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Magazin MitbestimmungGroßbritannien: Zeit der Verhandlungen
Der Brexit wird in Zukunft die Arbeit von Eurobetriebsräten erschweren. Während die Politker noch taktieren, haben manche Arbeitnehmervertreter schon vorgesorgt. Von Kay Meiners
In einer Rede vor Diplomaten und Geschäftsleuten machte der britische Premierminister Boris Johnson nur drei Tage nach dem Brexit klar, dass es schwierig werden könnte, sich mit ihm über gemeinsame Standards beim Umweltschutz, bei Arbeitnehmerrechten oder staatlichen Wirtschaftshilfen zu verständigen: „Ich sehe keine Notwendigkeit, uns an eine Vereinbarung mit der EU zu binden“, sagte Johnson in London.
Was bedeutet das für die britischen Arbeitnehmervertreter, die in in den Europäischen Betriebsräten (EBR) großer multinationaler Unternehmen sitzen, wie etwa Unilever? Zum Angebot des britisch-niederländischen Verbrauchsgüterkonzerns gehören Marken wie Langnese, Signal oder Domestos. In rund 100 Ländern weltweit, darunter allen relevanten EU-Staaten, beschäftigt Unilever rund 161 000 Menschen. Seit 1996 gibt es einen EBR mit 36 Mitgliedern aus 19 Ländern, mit jeweils vier Deutschen und vier Briten als stärksten Gruppen. Doch Hermann Soggeberg, der Vorsitzende des Gremiums, muss sich keine Sorgen machen. Schon bevor klar war, ob Großbritannien die EU verlassen würde, brachte der EBR das Thema auf den Verhandlungstisch. Er kann einen Brief des Managements vom November 2019 vorzeigen, der zusichert, dass auch im Falle eines Brexit die „britische Delegierten Vollmitglieder des EBR bleiben und der EBR auch bei britischen Themen informiert und konsultiert wird.“ Rechtswirksam ist so ein Brief nicht, dazu brauchte es eine Ergänzungsvereinbarung. Aber Soggeberg sagt: „Der Brief reicht uns. Ich habe nie erlebt, dass das Management so eine Zusicherung nicht einhält.“
Schwer zu sagen, wie viele Gremien schon ähnliche Zusagen erhalten haben oder sogar ergänzende Vereinbarungen abschlossen haben. Es dürften aber einige sein. Schließlich kam der Brexit nicht überraschend. Wer sich noch nicht gekümmert hat, kann jetzt die Übergangszeit nutzen, die mindestens bis Ende dieses Jahres reicht. In dieser Zeit, in der das Vereinigte Königreich die künftige Beziehung mit der EU aushandelt, gilt weiter EU-Recht. Nach einer EU-Richtlinie von 1994 kann in Unternehmen mit mehr als 1000 Arbeitnehmern ein EBR gegründet werden, wenn von den Beschäftigten mindestens 150 in zwei Ländern tätig sind. Seit 1994 wurden rund 1000 solcher Gremien gegründet, die mehr als 17 Millionen Beschäftigte vertreten. Falls Großbritannien die EBR-Richtlinie nicht mehr anerkennt, würde dies, wo britisches Recht oder britische Mitglieder im Spiel sind, zu juristischen Unersicherheiten führen.
Dabei ginge es auch anders. Der DGB-Infodienst „einblick“ schrieb, für Großbritannien sei auch ein „Norwegen-Modell“ oder ein „Schweiz-Modell“ denkbar. „Norwegen“ bedeutet: England bleibt Teil des Europäischen Wirtschaftsraumes, in dem die EBR-Richtlinie automatisch gilt. „Schweiz“ bedeutet: Die EBR-Richtlinie würde freiwillig per Beschluss übernommen. Die Idee, dass Großbritannien wieder Mitglied der 1960 in Stockholm gegründeten Europäischen Freihandelsorganisation (EFTA) werden könnte, zu deren Gründungsmitgliedern es einst zählte, ist schon länger vom Tisch. Die EFTA führt mit nur noch vier Mitgliedern – Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz, von denen die ersten drei mit der EU den Europäischen Wirtschaftsraum bilden – nur ein Schattendasein, seit 1973 Großbritannien und Dänemark austraten, um Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft zu werden. Allenfalls das Modell „Schweiz“ stünde zur Debatte, ist aber unter Johnson ungewiß.
