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Magazin Mitbestimmung

Mitbestimmung: Wie selbstbestimmte Bürger arbeiten wollen

Ausgabe 07/2015

Weil demokratische Organisationen innovativer sind als streng hierarchische, feilen Akteure aus Wissenschaft, Betrieben und Politik an der Gestalt des demokratischen Unternehmens. Zentral dabei: die Stärkung individueller Bürgerrechte am Arbeitsplatz. Von Thomas Klebe, Arbeitsrechtler und Leiter des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht in Frankfurt/Main

Auf Kongressen und in politischen Diskussionen wird häufig die Notwendigkeit formuliert, die Unternehmen zu demokratisieren. Schon aus Eigeninteresse müssten diese ihren Beschäftigten deutlich mehr Rechte und Freiheiten einräumen. Beispiele werden angeführt, etwa dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer autonom ihren Urlaub festlegen ebenso ihre Arbeitszeiten und -aufgaben, die Führungskräfte wählen, Einfluss auf die Unternehmensstrategie haben und auch entscheidend bei der Frage mitsprechen, ob ein Eigentümer seine Anteile verkaufen kann und wenn ja, an wen.

Bestehen also realistische Chancen zu einer demokratischen Umwälzung? Und damit zu einer entsprechenden Humanisierungspolitik in den Betrieben, die den Beschäftigten neue individuelle Möglichkeiten, ja Rechte gibt, die Entscheidungen im Unternehmen mit zu treffen? Hat das fordistische Großunternehmen mit strenger Hierarchie und konsequent arbeitsteiliger Organisation, auf Befehl und Gehorsam basierend, als Leitbild ausgedient, weil innovative, mitdenkende und eigenverantwortlich handelnde Beschäftigte gefragt sind?

Die Debatte trifft durchaus die Bedürfnisse der arbeitenden Menschen. Sie wollen zwar nicht immer und ständig mitentscheiden, sie wollen sich aber durchaus selber stärker einbringen, wenn es um die Vertretung ihrer Interessen geht – wie 2013 eine Befragung der IG Metall von einer halben Million Beschäftigten, davon zirka ein Drittel Nichtmitglieder, gezeigt hat. Dies bejahen rund 44 Prozent der Befragten bei gleichzeitig hoher Zustimmung zur Arbeit der Betriebsräte und der IG Metall. In dieselbe Richtung geht eine aktuelle Umfrage der TU München: Danach wünschen sich 62 Prozent der 18- bis 65-Jährigen, dass Unternehmen demokratischer geführt werden.

Die Debatte ist nicht neu. Doch ist die Blickrichtung etwas anders als in der Vergangenheit. „Endet die Demokratie am Werkstor?“, war eine populäre Formulierung, die das Thema in früheren Jahren auf den Begriff brachte. Einer der bekanntesten Vorstöße waren dabei die Ideen des SPD-Politikers und Gewerkschafters Hans Matthöfer, der in den „Gewerkschaftlichen Monatsheften“ 1968 einen Vorschlag zur Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes machte. Neben einem besseren Schutz der Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten – jetzt geregelt in § 75 BetrVG – sah sein Entwurf für Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten die Bildung von Arbeitsgruppen vor, die selbstständige Teilfunktionen erfüllen, und die Wahl von Sprechern von und für die Gruppe. 

Diese Arbeitsgruppensprecher, die in Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat die Interessen der Arbeitsgruppe gegenüber dem unmittelbaren Vorgesetzten vertreten sollten, waren nach Matthöfers Vorstellung mindestens eine Stunde pro Woche unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts für ihre Aufgaben freizustellen. Zudem sollte die Arbeitsgruppe das Recht haben, die Fragen des Arbeitsbereichs während der Arbeitszeit zu besprechen. Ziel: Die Beschäftigten sollten bessere Mitsprachemöglichkeiten bei den sie betreffenden Fragen im Betrieb erhalten. 

