Quelle: Karsten Schöne
Magazin MitbestimmungForschung: „Recycling ist der größte Hebel“
Die Zukunft gehört Kunststoffen, die nicht aus Öl oder Gas hergestellt werden, sagt der Kunststoffexperte Christian Bonten. Doch auch sie müssen wiederverwertet werden. Das Gespräch führte Marius Ochs
Bis zum Jahr 2050 soll die Kunststoffindustrie das Ziel von Netto-Null-Emissionen erreichen. Wird es dann keine Kunststoffe mehr geben, die auf Erdöl und Gas basieren?
Das Ziel der Klimaneutralität steht über allem. Das maßgebliche Stichwort ist normalerweise die Dekarbonisierung, also der Verzicht auf Kohlenstoff, etwa durch den Umstieg von fossilen Brennstoffen wie Öl und Gas auf erneuerbare Energieträger. Der Begriff passt aber nicht zur pharmazeutischen und chemischen Industrie. Beide kommen ohne Kohlenstoffe als Basisrohstoff nicht aus. Es gibt Wirkstoffe und Werkstoffe wie etwa die Kunststoffe, die gäbe es ohne Kohlenstoff einfach nicht. Entscheidend ist die Herkunft der Kohlenstoffe.
Woher werden sie kommen?
In Zukunft sollen sie nicht mehr aus fossilen Quellen wie Öl, Gas und Kohle gewonnen werden, deshalb sprechen wir hier nicht von Dekarbonisierung, sondern von Defossilisierung. Aber wie kommt die Industrie an ihre Kohlenstoffe, wenn nicht aus den fossilen Quellen? Und hier ist der größte Hebel das Recycling.
Kann die Industrie die Transformation zu einer hundertprozentigen Kreislaufwirtschaft schaffen?
Das wird nicht möglich sein. Die aktuelle Studienlage deutet darauf hin, dass wir bis zu 70 Prozent der Kunststoffe recyceln können. In einzelnen Bereichen, etwa bei PET-Flaschen, sind wir schon bei fast 100 Prozent. Die anderen 30 Prozent schafft man nicht wirklich, weil das aufgrund des enormen Energieaufwands weder aus wirtschaftlicher Perspektive noch mit Blick auf den Klimaschutz sinnvoll wäre.
Wie schließen wir die Lücke?
Manche vertreten die These, dass sich die Lücke mit biomassebasierten Kunststoffen schließen lässt. Das sind herkömmliche Kunststoffe, die allerdings auf Kohlenstoff aus nachhaltigen Rohstoffen basieren. Heute beträgt der Marktanteil dieser sogenannten Biokunststoffe allerdings nur etwa ein Prozent.
Wie vielversprechend sind denn solche Kunststoffe, die beispielsweise auf Maisstärke basieren?
Dieses Biopolymer, sogenannte Thermoplastische Stärke (TPS), ist schon länger bekannt und wurde vor etwa 20 Jahren genauer betrachtet. Stärke nutzt Kohlenstoff beispielsweise aus Mais oder Kartoffeln. Daraus können auch ganz brauchbare Kunststoffbeutel hergestellt werden, die allerdings schnell reißen, wenn sie feucht werden. Das ist in manchen Köpfen hängen geblieben; viele Firmen waren danach abgeschreckt von biobasierten Kunststoffen.
Aber es wird weiter geforscht?
Ja, bis heute werden ganz verschiedene Rohstoffe ausprobiert. Wenige Jahre nach der ersten Welle wagten sich die Unternehmen wieder an etwas Neues. Die US-Firma Natureworks in Minnesota, im Corn Belt der USA, baute zum Beispiel eine große Anlage, in der sie Maisstärke zu Milchsäure fermentiert. Daraus entstand Polylactid (PLA), ein Kunststoff, der schon wesentlich bessere Stoffeigenschaften hatte. Das war die zweite Welle. Aber Polylactid ist nicht so weich wie herkömmlicher Kunststoff und ist auch weniger belastbar. Die mittelständische FKuR GmbH im kleinen Willich, aber auch die große BASF mischten dann noch etwas hinzu. Dieser sogenannte Blend, also ein gemischter Biokunststoff, wird heute vielfältig verwendet.
