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Tesla-Werk im brandenburgischen Grünheide: Magazin Mitbestimmung

Mitbestimmung: Legal, illegal, ganz egal

Ausgabe 04/2024

Immer mehr Firmen drücken sich vor der Unternehmensmitbestimmung. Wer die Erosion aufhalten will, muss das nationale und das europäische Recht nachschärfen. Von Kay Meiners

Was Tesla-Gründer Elon Musk über Gewerkschaften zum Besten gibt, das erinnert an die Kämpfe um das deutsche Mitbestimmungsgesetz vor einem halben Jahrhundert. Gewerkschaften, behauptet Musk, schürten „Negativität“ und feindselige Beziehungen“ in Unternehmen. In den USA versuchte der bekennende Trump-Unterstützer schon mit allen möglichen Mitteln, Gewerkschaften draußen zu halten: Er wollte T-Shirts mit Gewerkschaftslogos verbieten, drohte gewerkschaftsaffinen Beschäftigten mit dem Verlust von Aktienoptionen, kündigte engagierten Beschäftigten. Auch in der Tesla-Gigafactory im brandenburgischen Grünheide weht ein harter Wind, selbst wenn es mittlerweile einen Betriebsrat gibt.

„Tesla ist mein erstes Beispiel, wenn ich über Umgehung der Unternehmensmitbestimmung rede“, sagt Sebastian Sick, Experte für Unternehmensrecht in der Hans-Böckler-Stiftung. Mehr als 10 000 Beschäftigte arbeiten in Deutschland für Tesla. Einen mitbestimmten Aufsichtsrat gibt es trotzdem nicht. Dabei müssen seit 1976 in allen Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten die Aufsichtsräte paritätisch besetzt sein: die Hälfe mit den Kapitaleignern, die Hälfte mit Vertretern der Beschäftigten.

Tesla nutzt – ganz legal – ein Schlupfloch: die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft, kurz SE, für: Societas Europaea. Die Autoproduktion in Grünheide erfolgt durch die Tesla Manufacturing Brandenburg SE. „Es ist ein Unding, dass die SE überhaupt solche legalen Schlupflöcher bei der Unternehmensmitbestimmung zulässt“, sagt Jannes Bojert vom IG-Metall-Bezirk Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen. Moralische Appelle, diese Schlupflöcher nicht zu nutzen, sind überflüssig. Sie müssen politisch, vom Gesetzgeber geschlossen werden.“ Aktuell, so der Gewerkschafter, sei die IG Metall noch dabei, sich eine Position in der betrieblichen Mitbestimmung zu erkämpfen, „Dinge, die sonst in der Automobilbranche selbstverständlich sind.“ Zwar ist die IG Metall-Liste bei der letzten Betriebsratswahl die stärkste geworden, ist aber im Betriebsrat noch in der Opposition. „Wenn die Mehrheit nicht mitbestimmen und gute Regeln für die Belegschaft schaffen will, bleiben Mitbestimmungsrechte ungenutzt. Da bleibt nur der Weg, über Aufklärung der Belegschaft und betriebliche Öffentlichkeitsarbeit Mehrheiten im Gremium zu gewinnen“, sagt Bojert. 

  • Grafik zur Mitbestimmungsvermeidung
    Quelle: Hans-Böckler-Stiftung/I.M.U.

Viele schlüpfen einfach durch

Von den 1084 Unternehmen, die in Deutschland formal unter das Mitbestimmungsgesetz von 1976 fallen, hatten im Jahr 2022 gerade einmal 60,5 Prozent einen paritätisch besetzten Auf sichtsrat. Dies entspricht einem Rückgang um sieben Prozentpunkte in nur drei Jahren. Von den Großunternehmen ohne paritätische Mitbestimmung ignorieren laut einer aktuellen Studie des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung 127 das Gesetz und brechen damit geltendes Recht. Noch mehr Unternehmen, 256, haben „legale juristische Kniffe“ gefunden, mit denen sie die Mitbestimmung umgehen. Insgesamt wird mindestens 2,45 Millionen Beschäftigten die paritätische Mitbestimmung versagt. „Das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft ist hierdurch ernsthaft gefährdet“, warnt I.M.U.-Unternehmensrechtsexperte Sebastian Sick. Oft sind es Familienunternehmen, die die Mitbestimmung missachten. Rund zwei Drittel der Unternehmen, die die paritätische Aufsichtsratsbesetzung vermeiden oder ignorieren, sind in Familienhand. Auch bestimmte Branchen gelten seit jeher als schwierig, allen voran Handels- und Dienstleistungsunternehmen. Nur 28 Prozent der Handelsunternehmen mit über 2000 Beschäftigten sind paritätisch mitbestimmt.