Diese Konstruktion, die von den Gewerkschaften damals teilweise heftig abgelehnt wurde, weil sie eine Schwächung der Betriebsräte befürchteten, ist inzwischen Wirklichkeit geworden mit der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 2001 in §§ 28a (Übertragung von Aufgaben an Arbeitsgruppen), 87 Abs. 1 Nr. 13 (Grundsätze der Gruppenarbeit) und 80 Abs. 2 (Betriebsratsrecht, sachkundige Arbeitnehmer als Auskunftsperson in seine Arbeit einzubeziehen). Dies sind zwar nicht wörtlich die Matthöfer-Ideen, aber doch von der Intention her. Auf Initiative und mit Unterstützung der Gewerkschaften sind sie 30 Jahre später Teil der Betriebsverfassung geworden.

Eine andere Form der Demokratisierung der Unternehmen war und ist die Idee, die Beschäftigten neben ihrer Mitbestimmung im Aufsichtsrat auch am Kapital des Unternehmens als Aktionäre zu beteiligen. Teilweise wurden Unternehmen sogar von den Beschäftigten insgesamt übernommen, wie der IT-Dienstleister DiTec (1994–2001), eine Ausgründung der Digital Equipment GmbH, die Pfalz-Flugzeugwerke (1996–2001) oder die Glashütte Süßmuth. Dies waren jedoch im Ergebnis, bei allem Respekt vor den Bemühungen, keine dauerhaften Lösungen. Belegschaftsaktien, die durchaus bei den Beschäftigten eine gewisse Popularität haben, werden demgegenüber unverändert ausgegeben. Sie geben der Belegschaft aber selbst dann kaum Einfluss, wenn sie in Aktionärsvereinen gebündelt werden. Insbesondere in der Finanzkrise 2008/2009 spielte das Thema bei Opel, Daimler, Schaeffler oder auch bei VW eine besondere Rolle. 

Diese Novellierungen des Betriebsverfassungsgesetzes haben die betrieblichen Realitäten nicht wirklich verändert. Gewerkschaften, auch die IG Metall, haben zwar Projekte in den Betrieben durchgeführt und Arbeitsmaterialien entwickelt, um die Möglichkeiten des § 80 Abs. 2 BetrVG mit einer direkten Beteiligung der Beschäftigten an der Arbeit des Betriebsrats zu nutzen. In der Breite ist die Vorschrift trotz positiver Bewertung der Projekte aber kein Durchbruch für mehr Beteiligung und demokratische Mitsprache der Beschäftigten geworden. Beteiligung setzt eine Kulturveränderung und Restrukturierung der Betriebsratsarbeit mit deutlich mehr Aufwand voraus. Und natürlich auch, dass die Beschäftigten ein entsprechendes Interesse aufbringen. Nicht jedes Thema ist hierfür geeignet.

Positive Beispiele für eine Beteiligung der Beschäftigten liefert die inzwischen ständige Praxis der IG Metall, Vereinbarungen, mit denen vom Tarifvertrag abgewichen wird, (nach dem Pforzheimer Abkommen von 2004) nur nach Beteiligung der Mitglieder und – abgestuft – aller Beschäftigten am Entscheidungsprozess nur mit Zustimmung der Mitglieder zu treffen. Auch betriebliche Beispiele wie die über Jahre praktizierte Beteiligung der Beschäftigten im Braunschweiger VW-Werk belegen, dass der Aufwand lohnt. Mit der Beteiligung werden die politischen Ziele von Gewerkschaft und Betriebsrat deutlich besser ausgestaltet und vor allem auch getragen. Dies gilt insbesondere bei Arbeitszeitfragen, bei Regelungen für mobiles Arbeiten oder im Hinblick auf eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben sowie beim Arbeits- und Gesundheitsschutz.

