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Zitat von Christina Schildmann, Leiterin der Forschungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung Service aktuell

Kinderbetreuung: Nur Teilzeit in Kitas?

Warum ist es für viele Erzieher*innen undenkbar, ihre Arbeitszeit aufzustocken, während Eltern täglich bangen, ob die Kita geöffnet ist? Christina Schildmann erläutert die Ursachen und die Notwendigkeit von Investitionen in ein gutes Betreuungsnetz.

[22.07.2024]

Von Christina Schildmann

„Oh nein“, werden viele Eltern gedacht haben, als sich in Berlin wieder einmal ein Streik der Kita-Erzieher*innen ankündigte. Seit Monaten erscheint es vielen Eltern wie ein tägliches Roulette, ob die Kita geöffnet oder – wegen Krankheit – geschlossen ist. Genau diesen Ausnahmezustand wollen die Erzieher*innen und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mit dem Entlastungstarifvertrag überwinden: die Personalnot, die hohen Krankenstände, die eingeschränkten Öffnungszeiten, die verzweifelten Eltern, die möglicherweise unbetreuten Kinder.

Wie notwendig ein solcher Tarifvertrag ist, zeigt die von uns geförderte, kürzlich erschienene Studie „Nur Teilzeit in der Kita? Arbeitszeitumfang und Beschäftigungspotenziale in der Kindertagesbetreuung“ von Nina Weimann-Sandig und Bernhard Kalicki. Es kommt selten vor, dass uns das Ergebnis einer Studie so überrascht hat, dass die Grundannahme, mit der wir in ein Forschungsprojekt gehen, so gründlich widerlegt wird.

Aber von Anfang an: „Ich pflege wieder, wenn ...“. So hieß die Studie, die wir vor zwei Jahren zusammen mit der Arbeitnehmerkammer Bremen, der Arbeitskammer des Saarlands und dem Institut Arbeit und Technik (IAT) an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen veröffentlichten. Wir wollten wissen: Wie viele Pflegekräfte, die aus ihrem Beruf ausgestiegen sind oder ihre Arbeitszeit reduziert haben, sind bereit, zurückzukehren bzw. wieder aufzustocken, und unter welchen Bedingungen. Das Ergebnis war frappierend: Mindestens 300.000 zusätzliche Pflegekräfte stünden in Deutschland durch Rückkehr in den Beruf oder Aufstockung der Arbeitszeit zusätzlich zur Verfügung – sofern sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege deutlich verbessern. Und zwar bei vorsichtiger Kalkulation: In einem optimistischen Szenario waren es sogar bis zu 660.000 Vollzeitkräfte.

Ein riesiges Potenzial also. Wir fragten uns: Gilt das, was für Pflegekräfte gilt, auch für Kita-Erzieher*innen? Die Ergebnisse liegen nun vor, und das, was das Forscher*innen-Duo Nina Weimann-Sandig und Bernhard Kalicki herausgefunden hat, lässt die Alarmglocken klingeln: Nur sieben Prozent der Befragten können sich vorstellen, ihre Arbeitszeit aufzustocken – viele stehen sogar kurz davor, ihre Arbeitszeit weiter zu reduzieren.

Warum ist das so? Man könnte – und ich betone den Konjunktiv – die Studie als eine Häufung von individuellen Arbeitszeitpräferenzen lesen. Das scheint mir aber nicht schlüssig. Ich lese daraus eine strukturelle Überlastung; ein System, das wenig Luft zum Atmen lässt und Arbeitsbedingungen, die an die psychische und physische Belastungsgrenze gehen und darüber hinaus. Da ist es kein Wunder, dass eine Stundenaufstockung für die meisten Erzieher*innen aktuell unvorstellbar erscheint.

Auf einer Meta-Ebene ziehe ich zwei Schlüsse. Erstens: Die viel diskutierte sozial-ökologische Transformation wird ohne gute soziale Infrastrukturen nicht funktionieren. Darum brauchen wir nicht nur ein gutes Wasserstoffnetz, sondern auch ein gutes Betreuungsnetz. Zweitens: Die politische Denkfigur, man müsse erst erwirtschaften, was man dann im Sozialstaat „konsumiert“, ist beim Thema Betreuung besonders daneben. Für Eltern, insbesondere für Frauen gilt: Wenn der Staat hier nicht investiert, wird auch nichts erwirtschaftet. Erst die Investition in die Kita-Betreuung macht die Beteiligung am Arbeitsmarkt für Eltern möglich.

Christina Schildmann leitet die Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung. 

Weitere Informationen

Flucht in die Teilzeit – Böckler Impuls 
Kita-Beschäftigte: Flucht in die Teilzeit? – Systemrelevant Folge 194 
Betreuungssituation von Eltern – WSI-Erwerbspersonenbefragung

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