Politisches Lied: Trauer und Wut
Der Rapper Azzi Memo lebt in Hanau. Nach dem rassistischen Anschlag im Februar 2020 nimmt er mit Freunden ein Lied gegen den Hass auf.
Azzi Memo u. a.: Bist du wach? (2020)
Überall Missgunst, Ausgrenzung und Rassismus
Der Struggle endet niemals, es geht in die falsche Richtung
Jeden Tag wird‘s schlimmer, unsre Welt zerbricht in Trümmern
Werden ohne Grund gehasst, sag, was erzähl ich meinen Kindern?
Am Abend des 19. Februar 2020 steht das Handy von Mehmet Seyitoglu nicht mehr still. Ein Freund schreibt ihm eine Nachricht: „Wo bist du gerade, lass’ dich draußen besser nicht blicken, da dreht einer komplett durch!“ Auf Twitter kursieren schon Gerüchte, Seyitoglu sei Opfer eines Anschlags geworden. Er hat in ganz Deutschland Fans: Sie kennen ihn als Rapper Azzi Memo. Gegen 22 Uhr erschießt an diesem Abend ein 42-jähriger Attentäter vier junge Menschen in einer Shishabar im hessischen Hanau. Er fährt weiter in den Stadtteil Kesselstadt und ermordet auf einem Parkplatz und in einem Kiosk mit angeschlossenem Café weitere fünf Menschen. Der Attentäter geht gezielt vor: Sämtliche Opfer haben einen Migrationshintergrund. Am Ende fährt er nach Hause, wo er seine Mutter und sich selbst erschießt.
Der Reporter des vom Springer-Konzern neu geschaffenen Kanals „Bild live“ spekuliert in der Nacht der Tat wiederholt über eine „Schießerei“ im kriminellen Milieu – Russen seien es vielleicht gewesen oder auch Schutzgelderpresser. In den Wochen zuvor hatten Politiker der AfD gegen Shishabars gehetzt, zuletzt im Wahlkampf in Hamburg. Doch schnell ist klar: Der Täter von Hanau ist ein Rechtsextremer mit psychischen Problemen – ein Mann, der wahnhafte Verschwörungstheorien entwickelt und aus rassistischen Motiven heraus handelt.
Der Musiker Seyitoglu ist in Hanau aufgewachsen. Er kennt das Viertel gut, in dem die Shishabar liegt, Und er kennt einen guten Teil der Menschen, die dort am 19. Februar den Abend verbracht haben. Unter den Opfern ist der Sohn seines Cousins. Ein Freund wird an diesem Abend an der Schulter getroffen und überlebt. Seyitoglu ist kurdischer Abstammung. Er kam mit seinen Eltern zunächst in ein Asylbewerberheim in Deutschland, dann zog die Familie in ein Hanauer Hochhaus. Er ist das älteste Kind, kümmert sich um die Geschwister und übersetzt für seine Eltern. Er kommt in der Schule ins Schlingern, holt später sein Abitur nach und macht eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann. Unter dem Künstlernamen Azzi Memo beginnt er eine Karriere als Rapper.
Nach dem Anschlag spürt Seyitoglu, dass er etwas unternehmen muss. Er versammelt daraufhin 17 Rapper und die Sängerin Rola um sich und nimmt mit ihnen den Song „Bist du wach?“ auf. Den Erlös spenden die Musiker der 1998 von dem Unternehmer Karl Konrad von der Groeben gegründeten Amadeu Antonio Stiftung, die den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer des Anschlags von Hanau hilft.
In vielen Zeilen des achteinhalbminütigen Songs bricht hervor, was sich schon lange, über Jahre angestaut hat: Trauer, Fassungslosigkeit, auch Wut. Azzi Memos Part eröffnet den Song mit der Erinnerung an vorangegangene Anschläge in Limburg, Fulda, Kassel und Halle. Milonair rappt: „Ich dachte, meine Söhne wären sicher hier. 33 Jahre in diesem Land, was ist passiert?“ Und Sinan-G, wie Milonair ein deutscher Rapper mit iranischen Wurzeln, textet: „So viele Opfer, keiner schafft es mehr, sie aufzuzähl’n. Ich würd die Kugeln, die sie trafen, so gern auf mich nehm’n“. „Die meisten Rassisten werden Rassisten bleiben“, sagt Azzi Memo über den Song. Rassisten, so die Botschaft, dürfen nicht bestimmen, wer zu Deutschland gehört. „Gerade ihnen jedoch sollten wir zeigen: Wir gehören dazu. Und wir sind mehr als ihr.“