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Magazin Mitbestimmung

: Weiterentwicklung: Betriebsratsfreie Zonen

Ausgabe 06/2012

Im prekären Dienstleistungsbereich könnte ein entsprechend gestaltetes Betriebsverfassungsgesetz für Betriebsratsgründungen sorgen und damit für bessere Arbeitsbedingungen. Von Ingrid Artus

In Deutschland haben nur zehn Prozent aller betriebsratsfähigen Betriebe tatsächlich einen Betriebsrat, und dieser Anteil ist seit Jahrzehnten relativ konstant. Nicht immer ist das Fehlen eines Betriebsrats und der Verzicht auf Mitbestimmungsrechte problematisch im Sinne der Beschäftigten: In kleineren Betrieben existieren vielfach direkte Drähte zur Geschäftsleitung, und Hochqualifizierte wollen zuweilen ihre Interessen individuell vertreten. Heikel ist Betriebsratslosigkeit jedoch in Beschäftigungsbereichen, die von einer starken Machtasymmetrie zwischen Beschäftigten und Geschäftsleitung gekennzeichnet sind, wo repressive und manchmal entwürdigende Managementstile zur Tagesordnung gehören, wo die Umsetzung arbeitsrechtlicher Bestimmungen nicht selbstverständlich ist und die Interessen der Beschäftigten auf gerechtes Entgelt und faire Arbeitszeiten systematisch verletzt werden. Hier wird, um die alleinige Direktionsgewalt des Managements zu wahren, die Wahl eines Betriebsrats nicht selten gezielt verhindert.

Das geschieht über die Entlassung und Abfindung von Initiatoren von Betriebsratswahlen, durch strafrechtliche Vorwürfe, über systematische Stimmungsmache gegen Belegschaftsvertretungen und das Schüren von Ängsten, durch wirtschaftliche Sanktionen gegenüber unbotmäßigen Belegschaft(steil)en, gelegentlich auch durch die Aufstellung managementnaher konkurrierender Betriebsratslisten oder gar die Schließung ganzer Betriebe.

Solche „betriebsrats-repressiven Zonen“ finden sich gehäuft im prekären Dienstleistungsbereich – so etwa im Einzelhandel, den Paketdiensten, dem Reinigungsgewerbe, der Gastronomie, den Callcentern, dem Sicherheitsgewerbe, den sozialen Diensten. Dort wird die Gründung von Betriebsräten auch deshalb erschwert, weil die Unternehmensstrukturen stark fragmentiert sind. Eine Belegschaft mit Tausenden von Beschäftigten arbeitet zersplittert in vielen kleinen und kleinsten Filialen, Standorten, Restaurants oder Baustellen. Teile und herrsche – dieses Motto funktioniert hier hervorragend. Da die Grundeinheit des Betriebsverfassungsgesetzes „der Betrieb“ und nicht das Unternehmen ist, müssen dementsprechend in Hunderten Filialen eines bundesweiten Lebensmitteldiscounters die Beschäftigten jeweils einzeln ihr Recht auf Mitbestimmung durchsetzen.

Geschäftsleitungen können betriebliche Strukturen auch in strategischer Weise „mitbestimmungsfeindlich zuschneiden“, indem sie etwa weit auseinanderliegende Betriebseinheiten organisatorisch zusammenfassen oder umgekehrt Betriebe in diverse Teile „zerstückeln“. Beliebt ist auch die Auslagerung der Geschäftsleitung als verhandlungsfähigem „Gegenüber“ in eine Betriebseinheit ohne Betriebsrat, sodass man Mitbestimmung tendenziell „ins Leere laufen lässt“. Zwar ermöglicht das 2001 reformierte Betriebsverfassungsgesetz neuerdings eine gewisse Einflussnahme der Gewerkschaften. So könnten die Tarifparteien nach §3 Abs.1 BetrVG die Einheiten, in denen Betriebsräte gewählt werden, abweichend vom Gesetz festlegen und zum Beispiel „Regionalbetriebsräte“ installieren, bei denen eine bestimmte Zahl fragmentierter kleiner Betriebseinheiten zusammengefasst wird. Eine solche Vereinbarung setzt jedoch bereits ein Mindestmaß gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht im Unternehmen voraus – die aber in prekären betriebsratslosen Zonen nur selten vorhanden ist.

Diesen Teufelskreis zu durchbrechen und Repression gegen Beschäftigte, die ihre Mitbestimmungsreche wahrnehmen wollen, nachhaltiger zu verhindern, dies wäre eine Zukunftsaufgabe des Betriebsverfassungsgesetzes. Ein Blick nach Frankreich zeigt: Dort ist die Organisation zur Wahl einer Belegschaftsvertretung ab einer bestimmten Betriebsgröße (z.?B. 50 Beschäftigten) eine staatlicherseits kontrollierte und sanktionierte Pflicht der Geschäftsleitung – nicht eine Option, die die Beschäftigten manchmal erst konfrontativ durchsetzen müssen. Die Kriterien für Größe und Struktur der Belegschaftsvertretung beziehen sich in Frankreich zudem in erster Linie auf das Unternehmen, nicht auf den Einzelbetrieb. Auch in Deutschland ließe sich darüber nachdenken, ob ein ab einer bestimmten Belegschaftsgröße (des Unternehmens) verpflichtend einzurichtender Gesamtbetriebsrat den rechtlichen Auftrag sowie die Ressourcen erhalten könnte, um basisnah in geeigneten betrieblichen Einheiten die Wahl von Betriebsräten zu initiieren.

Eine solche Förderung von Betriebsratswahlen „von oben“ garantiert freilich noch keine machtpolitisch durchsetzungsfähigen Repräsentationsgremien; es würde jedoch bei der Verbreitung von Organisationsstrukturen in schwierigem Terrain helfen, würde den Beschäftigten ein Stück den Kampf erleichtern – um demokratische Teilhabe und um faire statt prekäre Arbeitsbedingungen.

Text: Ingrid Artus, Professorin für Soziologie an der Universität Erlangen

Mehr Informationen

Ingrid Artus: Interessenhandeln jenseits der Norm. Mittelständische Betriebe und prekäre Dienstleistungsarbeit in Deutschland und Frankreich. Frankfurt a.M./New York, Campus 2008

Stefan Lücking: Zwischen Neopaternalismus und Repression. In: WSI Mitteilungen, 2/2009

Nadine Schlömer-Laufen/Rosemarie Kay: Betriebsratsgründungen in kleinen und mittleren Unternehmen. Die Rolle der Belegschaften. Berlin, edition sigma 2012

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