Wo stehen wir also bei der Demokratisierung der Unternehmen? Wo stehen wir im Hinblick auf Bürgerrechte im Betrieb, die der Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer in „Das Wesen des Arbeitsrechts“ schon 1927 als Umwandlung der „Wirtschaftsuntertänigkeit in ein wirtschaftliches Bürgertum“ beschrieben und gefordert hat? Führen Lösungen weiter, die jenseits der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats gefunden werden, die sie, wie in der Blütezeit der Start-ups in der New Economy, sogar ersetzen und überflüssig machen wollen? 

Nein, denn in größeren Betrieben ist es kaum denkbar, vom Prinzip der repräsentativen Demokratie abzugehen, wie sie die Betriebsverfassung vorsieht. 280 000 Daimler Beschäftigte werden Dieter Zetsche nicht im persönlichen Gespräch ihre Auffassung mitteilen und Entscheidungen direkt beeinflussen können. In kleineren und mittleren Betrieben und Unternehmen mag dies eher möglich sein. Aber auch hier gilt: Wenn es zu Konflikten kommt, muss es rechtlich abgesicherte Belegschaftsvertreter mit verbrieften Rechten geben. Sonst ist die bis dahin gelebte Beteiligung oft nur vom Unternehmens-Herrn gegeben und von ihm anschließend genommen. Darüber hinaus darf auch nicht übersehen werden, dass der Betriebsrat die wichtige Funktion hat, die Einzelinteressen nicht nur zu bündeln und gegenüber dem Arbeitgeber zu vertreten, sondern auch einen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen herbeizuführen.

Die Zukunftslösung liegt daher in einer Stärkung sowohl der repräsentativen Vertretung der Beschäftigten durch Betriebsräte und Gewerkschaften als auch ihrer individuellen Rechte im Betrieb. Das Leitbild hierfür könnte, „der selbstbestimmte Bürger am Arbeitsplatz“ sein, den Detlef Wetzel, der Vorsitzende der IG Metall, im Blick hat. Der Bürger, der substanzielle Grundrechte nicht nur im gesellschaftlichen Leben, sondern auch im Betrieb und bei seiner Arbeit hat und wahrnehmen kann. Grundrechte, die seine deutlich schwächere Position aus dem individuellen Arbeitsverhältnis gegenüber dem Arbeitgeber wirklich stärken. Grundrechte, die die Mitbestimmung nicht ersetzen, sondern sie effektiver, gelebter machen und umgekehrt durch diese konstitutionell abgesichert und wirksamer gestaltet werden. Ziel dabei ist auch, die Beschäftigten aktiv in die Unternehmensentwicklung einzubinden – wie es in der Präambel der Charta der Arbeitsbeziehungen im Volkswagen-Konzern 2009 beispielhaft formuliert wurde. 

An welche Grundrechte und Beteiligungsmöglichkeiten der Beschäftigten ist nun konkret zu denken? Es geht zunächst um eine Stärkung, um den Ausbau und die effektivere Wahrnehmung bereits vorhandener Rechte. So sind die betriebsverfassungsrechtlichen Möglichkeiten in den §§ 28a, 80 Abs. 2 oder auch 87 Abs. 1 Nr. 13 BetrVG besser zu nutzen und mit mehr Leben zu erfüllen. Weiterhin sollte daran gedacht werden, Betriebsversammlungen zu erleichtern und hierfür ein Quorum von 15 statt bisher 25 Prozent der Beschäftigten ausreichen zu lassen. Auch die Reklamationsrechte in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen und die Beschwerderechte in §§ 83 ff. BetrVG sollten ausgebaut werden. Bei jeder Beschwerde der Beschäftigten sollte nach § 85 Abs. 2 BetrVG die Einigungsstelle angerufen werden können. Dies würde individuelle Beschwerden erheblich wirksamer machen. Zudem sollten die Ergebnisse von Befragungen, die der Arbeitgeber durchführt, eine definierte Verbindlichkeit hinsichtlich des Votums der Beschäftigten erhalten.

