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Herbstforum 2022 Service aktuell

WSI-Herbstforum 2022: "Dem Chef widersprechen können, ohne gekündigt zu werden"

„Demokratie in Arbeit“ lautete der Titel unseres diesjährigen WSI-Herbstforums. Was diese Demokratie leistet und wie sie sich weiterentwickeln muss, diskutierten Gäste aus der Wissenschaft und Praxis.

[18.11.2022]

Von Jeannette Goddar und Fabienne Melzer

Manchmal hilft ein Blick von außen, die eigene Lage deutlicher zu sehen. Einen solchen Blick warf Oliver Nachtwey, Professor an der Universität Basel, von der Schweiz auf Deutschland und fragte zu Beginn seines Vortrags beim WSI-Herbstforum in Berlin: „Warum ist Deutschland im Verhältnis zu Großbritannien und den USA stabiler, trotz gewachsener Ungleichheiten?“ Seine Hypothese: „Weil es in Deutschland eine erweiterte Form der Demokratie gibt, die Mitbestimmung.“

Claudia Bogedan, Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung, verwies in ihrer Begrüßung auf die Ergebnisse des WSI, die zeigen: „Es gibt einen Zusammenhang zwischen der demokratischen Verfasstheit einerseits und den Löhnen und Arbeitsbedingungen andererseits.“ Darüber hinaus verwies Bettina Kohlrausch, Direktorin des WSI, auf die Wirkung der Mitbestimmung auf die Demokratie insgesamt: „Wer an seinem Arbeitsplatz mitreden kann, neigt seltener zu antidemokratischen Ansichten und fürchtet sich auch weniger vor dem technischen und digitalen Wandel.“ Auch aus diesem Grund sollten Gesellschaft und Regierende ein Interesse daran haben, die drei Säulen von Demokratie in Arbeit zu stärken: betriebliche Mitbestimmung, Unternehmensmitbestimmung und Tarifautonomie. „Denn am Ende muss die Allgemeinheit einspringen, wenn der Lohn nicht zum Leben reicht“, sagte Bogedan.

Um die Stärkung der drei Säulen ging es dann in den Vorträgen, Foren und Diskussionsrunden.

In der historischen Herleitung zeigte Oliver Nachtwey eine Besonderheit von Demokratie in Arbeit: „Die industriellen Staatsbürgerrechte berühren alle Ebenen: die zivilen Staatsbürgerrechte, wie die Meinungsfreiheit – denn es ist ein großes Gut, seinem Chef widersprechen zu können, ohne gekündigt zu werden. Auch das Gut, eine Vertretung organisieren zu können, ist enorm wichtig“, sagte Nachtwey. Gleichzeitig wies er daraufhin, dass fast alle sozialen Rechte zunächst von Gewerkschaften erkämpft und dann verallgemeinert wurden, wie etwa beim Kampf der IG Metall um Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.

Mitbestimmung mit zeitgemäßer, digitaler Kommunikation

Das gilt bis heute. So schloss die IG BCE im August eine Vereinbarung mit dem Arbeitgeberverband Chemie über ein digitales Zugangsrecht der Gewerkschaften zum Betrieb ab. Viele Menschen arbeiten heute mobil und sind über den herkömmlichen Betrieb nicht mehr erreichbar. Für IG BCE-Vorstandsmitglied Karin Erhard kommt es aber gerade in diesen Zeiten darauf, als Gewerkschaft für die Beschäftigten da zu sein. „Die Vereinbarung ist ein wichtiger Türöffner. Nur mit zeitgemäßer, digitaler Kommunikation können wir Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung zukunftsfähig machen“, sagte Erhard. Was die IG BCE vorgemacht hat, will die Bundesregierung nun in ein Gesetz für alle gießen.

Gerade die Digitalisierung, aber auch die zunehmende Zersplitterung von Belegschaften in Stamm-, Leih- und Werksvertragsbeschäftigte, fordert die Erneuerung der industriellen Staatsbürgerrechte heraus. „Früher waren in einem IG Metall Betrieb alle Beschäftigten Teil des Unternehmens, heute sind das Catering und die Security outgescourct und die Ingenieure arbeiten über Werkverträge“ sagte Nachtwey. Gerade Beschäftigte im Niedriglohnsektor werden von der Mitbestimmung und sozialen Errungenschaften ausgeschlossen und die Digitalisierung sorge in Dienstleistungsbranchen für eine völlige Auflösung der Belegschaft. „Ein Essenskurier hat keinen Vorgesetzten mehr. Er bekommt seine Aufträge vom Algorithmus“, sagte Nachtwey. „Wenn etwas nicht funktioniert, gibt es niemanden, den er anrufen kann, aber die App informiert ihn, wenn er zu langsam ist.“