Rund 2400 Briten sind Mitglieder eines EBR
Von den knapp 20 000 Arbeitnehmervertretern in EBR stammen nach Angaben des Europäischen Gewerkschaftsinstitutes (ETUI) rund 2400 aus England. Davon sitzen rund 850 in Gremien die nach britischem Recht gegründet wurden. Dieser Personenkreis könnte nach Ende der Übergangsfrist am ehesten mit Unsicherheiten zu kämpfen haben. Das ETUI weist allerdings darauf hin, dass viele EBR über Vereinbarungen mit ihren Unternehmen sogar Mitglieder von außerhalb der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraums aufgenommen haben: „Wenn die Erfahrung aus der Vergangenheit ein Ratgeber ist, dann werden nur wenige britische Arbeitnehmervertreter erleben, dass man ihre Sitze in den Gremien infrage stellt.“ Unklar sei aber, auf welche rechtliche Basis sie sich berufen könnten, was „Fragen nach der Durchsetzbarkeit ihrer Rechte“ aufwerfe. Die Anwaltskanzlei Bird & Bird schlägt vor zu prüfen, ob man EBR, die nach britischem Recht gegründet wurden, nach dem Recht eines anderen EU-Staates neu aufzustellt. Ein Mitarbeiter der Kanzlei schreibt: „Die Wahl des Rechts hat strategische Auswirkungen auf die Zusammensetzung des EBR, seinen Entscheidungsprozess und seine Stellung vor Gericht und wird auch dazu führen, dass der EBR den nationalen Rechtskonzepten, den Arbeitsbeziehungen und der Kultur des gewählten Rechts unterliegt.“
Schlichtungsstelle stärkt die EBR
Angesichts der Entschlossenheit des britischen Premiers Johnson ist es bemerkenswert, dass das Central Arbitration Committee (CAC), eine Schlichtungsstelle, die in vielen arbeitsrechtlichen Fragen faktisch als erste Instanz agiert, noch im Oktober 2019 die Rechtsposition von EBR gestärkt hat. Es hat einer Arbeitnehmervertretung das Recht zuerkannt, einen Rechtsanwalt mit der Einreichung einer Klage zu beauftragen und sich die Kosten vom Unternehmen erstatten zu lassen. Die britische Tochtergesellschaft des US-Konzerns Verizon wurde verurteilt, Anwaltskosten des EBR in Höhe von rund 12.000 Euro zu erstatten. Eine anwaltliche Konsultation sei, so das Gericht, ein erforderliches Arbeitsmittel.
Diese Bewertung des CAC sei „ein gutes Signal für Eurobetriebsräte“, sagt Sebastian Sick, Experte für Unternehmensrecht am I.M.U. der Hans-Böckler-Stiftung. Die Beratungsfirma EWC Academy spricht gar von einer „historisch weitreichenden Entscheidung“, die mit der angelsächsischen Tradition der Arbeitsbeziehungen breche: Britische Gewerkschafter seien „gewohnt, ausschließlich mit Gewerkschaften zu verhandeln, denn Betriebsräte gab es früher nicht“.
Die Entscheidung des CAC, so viel steht fest, wird ihren Wert durch den Brexit nicht verlieren, weil es weiterhin EBR geben wird, die britische Mitglieder haben und die in Großbritannien aktiv sind. „Auch nach dem Brexit bleibt Großbritannien ein Teil Europas“, sagt Norbert Kluge, „und die Arbeitnehmer bleiben unsere Kollegen.“ Er kündigt an, auch in Zukunft für Mitbestimmungsrechte zu kämpfen, „besonders in grenzüberschreitenden Unternehmen“.
Europäische Betriebsräte (EBR) und der Brexit
Es gibt 138 EBR nach britischem Recht. Dazu kommen 730 EBR in Unternehmen, die in England aktiv sind, die aber nicht nach britischem Recht gegründet wurden. In den Europäischen Betriebsräten, die es insgesamt in Europa gibt, stehen 850 britische Mitglieder in Gremien nach britischem Recht und 1569 britische Mitglieder in Gremien nach ausländischem Recht 17 465 EBR-Mitgliedern gegenüber, die aus anderen Staaten kommen.