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Magazin Mitbestimmung

: Tarifvertrag - Korridor - Öffnung

Ausgabe 06/2004

Die Tarifverträge der chemischen Industrie verfügen über Arbeitszeit- und Entgeltkorridore. Die Tarifparteien können die 37,5-Stunden-Woche verkürzen und erweitern oder das Tarifniveau absenken. Wie hat man sich die tariflichen Korridore vorzustellen?

Von Peter Hausmann
Der Autor ist Leiter der Abteilung Tarifrecht-Humanisierung in der Hauptverwaltung der IG Bergbau, Chemie, Energie in Hannover.

Dazu zwei Unternehmensbeispiele: In einem mittelständischen Unternehmen der Pharmaindustrie war vor einem Jahr die 35-Stunden-Woche eingeführt worden. Vorausgegangen war eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation, ein Absatzrückgang und natürlich auch die Suche des Unternehmens nach Möglichkeiten, Kosten zu reduzieren.

Arbeitgeber und Betriebsrat erwogen am Ende mehrerer Verhandlungsrunden als Alternative zu einem Beschäftigungsabbau, die regelmäßige Arbeitszeit der Mitarbeiter/ innen zu reduzieren: Alle Beschäftigten und nicht nur die Produktion und einzelne Abteilungen an der Reduzierung der Arbeitszeit zu beteiligen, war nicht einfach umzusetzen. Doch die Vereinbarung gelang. Im Gegenzug sagte der Arbeitgeber zu, die Arbeitsplätze für die Laufzeit der Vereinbarung zu sichern.

Verhandlungs-Marathon im Mittelstand

In die Verhandlungen vor Ort war der IG-BCE-Sekretär eingebunden, so dass die IG BCE die Zustimmung erteilen konnte. Wir diskutierten natürlich auch mit den Arbeitnehmern über die Lasten einer Entgeltreduzierung, die auf sie zukamen; letztendlich wurde von ihnen die Kompromisslinie vor dem Hintergrund der Sicherung des Standortes mitgetragen.

Doch schon gegen Ende der Laufzeit der Arbeitszeitverkürzungs-Regelung zog der Absatz innerhalb des Unternehmens an, und die reale Arbeitszeit der Arbeitnehmer lag deutlich oberhalb der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit von 35 Stunden - was man an den betrieblichen Arbeitszeitkonten leicht ablesen konnte. Insofern war klar: Eine Rückkehr zur regulären tariflichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden konnte gerechtfertigt werden.

Nun trat aber der Arbeitgeber mit weitgehenden Vorschlägen zu Kostenkompensationen in anderen Bereichen auf den Plan: Er wünschte eine veränderte Entgeltstruktur oder andere Eingruppierungen, er thematisierte die Streichung der tariflichen Jahresleistung bei gleichzeitiger Bereitschaft, eine Beteiligung am Unternehmenserfolg einzuführen.

Das sprengte den Rahmen des Flächentarifvertrages Chemie, der auf einmal zur Debatte stand. Thematisiert wurde auch die Wettbewerbssituation des Unternehmens bis hin zu Szenarien, Teile der Produktion in das angrenzende Ausland zu verlagern.

Gleichzeitig erwartete die Belegschaft wegen des steigenden Absatzes eine Rückkehr ihrer Arbeitszeiten und Einkommen auf das Niveau der regulären 37,5-Stunden-Woche. Es kam zu einer Verhärtung der Positionen. Nötig wurde eine IG-BCE-Mitgliederversammlung, in der wir vor Ort unsere Haltung begründeten und auch darlegten, warum es unabdingbar ist, dass die grundsätzlichen Tarifstandards des Flächentarifvertrages der chemischen Industrie gewahrt werden.

Wegen der schwierigen Verhandlungssituation und wegen der grundsätzlichen tarifpolitischen Bedeutung schaltete der Bezirk den Landesbezirk und die Tarifabteilung der Hauptverwaltung ein, deren Vertreter dann die letzten Verhandlungsrunden gemeinsam mit den Betriebs- und Tarifvertragsparteien vor Ort führten.

Letztendlich konnte ein Kompromiss erzielt werden: Wir blieben innerhalb der Strukturen des Flächentarifs. Ebenso einigten wir uns mit dem Arbeitgeber auf eine Rückkehr zur 37,5-Stunden-Woche als regelmäßige tarifliche Arbeitszeit - allerdings erfolgte die geldliche Anpassung nicht in einem Schritt, sondern in Stufen. Wir einigten uns auch mit dem Arbeitgeber auf eine Verknüpfung der tariflichen Jahresleistung mit einer Regelung der Beteiligung der Arbeitnehmer am Unternehmenserfolg. In dem Gesamtpaket mit einer Laufzeit bis Ende 2006 hat der Arbeitgeber seine Zusagen in punkto Standortsicherung durch den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen und Investitionszusagen untermauert.