Darüber hinaus sollten vom Gesetzgeber Regelungen im Sinne einer Charta der Beschäftigtenrechte im Betrieb getroffen werden. So sollte das Recht auf freie Meinungsäußerung und insbesondere die Stellungnahme zu betrieblichen Abläufen ausdrücklich verankert werden – gerade auch vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung sozialer Netzwerke für die betriebliche Kommunikation. Dies muss den besonderen Schutz von Whistleblowern umfassen, also von Beschäftigten, die sich wegen Missständen in Betrieben etwa an Behörden wenden. Es ist nicht akzeptabel, dass sie das Risiko eingehen, dadurch ihren Arbeitsplatz und ihre materielle Existenzgrundlage zu verlieren.

Auch die Leistungsverweigerungsrechte der Beschäftigten sollten erweitert und ausdrücklich gewichtige ethische Gründe anerkannt werden. Der Schutz der Persönlichkeitsrechte, insbesondere des informationellen Selbstbestimmungsrechts beim Datenschutz, sollte verstärkt werden. Datenschutz wird dabei nur über eine Kombination von normativen und technischen Lösungen wirksam werden. Das Recht auf Achtung des Privatlebens und auf Vereinbarkeit von Familie und Arbeit sollte aufgenommen werden.

Insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden Untersuchungen im Compliance-Bereich muss das Recht auf faire Behandlung für die Beschäftigten gesichert werden. Hierzu gehört ein zwingendes Recht auf rechtzeitige Anhörung bei solchen Verfahren und eine Unschuldsvermutung. Zudem muss deutlich abgegrenzt werden, was unternehmensintern untersucht werden kann und was in die Zuständigkeit der Strafbehörden gehört.

Immer wieder werden auch die individuellen Koalitionsrechte infrage gestellt, obwohl sie durch Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz garantiert werden. Dies sollte im Rahmen einer Regelung der Bürgerrechte im Betrieb ausdrücklich klargestellt werden, denn die Werbung für eine Gewerkschaft, die Wahl und behinderungsfreie Arbeit eines Betriebsrats oder die Inanspruchnahme des Streikrechts gehören noch längst nicht zur Normalität des Alltags in allen Betrieben. Die jüngsten Vorgänge bei Enercon und Hyundai belegen dies beispielhaft.

Auch die individuellen Rechte der Beschäftigten, in Produktion, Entwicklung und Produktqualität einbezogen zu werden, sollten gestärkt werden, wie dies beispielsweise beim VW-Innovationstarifvertrag geschehen ist.

Ein weiterer Aspekt, der besonders wichtig, wenn nicht entscheidend sein wird für die Effizienz von Bürgerrechten im Betrieb: Zur Durchsetzung dieser Rechte muss ein Verbandsklagerecht der im Betrieb vertretenen Gewerkschaft eingeführt werden. Die einzelnen Beschäftigten haben wegen ihrer deutlich schwächeren Positionen gegenüber dem Arbeitgeber oftmals nicht die Bereitschaft, ihre Rechte durchzusetzen.

Alle diese Regelungen können in einem ersten Schritt durchaus auch durch Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag getroffen werden. Die in einer Vielzahl von sogenannten „Besser-Vereinbarungen“ geregelten Besserstellungen für Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer gegenüber der gesetzlichen Regelung geben hier gutes Anschauungsmaterial.

Die Zeit ist reif für eine Initiative, die den mündigen Bürger auch im Betrieb ohne Wenn und Aber anerkennt und respektiert – zumal die Entscheidungsspielräume der Beschäftigten tendenziell wachsen und mehr Innovationsfähigkeit der Unternehmen gefragt ist. Vor diesem Hintergrund sollten die Individualrechte gestärkt werden, was im Zusammenspiel mit einer Weiterentwicklung der Mitbestimmungsrechte zu einer deutliche Demokratisierung im Betrieb führen würde.

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