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Sebastian Sick zur Mitbestimmungslücke in den Europäischen Aktiengesellschaften (SE) Service aktuell

Mitbestimmungslücke und Missbrauchsschutz in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE): Der Gesetzgeber ist am Zug

Die Umgehung von Mitbestimmung in großen Unternehmen nimmt zu. Die Zukunft der Mitbestimmung und die gesellschaftliche Verantwortung solcher Unternehmen stehen auf dem Spiel. Der Schutz der Mitbestimmung ist von entscheidender Bedeutung, Sebastian Sick betont die Notwendigkeit, sie zu wahren.

[20.11.2023]

Kooperation und Sozialpartnerschaft bilden einen Grundpfeiler des Erfolgs der sozialen Marktwirtschaft. Sie sind sicherlich Gründe dafür, dass Deutschland in der Vergangenheit besser durch Krisen hindurchgekommen ist als viele andere Länder. Angesichts der immensen Herausforderungen der sozial-ökologischen Transformation ist eine gelebte Sozialpartnerschaft mehr denn je gefragt. Als Kernbestandteil gehört dazu die Unternehmensmitbestimmung.

Dennoch hat das Ausmaß der Mitbestimmungsvermeidung seit den 2000er Jahren dramatisch zugenommen. Mindestens rund 400 Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten im Inland umgehen die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Das ist mehr als jedes dritte Unternehmen und betrifft aktuell deutlich mehr als zwei Millionen Beschäftigte. Im Bereich der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) ist das Problem aufgrund des „Einfriereffekts“ besonders gravierend: Wird ein Unternehmen noch vor dem Erreichen der maßgeblichen Arbeitnehmerschwellenwerte für die Mitbestimmung in eine SE umstrukturiert, so verbleibt es auch dann ohne Mitbestimmung bzw. bei niedrigem Mitbestimmungsniveau, wenn es diese Schwellenwerte durch späteres Belegschaftswachstum überschreitet. Insbesondere Familienunternehmen nutzen diese präventive Mitbestimmungsflucht. Aber selbst große DAX-Konzerne wie Vonovia können so die Mitbestimmung im Aufsichtsrat verhindern. Es ist alarmierend, wenn in fünf von sechs SE mit mehr als 2000 Inlandsbeschäftigten die paritätische Mitbestimmung fehlt. Das stellt eine Gefahr für die Zukunft der Mitbestimmung dar. Man darf fragen: Werden diese Unternehmen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht? Oder ist soziale Nachhaltigkeit nur ein Lippenbekenntnis?

Wer den Wert der Mitbestimmung und ihren Beitrag für die Gesellschaft bewahren möchte, muss den „Einfriereffekt“ bei der SE unterbinden. Das ist auch ausdrückliches Ziel des Koalitionsvertrags der Ampelkoalition. Prof. Dr. Rüdiger Krause (Uni Göttingen) hat in einem Gutachten die rechtlichen Möglichkeiten des deutschen Gesetzgebers ausgelotet. Er schlägt „als dynamisches Element" eine Konkretisierung des speziellen Missbrauchsverbots im deutschen SE-Recht vor: Demnach soll eine gesetzliche Fiktion oder Vermutung für einen Missbrauch der SE-Rechtsform dann greifen, wenn innerhalb von vier Jahren nach Gründung die Schwellenwerte der Mitbestimmungsgesetze überschritten werden. Auch für Fälle, in denen die Schwellen erst nach einer längeren Zeitspanne überschritten werden, könnte der Gesetzgeber Anhaltspunkte schaffen, bei denen von Missbrauch auszugehen ist. Als Rechtsfolge sollen Neuverhandlungen über die Mitbestimmung im Aufsichtsrat mit einer Auffangregelung vorgesehen werden, die sich an der aktuellen Größe des Unternehmens orientiert.

Nun ist die Bundesregierung gefragt, diese Vorschläge umzusetzen. Natürlich sind darüber hinaus europäische Mindeststandards der Mitbestimmung wichtig. Ein Verschieben der Verantwortung auf die europäische Ebene kann hier jedoch nicht die Lösung sein.

Dr. Sebastian Sick ist Referatsleiter Unternehmensrecht und Corporate Governance im Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung (I.M.U.)

Weitere Informationen

Europäische Aktiengesellschaft: Erosion der Mitbestimmung lässt sich verhindern

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