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Daniel Hay, Direktor des I.M.U.: Mitbestimmung auszuhöhlen ist politisch sowie ökonomisch ein vermeidbarer Fehler und eine schwere Hypothek für die Zukunft der sozial-ökologischen Transformation. Service aktuell

Mitbestimmung: Gesetzliche Anforderungen versus Realität

Die Erosion der Mitbestimmung gefährdet Wirtschaft und Gesellschaft. Daniel Hay zeigt alarmierende Zahlen auf und plädiert für Reformen der nationalen und europäischen Mitbestimmungsgesetze.

[24.06.2024]

Kurz nach der Europawahl und wenige Wochen bevor drei Landtagswahlen anstehen, beschäftigt uns die Widerstandsfähigkeit unserer Demokratie noch mehr als sonst. Die Stimmung ist aufgeheizt und verlangt Menschen, die sich aktiv um gesellschaftlichen Zusammenhalt bemühen, viel ab. Dass die Böckler-Konferenz vor rund zwei Wochen unter dem Leitthema „Mitbestimmte Unternehmen – Starke Demokratie“ stattfand, war daher kein Zufall. Mehr als 250 Arbeitnehmervertreter*innen in Aufsichtsräten, Mitbestimmungsexpert*innen und Vertreter*innen aus der Wissenschaft kamen zusammen, um über die Verantwortung von Mitbestimmung für eine resiliente Demokratie zu diskutieren.

Führende Expert*innen sprachen über den Wirtschaftsstandort Deutschland, über nachhaltige Corporate Governance und die Zukunft der Mitbestimmung. In Zeiten, in denen ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltiges Handeln im Sinne der ESG-Kriterien eines der prioritären Ziele vieler Unternehmen ist, ist klar, dass verschiedene Perspektiven in das Unternehmensinteresse mit einbezogen werden müssen. Dabei ist unstrittig, dass auch das Interesse der Arbeitnehmer*innen dazugehört. Die Aufgabe des Aufsichtsrats, sein Handeln am Unternehmensinteresse auszurichten, kann also in unserem Verständnis nur erfüllt werden, wenn der Aufsichtsrat mitbestimmt ist und die Arbeitnehmervertreter*innen im Gremium ihre Perspektive einbringen können.

Umso erschreckender sind die neuesten Zahlen zur Mitbestimmungsvermeidung, die wir parallel zur Konferenz veröffentlicht haben. Die Anzahl der Unternehmen, die Mitbestimmung durch legale Tricks vermeiden oder rechtswidrig ignorieren, ist innerhalb weniger Jahre noch einmal drastisch angestiegen. Von den 1.084 Unternehmen, die mehr als 2.000 inländische Beschäftigte haben und deren Aufsichtsrat eigentlich hälftig durch Arbeitnehmervertreter*innen besetzt sein müsste, sind es nur 656. Damit sank der Anteil paritätisch mitbestimmter Unternehmen innerhalb von nur drei Jahren um deutliche 7 Prozentpunkte auf 60,5 Prozent (2022). In rund 40 Prozent der Unternehmen dieser Größe fehlt also die demokratische Beteiligung der Beschäftigten im Aufsichtsrat. Die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer*innen erhöhte sich von insgesamt gut 2,1 Millionen (2019) auf mindestens 2,45 Millionen (2022).

Skandalös ist, dass insbesondere die oft als besonders sozial verstandenen Familienunternehmen in Deutschland die Mitbestimmung ihrer Beschäftigten umgehen. Rund zwei Drittel der Mitbestimmungsvermeider und -ignorierer sind in Familienhand.

Wenn demokratische Rechte nur auf dem Papier stehen, stellt das sowohl die Glaubwürdigkeit eines Rechtsstaats in Frage als auch die soziale Marktwirtschaft als solche. Mitbestimmung auszuhöhlen ist politisch sowie ökonomisch ein vermeidbarer Fehler und eine schwere Hypothek für die Zukunft der sozial-ökologischen Transformation. Die politischen Entscheidungsträger*innen in Berlin und Brüssel sind also dringend aufgefordert, die Lücken in deutscher und europäischer Gesetzgebung zu schließen. Hervorzuheben sind insbesondere die sogenannte Drittelbeteiligungslücke sowie die Umgehungsmöglichkeiten durch die Verwendung der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) oder ausländischer Rechtsformen. Dies käme nicht nur den Beschäftigten in den jeweiligen Unternehmen zugute, sondern auch der unter Druck geratenen gesellschaftlichen Demokratie.

Dr. Daniel Hay ist der Wissenschaftliche Direktor des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung.

Weitere Informationen

Die Mitbestimmungsvermeidung – Systemrelevant Podcast, Folge 196
Viele Unternehmen umgehen Mitbestimmung

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