Im zweiten Unternehmens-Beispiel geht es um Outsourcing. Ein chemischer Großbetrieb will seinen Servicebereich mit rund 200 Beschäftigten ausgliedern. Damit wäre dieser Bereich nicht mehr im Flächentarifvertrag der chemischen Industrie, was es dem Arbeitgeber ermöglichen würde, die Arbeitskosten um ein Drittel zu reduzieren. Diese Rechnung liegt nachvollziehbar auf dem Tisch. Für die Beschäftigten würde es bedeuten: 25 Prozent weniger Lohn für die gleiche Arbeit.

In diesem Fall berühren die Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber grundsätzliche Fragen: Gliedert man die Beschäftigten aus und fallen sie damit unter völlig andere Arbeitsbedingungen außerhalb des Flächentarifvertrages der chemischen Industrie? Oder findet man Lösungen unter dem bisherigen Dach - allerdings mit Einschnitten?

Die Verhandlungen dauern mehrere Monate. Letztlich gelingt es, für die Beschäftigten ein Verbleiben im Flächentarifvertrag abzusichern - mit folgenden Zugeständnissen: Die übertarifliche Bezahlung wird schrittweise abgeschmolzen. Die regelmäßige tarifliche Arbeitszeit innerhalb des Arbeitszeitkorridors liegt nun bei 39 Stunden.

Gleichzeitig werden die Verhandlungen über die Flexibilisierung der Arbeitszeit weitergehen. Der Arbeitgeber hat sich seinerseits für die vierjährige Laufzeit der Vereinbarung verpflichtet: Es gilt der Chemie-Tarifvertrag, und eine Ausgliederung der 200 Beschäftigten wird nicht erfolgen. In diesem großen Unternehmen, das für beide Tarifvertragsparteien eine wichtige Rolle spielt, haben die Betriebsparteien die Verhandlungen relativ selbständig geführt. Die Tarifvertragsparteien waren aber über die betrieblichen Entwicklungen jeweils informiert, und die Schritte bzw. Auswirkungen auf die tariflichen Korridore wurden abgestimmt.

Welche Öffnungen, welche Korridore?

Diese Fallbeispiele sind durchaus typisch für die Korridorregelungen, wie sie auch andere Unternehmen der chemischen Industrie nutzen: Die tariflichen Öffnungen und Korridore innerhalb des Tarifbereiches der chemischen Industrie hat mein Kollege Gottlieb Förster in einem Aufsatz über Kontrollierte Öffnung im Magazin Mitbestimmung dargestellt. In der Praxis werden vor allem folgende drei Bereiche genutzt:  
  • Der tarifliche Arbeitszeitkorridor nach § 2 I Ziffer 3 Manteltarifvertrag der chemischen Industrie. Dort kann die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit im Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien auf der Basis der 37,5-Stunden-Woche um bis zu 2,5 Stunden verlängert oder verkürzt werden. Die Arbeitnehmer haben Anspruch auf eine Bezahlung, die der vereinbarten Arbeitszeit entspricht. 
     
  • Der Entgeltkorridor nach § 10 des Bundesentgelttarifvertrages gibt die Möglichkeit, die tariflichen Entgeltsätze um bis zu zehn Prozent im betrieblichen Einvernehmen mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien abzusenken.
     
  • Die Öffnungsklausel zur tariflichen Jahresleistung gibt entweder die Möglichkeit, die tarifliche Jahresleistung zu reduzieren oder zu verschieben vor dem Hintergrund wirtschaftlich schwieriger Situationen - dies wiederum mit Zustimmung der Betriebs- und der Tarifvertragsparteien. Darüber hinaus kann von einem ertragsabhängigen Optionsmodell mit einer Spannbreite von 80 bis 125 Prozent des tariflichen Monatsentgelts für den Unternehmenserfolg Gebrauch gemacht werden.

Jeder muss überzeugt werden

Zwei Prinzipien sind leitend: Voraussetzung für eine Abweichung vom Flächentarifvertrag ist immer eine Zustimmung von allen vier beteiligten Seiten. Insoweit handelt es sich um ein Konsensmodell, in dem jede Seite beteiligt und überzeugt werden muss. Die rechtliche Konstruktion ist so angelegt, dass mit Ablauf der befristeten Korridorregelung wieder der Flächentarifvertrag als Grundregel greift, das heißt, die Korridore sind tarifrechtlich mit einer Regelung im Flächentarifvertrag unterlegt. Eine Abweichung innerhalb der Korridore wird durch befristete Betriebsvereinbarungen bzw. befristete Zustimmung der Tarifvertragsparteien vorgenommen. Diese Konstruktion stellt sicher, dass die Bedingungen des Flächentarifvertrages der chemischen Industrie immer im Blick bleiben.
Die tarifvertraglichen Korridore sind für die IG BCE und den Bundesarbeitgeberverband Chemie ein wesentliches Instrument zur Erhaltung der Bindung der Flächentarifverträge. Damit werden die grundsätzlichen tarifvertraglichen Standards brancheneinheitlich gewährleistet und gleichzeitig gewisse betriebliche Spielräume gegeben. Mit den Befristungen und der Zustimmung der Tarifvertragsparteien sind Rahmenbedingungen geschaffen, um Missbräuche möglichst auszuschließen.