Wie Mitbestimmung hier gelingen kann, war auch das Thema eines der Foren. Internet-Plattformen verstehen sich in aller Regel als Auftraggeber, nicht als Arbeitgeber. Den Clickworkern soll das signalisieren: Sie können die Allgemeinen Geschäftsbedingungen hinnehmen, wie sie sind – oder wegbleiben. Oft klappt das: Sogar in der politisch aktiven Essenskurierbranche beobachtete Heiner Heiland von der Georg-August-Universität Göttingen 2020 einen „Trend zur Exit-Option“. Jeder Zweite ist laut seinen Daten aus dem Forschungsprojekt „Organisierung und Interessenvertretung in der plattformvermittelten Essenskurierarbeit“ auf der Suche nach einem neuen Job.

Zugleich attestiert der Soziologe der Branche eine „lebendige und aufregende“ Organisierung von Beschäftigten, etwa bei den Protesten der Kuriere des Lieferdienstes Gorilla, oder in der Facebook-Gruppe „Liefern am Limit“. Für die Gewerkschaften sei es nicht leicht gewesen, dieser sich für sie ungewohnten Zielgruppe zuzuwenden, so Heiland. Die gute Nachricht: Der Trend gehe klar zur Festanstellung – und zur Gründung von Betriebsräten.

  • Herbstforum 2022

Mit Blick auf das Arbeitsrecht zog HSI-Direktorin Johanna Wenckebach eine gemischte Bilanz: Im Hinblick auf Union Busting und um sich greifende Kontrollmöglichkeiten durch Algorithmen seien die Lücken in einem 70 Jahre alten Betriebsverfassungsgesetz groß. Mit Blick auf den – von ihr selbst mitverfassten – Entwurf eines neuen Betriebsverfassungsgesetzes plädierte sie für eine grundlegende Reform. Neben digitalen Zugangsrechten für Gewerkschaften brauche es mehr Mitbestimmung bei der Künstlichen Intelligenz wie im Datenschutz und besseren Schutz für die Gründerinnen und Gründer von Betriebsräten.

Zurzeit blicken alle auch nach Europa, wo die EU-Kommission an einer Richtlinie arbeitet. Anhand von fünf Kriterien – von der Arbeitszeitgestaltung bis zur elektronischen Überwachung – soll beurteilt werden, ob eine abhängige oder selbstständige Tätigkeit vorliegt. Sind zwei der Kriterien erfüllt, wird ein Arbeitnehmerstatus vermutet. „Die Beweislast soll demnach beim Arbeitgeber liegen“, erklärte die HSI-Direktorin, „wenn das tatsächlich in die Richtlinie einfließt, ist das ein großer Schritt.“ Für mehr als vorsichtigen Optimismus sieht sie aber keinen Grund.

Bei anderen Themen haben jedoch auch europäische Regeln ihre Tücken, wie Oliver Nachtwey am Beispiel der Arbeitnehmerfreizügigkeit zeigte. Mobilität ist für abhängig Beschäftigte ein zentrales Recht, doch es hat innerhalb der europäischen Union Standards abgesenkt. So brach in der Fleischindustrie das gewerkschaftliche System der Arbeitnehmervertretung zusammen. „Daran waren nicht rumänische Wanderarbeiter schuld“, sagte Nachtwey. „Das Ausnutzen der Entsenderechtlinie hat einen rechtsfreien Raum geschaffen.“

„Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“

Passend dazu stellte am Nachmittag die Regisseurin Yulia Lokshina ihren 2020 mehrfach preisgekrönten Film „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ vor. Darin wirft sie einen Blick in die Fleischproduktion. Ohne einen Schlachtbetrieb von innen zu besuchen, gelingt der Regisseurin in ihrem Dokumentarfilm ein Porträt der überwiegend osteuropäischen Arbeiterinnen und Arbeiter und ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse.

