissen.“
Dokumentation
Eva Ahlene, Expertin für Qualifikation und Weiterbildung der Hans-Böckler-Stiftung, machte die gewachsenen Anforderungen mit aktuellen Zahlen der Betriebs- und Personalrätebefragung des WSI plastisch: Bezogen auf die Betriebsräte, die mit der Einführung neuer Technologien im Unternehmen zu tun hatten, stieg der Anteil von 51,9 Prozent im Jahr 2015 auf 76,2 Prozent im Jahr 2023. Mit Weiterbildung für die Belegschaften beschäftigten sich konstant mindestens zwei Drittel der Gremien: „Die betriebliche Mitbestimmung ist ein Schlüsselfaktor, um den Beschäftigten Qualifikation zu ermöglichen“, bilanzierte Ahlene.
Wie wichtig das ist, belegte eine von der Arbeitnehmerkammer durchgeführte Beschäftigtenbefragung bei ArcelorMittal in Bremen, deren Ergebnisse Hauptgeschäftsführer Rosenthal präsentierte. In dem Stahlwerk, in dem neben der technologischen auch die soziale Transformation gelingen soll, erkennen rund 70 Prozent der Beschäftigten einen persönlichen Weiterbildungsbedarf. Und nur vier Prozent sehen keinerlei Chancen im Transformationsprozess.
Dass die vielfältigen Umbrüche auf dem Weg zu klimaneutralem Wirtschaften in Deutschland ohne Weiterbildung der Belegschaften nicht zu bewältigen sein werden, dürfte mittlerweile kaum noch jemand bestreiten. Die Interessenvertretungen und ihre Mitglieder selbst für die Transformation zu qualifizieren, sei dagegen lange nicht im Blick gewesen, sagte Expertin Ahlene. Dabei sei der Erwerb neuer „Transformationskompetenzen“, seien sie fachlich, methodisch, kommunikativ oder auch sozial, eine wichtige Voraussetzung, um die betrieblichen Veränderungsprozesse aktiv und auf Augenhöhe mit der Unternehmensleitung mitgestalten zu können.
Der 2019 gestartete interdisziplinäre und berufsbegleitende MABO-Studiengang, für den sich Edeka-Betriebsrätin Gorgs entschieden hat, zielt genau darauf ab. In drei jeweils einjährigen Kursen können Zertifikate zur arbeitsbezogenen Beratung, zur partizipativen Personal- und Organisationsentwicklung sowie zu Arbeits- und Technikgestaltung erworben werden, die einzeln für sich stehen oder am Ende durch eine Masterarbeit gekrönt werden können. Als „wissenschaftlich reflektierte Handlungsfähigkeit“ beschrieb Simone Hocke vom Zentrum für Arbeit und Politik der Universität Bremen das Lernziel. „Besonders wichtig ist uns die Theorie-Praxis-Verzahnung.“
Und: Erfahrungswissen wird anerkannt. „Wer mehrere Jahre lang in verantwortungsvoller Funktion Betriebs- und Personalratsarbeit geleistet hat, erwirbt Kompetenzen auf Bachelor-Niveau“, sagte Hocke. Ein Studium ist damit auch ohne Abitur und Erststudium möglich. Das kommt gut an. Mehr als 50 Teilnehmende gab es bereits, die Tendenz ist deutlich steigend, nicht zuletzt dank der Förderung durch die Hans-Böckler-Stiftung.
Vier von ihnen berichteten bei der Tagung von ihren Erfahrungen. Dass sie dem Arbeitgeber jetzt anders gegenübertreten würden. Dass sie selbstbewusster geworden seien. Dass sie eine Horizonterweiterung erlebt und neue Denkanstöße bekommen hätten. Barbara Gorgs bekannte sich offen dazu, vorher „richtig Schiss“ gehabt zu haben. Aber mittlerweile ist sie so begeistert, dass sie den Betriebs- und Personalratsmitgliedern im Saal einen klaren Appell mit auf den Weg gab: „Fangt einfach an und macht es! Alles andere findet sich.“