Von wem geht die Initiative aus?

Gemeinhin ergreift die Arbeitgeberseite die Initiative für Verhandlungen: Häufig ist der Anlass eine schlechte wirtschaftliche Situation im Betrieb. Zunehmend geht es den Initiatoren auf der Arbeitgeberseite auch um eine Verbesserung der Kostensituation innerhalb des internationalen Wettbewerbs. Viele Unternehmen unseres Tarifbereichs sind nicht nur europaweit, sondern auch weltweit operierende Konzerne. Daher gehört die Diskussion über Arbeitsbedingungen, Kostenreduzierungen in Verbindung mit Investitionen für Standorte in der Bundesrepublik für viele unserer Betriebsräte zum Tagesgeschäft.

Die Initiative für Verhandlungen kann auch von den Betriebsräten ausgehen, dann, wenn sie die tariflichen Korridore nutzen wollen, um einen Personalabbau zu verhindern oder abzumildern. Vielfach wird hier über eine Reduzierung der regelmäßigen tariflichen Wochenarbeitszeit versucht, Brücken zur Sicherung von Beschäftigung zu bauen und Entlassungen zu vermeiden.

Üblicherweise beginnt die Diskussion im Betrieb zunächst zwischen Betriebsrat und Arbeitgeberseite. Bald danach wird die IG BCE hinzugezogen, um die dargelegte wirtschaftliche Situation zu prüfen - auch mit Blick auf die Wettbewerbssituation. Die Transparenz und das Verfahren wird dadurch erleichtert, dass der Arbeitgeber die wirtschaftliche Situation des Unternehmens vielfach bereits in den Wirtschaftsausschüssen oder im Aufsichtsrat dargelegt hat.

Bisweilen müssen wir auch noch Experten für betriebswirtschaftliche oder bilanztechnische Fragen hinzuziehen. Wesentlich ist, dass sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite in der Beurteilung der Ausgangssituation einigen können. Ist das Ausgangsszenario des Arbeitgebers für den Betriebsrat oder die Arbeitnehmerseite insgesamt nicht nachvollziehbar, beginnen erst gar keine Verhandlungen um die Nutzung eines tariflichen Korridors.

Gewerkschaft und Betriebsräte gleichberechtigt

Sofern die Verhandlungen über tarifliche Korridore nicht nur einen Standort betreffen, sondern von grundsätzlicher Bedeutung sind, erfolgt eine Koordinierung über den Landesbezirk und die Hauptverwaltung der IG BCE. Entsprechend verhandeln dann auch die Gesamtbetriebsräte mit. Die Gewerkschaft IG BCE und die Betriebsräte sind gleichberechtigt beteiligt; beide müssen die Regelung mittragen.

Während der Betriebsrat die Gesamtheit der Arbeitsbedingungen - von der übertarifliche Bezahlung über Betriebsvereinbarungen zum Interessenausgleich bis hin zu Sozialplanverhandlungen - im Auge haben muss, steht für die IG BCE neben der Beratung der Betriebsräte die tarifpolitische Ebene im Vordergrund.
Somit ergänzen sich mitbestimmungs- und tarifpolitische Ebene bei derart komplexen Themen sehr gut. Für den Betriebsrat steht als Vertreter der Arbeitnehmer die Situation des Standorts naturgemäß im Vordergrund, während die Tarifvertragsparteien und hier insbesondere die IG BCE auch immer die Auswirkungen auf andere, vergleichbare Wettbewerber im Blick haben muss.

Die zentralen Verhandlungs- beziehungsweise Konfliktlinien verlaufen in aller Regel zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Dabei werden auch regelmäßig von uns folgende Punkte in die Debatte gebracht:

  •  Gibt es nicht andere Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation des Unternehmens - wie verbesserte Arbeitsorganisation oder Innovationen? 
  •  Sind die Einschnitte und Veränderungen bei den Arbeitsbedingungen den Arbeitnehmern zumutbar?
  •  Lässt sich Standortsicherung beispielsweise durch Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen oder konkrete Investitionszusagen konkret unterlegen?

Es sind letztlich die Arbeitnehmer/innen, die eine von den Betriebsparteien und Tarifparteien ausgehandelte Korridorlösung nachvollziehen, mittragen und akzeptieren müssen. Ob dies gelingt, hängt entscheidend davon ab, ob sie einerseits die Entlastungen für die Arbeitgeberseite und andererseits eine konkret nachvollziehbare Zusage zur Standortsicherung als ausgewogen und gerechtfertigt empfinden.

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