Ist eine dritte Welle biobasierter Kunststoffe in Sicht?
Ja. Mich begeistert die Gruppe der Polyhydroxyalkanoate, kurz PHA. Diese werden von speziellen Bakterien unter besonderen Bedingungen erzeugt. Noch sind sie sehr teuer und zu spröde, aber wenn PHA günstiger in Masse hergestellt und zugleich dehnfähiger und schlagzäher würde, traue ich dieser Gruppe viel zu. Sie sind dann ideal geeignet etwa für Spielzeuge und Gehäuse von Küchengeräten. Sie sind vollständig biobasiert und können sich in Meereswasser sogar biologisch abbauen. Daher gibt es bereits einen Hersteller, der Sandspielzeug daraus herstellt.
Unternehmen wie Covestro haben auch schon angefangen, Kunststoffe aus CO2 herzustellen. Da wird CO2 aus Abgasen oder aus der Atmosphäre für neuen Kunststoff genutzt. Wie bewerten Sie diese Technologie?
Sie ist sehr vielversprechend, aber die Verfahren stecken noch in den Kinderschuhen. Kunststoffe aus CO2 können in naher Zukunft eine Ergänzung sein – wenn wir überflüssige grüne Energie dafür einsetzen. Der Kohlenstoff im CO2-Molekül ist recht stark gebunden und braucht relativ viel Energie zur Abtrennung vom Sauerstoffmolekül.
Sollten die biobasierten Kunststoffe im besten Fall auch biologisch abbaubar sein?
Biologisch abbaubare Kunststoffe geben den Kohlenstoff an die Natur ab und dienen als Futter für Mikroben. Der darin gebundene Kohlenstoff geht für unseren Recyclingkreislauf verloren. Ich setze mich dafür ein, dass bioabbaubare Kunststoffe nur dort genutzt werden, wo der Kunststoff zwangsläufig in der Umwelt landet. So sind diese sinnvoll bei Wuchshüllen für junge Bäume, Mähfäden, meinetwegen Silvesterraketenspitzen. Alles andere verleitet nur zur Nachlässigkeit und Umweltverschmutzung. Kunststoffe gehören grundsätzlich ins Recycling; das gilt auch für Biokunststoffe.
Recycelbare Biokunststoffe werden kommen, wenn wir die Transformation ernst meinen.“
Ist das heute schon möglich?
Technisch möglich wäre das, aber wirtschaftlich ist es noch nicht. Dazu müsste ein bestimmter biobasierter Kunststoff erst einen Marktanteil erreichen, ab dem es sich für die Recyclingfirmen mehr lohnt, sie zu recyceln, als sie einfach auszusortieren. Würden beispielsweise alle Shampooflaschen sämtlicher Hersteller ab jetzt aus einem speziellen Biokunststoff bestehen, dann könnte man darüber nachdenken. Heute macht das aber noch keinen Sinn. Recycelbare Biokunststoffe werden kommen, wenn wir die Transformation ernst meinen.
Wie wird sich diese Transformation der Branche, also die Defossilierung und die zunehmende Relevanz von Recycling und Biokunststoffen, auf die Beschäftigten auswirken?
Arbeitsplätze werden voraussichtlich nicht verloren gehen, aber für den Umgang mit neuen Materialien und Technologien müssen die Beschäftigten qualifiziert werden. Auch beim Recycling, für das die Maschinen immer stärker auch durch Künstliche Intelligenz aufgerüstet werden, ist das nötig. Ich bin mir aber sicher, dass die gut ausgebildeten Fachexperten – vom Laboranten bis zur Maschinenführerin – damit gut klarkommen werden.
Welche Unternehmen werden sich verändern müssen?