Im Gespräch über einzelne Filmausschnitte wurde deutlich: Auch nach dem 2021 in Kraft getretenen Gesetz, das Werkverträge in Schlachtung und Zerlegung verbietet, bleibt viel zu tun. So sei die Debatte über Migration davon geprägt, diese als „Störfaktor“ oder nach Maßstäben der Verwertbarkeit zu betrachten, erklärte Lisa Riedner, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München zu bulgarischen (Wander-)Arbeitnehmerinnen und -arbeitnehmernn forscht. Ihre Forderung: „Eine Migrationsgesellschaft, die statt auf erzwungene Einsprachigkeit auf Mehrsprachigkeit setzt.“ Serife Erol Vogel, Mitarbeiterin im gemeinsamen Projekt des HSI und WSI „Neuordnung der Arbeitsbeziehungen in der Fleischindustrie“, forderte mehr Zeit für den Erwerb der deutschen Sprache: „Ohne diese wird Teilhabe in Betrieben massiv erschwert.“

Claudia Bogedan eröffnete das abschließende Podium mit klaren Worten: „Der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit lässt sich nicht auflösen“. In Zeiten, in denen viel Erreichtes brüchig werde, sei klar: Der Kapitalismus wird Lücken, die man ihm lässt, immer nutzen. Und die Lücken seien zurzeit groß. „Klima, Ökologie, Geschlechtergerechtigkeit, Vielfalt – keins der großen Themen unserer Zeit ist seiner Bedeutung entsprechend im Betriebsverfassungsgesetz verankert“, erklärte Bogedan. Andrea Arcais, Geschäftsführer der Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE, sekundierte mit Blick auf das stete Mantra, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer „mitnehmen“ zu wollen: „Niemand will mitgenommen werden. Es geht um Mitgestaltung auf Augenhöhe.“

Wie diese gelingen kann, wurde an mehreren Beispielen erörtert. Der rheinland-pfälzische Arbeitsminister Alexander Schweitzer (SPD) berichtete von einem Transformationsrat, der in seinem Bundesland seit 2020 auf Staatskanzlei-Ebene angesiedelt ist. Darin beraten Vertreter von Gewerkschaften, Unternehmerverbänden, Kammern, der Bundesagentur für Arbeit, und der Landesregierung gemeinsam über Fragen, die für die Transformation zentral sind.

Wie ernst die Lage in den Betrieben bei Fragen der Transformation ist, hatte die zweite Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, schon bei der jährlichen Engineering-Tagung im September noch einmal deutlich gemacht. Sie zitierte eine Umfrage ihrer Gewerkschaft, wonach rund die Hälfte der Befragten angab, dass ihr Betrieb keine Strategie für die Transformation habe. Deshalb forderte Benner: „Viele Betriebsräte haben Alternativkonzepte entwickelt. Die werden von Arbeitgebern oft einfach abgelehnt. Wir brauchen als Kernstück einen erzwingbaren Interessenausgleich nach Paragraf 112 Betriebsverfassungsgesetz.“

„Demokratie auf Betriebsebene braucht Zeit“

Linda Nierling untersucht im Auftrag der Böckler-Stiftung demokratische Best-Practice-Modelle auf betrieblicher Ebene. Im ersten Jahr des Forschungsprojekts stehen drei „visionäre Gestaltungspraktiken“ im Fokus. Erstens: Die internationale Plattformgenossenschaft CoopCycle, in der sich – auch einige deutsche – Essenslieferdienste zusammengeschlossen haben. „Dort hat man sich zum Beispiel gegen algorithmisches Management, und für menschliche Disponenten ausgesprochen“, erklärte die am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) tätige Soziologin.

Weiter im Blick: Der „Lucas Plan“ aus dem Jahre 1976. Als die britische Lucas Aerospace Corporation drohte, mit Blick auf den technologischen Wandel Tausende Stellen abzubauen, entwickelten Vertrauensleute in Abstimmung mit den Arbeitern einen Alternativplan. „Dialysegeräte statt Rüstung“ habe das Motto grob gelautet. Allerdings scheiterte der Plan an der Unternehmensführung.

Bis heute erfolgreich arbeitet Mondragon im Baskenland, die weithin als Modell alternativen Wirtschaftens gilt: Mehr als 90 Kooperativen haben sich in einer Genossenschaft zusammengeschlossen, darunter solche, die Autoteile und Elektronik produzieren, eine Bank und eine Universität. Eine zentrale Erkenntnis gab Nierling bereits preis: „Demokratie auf Betriebsebene braucht Zeit.“ Die allerdings sei ökonomisch sinnvoll investiert, ergänzte Claudia Bogedan abschließend: „Ergebnisse gründlicher Aushandlungsprozesse halten länger.“

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