Quelle: Karsten Schöne
Magazin MitbestimmungBetriebsrätepreis: Wenn das Schule macht
In Zusammenarbeit mit seinem Betriebsrat wagt das kommunale Krankenhaus Aschaffenburg-Alzenau ein (einmaliges) Experiment. Die Arbeitnehmervertretung ist deshalb für den Betriebsrätepreis 2023 nominiert. Von Stefan Scheytt
Das Klinikum Aschaffenburg-Alzenau hat in jüngerer Zeit zwei Entscheidungen getroffen, die in einschlägigen Kreisen als sehr ungewöhnlich, sogar als sensationell gelten. Zum einen legte das Krankenhaus im September 2022 ein bundesweit einmaliges Dienstwagen-Programm für Pflegekräfte auf: Wer neu in Aschaffenburg anfängt oder dort schon arbeitet, bekommt für zwei Jahre kostenlos ein E-Auto gestellt, inklusive Versicherung, Wartung, Reparaturen und Stromtanken am Arbeitsplatz. Selbst die zusätzliche Steuerschuld durch den „geldwerten Vorteil“ des Wagens wird ausgeglichen. Einzige Bedingung: Die Empfänger dürfen nicht zu weniger als 50 Prozent in Teilzeit arbeiten. Waren zunächst 600 Autos vorgesehen, steuert das Klinikum in diesen Wochen auf 775 E-Dienstwagen für Pflegekräfte zu. Nach Auskunft von Betriebsratschef Andreas Parr hat die Aktion mehr als 70 neue Pflegerinnen und Pfleger angelockt und rund 40 dazu veranlasst, ihre Arbeitszeit auf 50 oder mehr Prozent aufzustocken.
Beruflich noch substanzieller ist die zweite Maßnahme, die, so berichtet Betriebsrats-Vize Johannes Englert, so attraktiv wirkte, dass Pflegekräfte von Hamburg ins bayerische Aschaffenburg wechselten und andere nach jahrzehntelanger Pause in ihren Beruf zurückkehrten. Mit dieser zweiten Innovation, die unter der Überschrift „New Work“ firmiert, ist die Arbeitnehmervertretung für den Betriebsrätepreis 2023 nominiert: weil es ihnen gelang, die New-Work-Ideen in eine Betriebsvereinbarung zu überführen.
Zusammenarbeit auf Augenhöhe
Am Anfang der preisverdächtigen Innovation stand der Wunsch des Chefarztes der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie, das Gefälle zwischen Ärzten und Pflegepersonal einzuebnen und stattdessen „selbstorganisierte“ Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu praktizieren. Das bedeutet nicht die Ausrufung von Anarchie und Chaos, wie manche argwöhnten, sondern dass Arbeitsstrukturen und -prozesse interprofessionell erarbeitet anstatt von oben vorgegeben werden. An die Stelle der alten Personenhierarchie tritt die „Aufgaben- und Purposehierarchie“, in der sich die Kollegen vor jeder Schicht wechselnde Rollen mit definierten Verantwortlichkeiten zuteilen. Der Ideengeber, Hubertus Schmitz-Winnenthal, hat das Pilotprojekt „Meine Station” einmal so zusammengefasst: „Teamarbeit statt starrer Hierarchien, Schulterschluss der Berufsgruppen statt Einzelgänge, Nachhaltigkeit statt Ausnutzen.“ Durch diese Paradigmenwechsel, so seine Erwartung, würden Kranke wieder in den Mittelpunkt der Arbeit gestellt, könnten Beschäftigte wieder Freude und Erfüllung in ihrem Beruf finden.
So faszinierend Andreas Parr und Johannes Englert, beide gelernte Pfleger, die Idee auch fanden, so groß war zunächst ihre Skepsis. Denn praktiziert wird New Work vornehmlich in Start-ups mit jungen, homogenen, kleinen Belegschaften, während das Klinikum eine gewachsene, kommunale Einrichtung der Daseinsfürsorge ist mit mehr als 2500 Beschäftigten an zwei Standorten. Andererseits macht sich die Arbeitnehmervertretung keine Illusionen über die Lage: „Viele Pflegekräfte lieben ihren Beruf – und steigen trotzdem ausgelaugt und tief frustriert aus“, berichtet Andreas Parr. „Das System ist so festgefahren, dass es früher oder später zum Scheitern verurteilt ist.“ So gesehen sei es eigentlich unumgänglich gewesen, gänzlich neue Wege auszuprobieren.