Alle, die zur Wertschöpfungskette der Kunststoffproduktion gehören, werden sich anpassen müssen. Beginnen wir bei den Chemieunternehmen. Die müssen in ihre Fabriken investieren und sie modernisieren. Eine wichtige Maschine ist zum Beispiel der sogenannte Steamcracker. Der löst durch heißen Dampf die Kohlenstoffmoleküle aus Öl und Gas heraus. BASF hat jetzt den ersten vollelektrischen Steamcracker vorgestellt, der mit regenerativem Strom statt mit fossilen Brennstoffen betrieben werden kann. Mit solchen Steamcrackern wird auch das chemische Recycling noch umweltschonender möglich. Wenn das werkstoffliche Recycling durch Aufschmelzen, Säubern und Abkühlen nämlich an seine Grenzen stößt, müssen Kunststoffe chemisch recycelt werden.
Wie genau funktioniert chemisches Recycling?
Dabei werden Kunststoffe nicht aufgeschmolzen, sondern mit relativ viel Energie in ihre Grundbestandteile Kohlenstoff und Wasserstoff aufgebrochen. Aus diesen Grundbestandteilen können die Kunststoffe dann wieder völlig neu und besonders sauber aufgebaut werden. Dies benötigen wir wohl für die anspruchsvollsten Anwendungen in der Medizin und in der Lebensmittelindustrie.
Wie sieht es auf der nächsten Stufe aus, bei den Verarbeitern?
Verarbeiter fertigen Bauteile aus Kunststoffgranulaten. Sie sind der Kern der Branche und sind meist mittelständisch organisiert. Wenn mich einer dieser Mittelständler fragt, wie er sich vorbereiten kann, sage ich: Sichert euch den Zugriff auf die Rezyklate! Bei den recycelten Kunststoffen werden sie nämlich in Konkurrenz mit den großen Chemieunternehmen treten, weil diese die Kunststoffabfälle auch als Rohstoff für ihre Herstellungsprozesse benötigen, insbesondere für das chemische Recycling. Die Verarbeiter müssen befürchten, dass die Chemieunternehmen den Markt leer kaufen. Bei den beiden gängigsten Kunststoffen, Polyethylen und Polypropylen, die über 50 Prozent aller Kunststoffe ausmachen, ist das am wahrscheinlichsten, denn da sind fast nur Kohlenstoff- und Wasserstoffatome drin, die man recht gut für den Steamcracker nutzen kann.
Was verändert sich bei den Maschinenbauern?
Die Maschinenbauer beliefern die Verarbeiter mit ihrer Technologie. Schon heute bekommt man auf den Branchenmessen interessante Veränderungen mit. Die Maschinen müssen auf schwankende Stoffzusammensetzungen eingestellt werden, denn die Rezyklate sind nicht so einheitlich wie neue Kunststoffe. Wir benötigen also intelligentere Maschinen, die sich beispielsweise durch KI oder bessere Sensoren daran anpassen. Das ist keine Umwälzung der Branche, aber eine Anpassung.
Für wie realistisch halten Sie es, dass die Transformation der Kunststoffbranche gelingt?
Ich werde von meinen Freunden mitunter als Optimist bezeichnet, aber das Potenzial ist ohne Frage da. Eine aktuelle Studie des Nova-Instituts in Hürth hat gezeigt, dass es rein rechnerisch möglich wäre, genug Biomasse zu produzieren, um damit sogar alle Kunststoffe auf der Welt zu ersetzen. Um immerhin das Ziel von 30 Prozent biobasierten Kunststoffen zu erreichen, müssen wir dringend genügend Kapazitäten aufbauen. Aber erst mal muss es heißen: Recycling, Recycling, Recycling!
Christian Bonten
Der Maschinenbauingenieur leitet das renommierte Institut für Kunststofftechnik in Stuttgart. Schon als Kind lernte er von seinem Vater, ebenfalls Kunststoffexperte, Eigenschaften von Kunststoffen durch Fühlen und Kauen festzustellen. Er ist Mitglied und Förderer der Renewable Carbon Initiative (RCI), die sich für die Transformation in Richtung nicht-fossiler Kohlenstoffe einsetzt.