Für die Mitarbeit in der neuen, allgemein-chirurgischen Station, die seit Februar 2023 in Betrieb ist, hatten sich 74 Menschen intern und extern beworben. Die 26 Auserwählten durchliefen eine mehrmonatige Vorbereitungs- und Teamfindungsphase, in der sie mit Experten für Organisationsentwicklung die neuen Prinzipien, Methoden und Werkzeuge ihrer New Work-Station erlernten. Auch die komplette Klinikleitung und die Betriebsratsvorsitzenden absolvierten mehrtägige Workshops. Die Pioniere, wie sie sich selbst nennen, kommen ohne klassische Stationsleitung aus. Zu den auffälligsten Neuerungen gehört, dass es, von Ausnahmen abgesehen. keine Visite mehr am Bett gibt, dafür eine Sprechstunde im Visitenzimmer. Die Idee hinter diesen und weiteren Veränderungen ist, die Menschen so früh wie möglich in den Heilungsprozess einzubeziehen und möglichst gut auf die Zeit nach der Operation vorzubereiten. Dazu gehören auch Schulungen schon vor dem Krankenhausaufenthalt.
Experiment zieht Kreise
Dass bei soviel Autonomie des Stationsteams die Mitbestimmung leiden könnte, sehen die Betriebsräte nicht. „Durch die Betriebsvereinbarung haben wir Leitplanken festgelegt, innerhalb derer sich die Beschäftigten tatsächlich als ´Pioniere` bewegen können, ohne dass dadurch Mitbestimmungsrechte geschwächt oder aufgegeben werden“, erklärt Johannes Englert. Selbstverständlich würden auf der Pilot-Station auch alle anderen, früher geschlossenen Betriebsvereinbarungen gelten. Auch bezüglich der Entlohnung blieb man im gegebenen Rahmen der Tarifverträge: „Wir sind ein Tarifhaus und geben diesen Status auch nicht auf“, sagt apodiktisch Betriebsratschef Andreas Parr. Die Lösung, die gefunden wurde, bringt allen nicht-ärztlichen Beschäftigten einen 20-prozentigen Aufschlag auf ihre jeweilige Entgeltgruppe. Das bedeute zwar eine Verteuerung, die man aber relativieren müsse: „Denn durch das neue Personal konnten wir eine früher geschlossene Station wieder eröffnen und sind jetzt in der Lage, neue Erlöse zu generieren.“ Und das wohlgemerkt ohne den Einsatz von Leiharbeitskräften, die wesentlich teurer sind.
Hat „Meine Station“ das Potenzial, das Gesundheitssystem zu verändern, wie das Krankenhaus auf seiner Website schreibt? Das könne man noch nicht sagen, dafür sei das Projekt zu jung, meint Andreas Parr. Aber was die Zufriedenheit der Beschäftigten angehe, seien die ersten Monate sehr ermutigend. Immerhin zieht das Experiment schon kleine Kreise: „In der Urologie-Ambulanz hat sich der dortige Chefarzt begeistern lassen und Elemente übernommen“, sagt Johannes Englert. „Wenn ´Meine Station` tatsächlich Schule machen würde, auch über unser Haus hinaus“, ergänzt Andreas Parr, „dann wäre es kein Revolutiönchen mehr, dann wäre die Krankenhauslandschaft eine andere.“
Mehr zum Betriebsräte-Preis 2023:
Der Deutsche Betriebsräte-Preis wird am 9. November im Rahmen des Deutschen Betriebsrätetags in Bonn verliehen. Von 76 Bewerbungen wurden zwölf Projekte nominiert. Einer der Nominierten ist der Betriebsrat des kommunalen Krankenhauses Aschaffenburg-Alzenau, der in diesem Jahr den Sonderpreis in der Kategorie „Innovative Betriebsratsarbeit“ erhält.
Mehr über die nominierten Projekte auf der Seite des I.M.U. zum Deutschen Betriebsrätetag 2023
Das Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung bietet ein Archiv mit zahlreichen Betriebsvereinbarungen.