Doch als ein „Kernproblem“, so die Studie, erweist sich immer wieder die Europäische Aktiengesellschaft. Nur jede sechste SE mit über 2000 Beschäftigten ist paritätisch mitbestimmt. Unternehmen haben durch die Umwandlung in eine SE die Möglichkeit, den aktuellen Mitbestimmungsstatus „einzufrieren“, bevor sie die Schwelle von 2000 Beschäftigten erreichen, oder gleich ohne Mitbestimmung zu starten.

Eine weniger starke Form der Mitbestimmung ist im Drittelbeteiligungsgesetz geregelt. Es gilt für Firmen, die mehr als 500, aber nicht mehr als 2000 Beschäftigte haben. Hier kommt die Böckler-Studie zu dem Ergebnis, das Gesetz sei derart löchrig“, dass weite Teile der Unternehmen in dieser Größenklasse gar nicht erfasst werden. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 800 Unternehmen das Gesetz rechtswidrig nicht anwenden und durch Gesetzesreformen bis zu 1500 weitere Unternehmen unter den Geltungsbereich des Gesetzes fallen würden.

Der Koblenzer Automobilzulieferer Stabilus etwa nutzt eine SE, die durch Umwandlung einer SA in Luxemburg geschaffen wurde und nach der Umwandlung ihren Sitz nach Deutschland verlegte. Dies lasse, so die IG-Metall-Juristin Claudia Sowa-Fank, „die Vermutung zu, dass eine Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat auf Holdingebene ausgeschlossen werden sollte.“ Sie sagt: „Hätte man sich für ein anderes Konstrukt entschieden, beispielsweise eine grenzüberschreitende Verschmelzung, so wäre ein drittelbeteiligter Aufsichtsrat zu bilden gewesen.“

Bei Tesla erkämpfen wir Dinge, die sonst in der Automobilbranche selbstverständlich sind.“

JANNES BOJERT, IG-Metall-Bezirk Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen

Es fehlt an harten Sanktionen

Harte Konsequenzen müssen die Mitbestimmungsignorierer nicht fürchten. Ernsthafte Sanktionen sind im Gesetz nicht vorgesehen. Sollten Beschäftigte ein gerichtliches Statusverfahren in Gang setzen, um einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat zu erzwingen, ändert selbst das in vielen Fällen wenig. Die Unternehmen können dann immer noch von den vielfältigen Vermeidungsmodellen Gebrauch machen, mit denen sich ein paritätisch mitbestimmter Aufsichtsrat legal verhindern lässt. So bei H&M: Die deutsche Tochter des schwedischen Textilhändlers, bis dahin eine normale GmbH, wechselte in eine niederländische B.V. & Co. KG gerade zu dem Zeitpunkt, als die Betriebsräte einen mitbestimmten  Aufsichtsrat durchsetzen wollten. Der zweitgrößte Textilhändler der Welt beschäftigte im vorigen Jahr allein in Deutschland mehr als 10 000 Menschen. Doch das Management, das weltweit mit steigenden Kosten zu kämpfen hat, ist auf Sparkurs. In den letzten vier Jahren wurden über 600 Filialen geschlossen, auch im zweitwichtigsten Markt, Deutschland. Dabei würde ein mitbestimmter Aufsichtsrat nur stören.

Neuzugang mit sanftem Druck

Einen – nicht ganz freiwilligen – Sinneswandel kann man gerade beim Kreuzfahrtschiffspezialisten Meyer Werft feststellen: Im Jahr 2015, als die Geschäfte noch liefen wie geschmiert, verkündete das Unternehmen, wie in Stein gemeißelt: „Die Meyer Werft ist seit 220 Jahren ohne Aufsichtsrat erfolgreich gewesen und soll es auch zukünftig sein.“ Ein mitbestimmter Aufsichtsrat, hieß es damals, „sei extrem hinderlich“ und erschwere schnelle und flexible Entscheidungen. Heute, nur neun Jahre später, liest sich das ganz anders: „Die perspektivische Bildung eines Aufsichtsrats tragen wir mit und sind überzeugt, dass es in diesem Gremium eine konstruktive, vorausschauende Zusammenarbeit geben wird“, teilte die Inhaberfamilie Meyer kürzlich mit. Grund für den Sinneswandel: Die Werft steckt in einer existenzbedrohenden Krise. Sie benötigt 2,7 Milliarden Euro, um wieder in sicheres Fahrwasser zu gelangen. Ein Teil des Geldes soll in Form von Bürgschaften oder Kapitalbeteiligungen vom Bund und vom Land Niedersachsen kommen, wo 3000 der weltweit 7000 Beschäftigten arbeiten. Doch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) stellt Bedingungen für staatliche Hilfen: Die Werft, die vor neun Jahren ihren Firmensitz, um einen Aufsichtsrat zu verhindern, nach Luxemburg verlegt und sich in eine Société à responsabilité limitée (S.a.r.l.) umgewandelt hatte, müsse zurückkehren und ein mitbestimmtes Aufsichtsgremium bekommen. Auf die Frage, ob dies eine zwingende Voraussetzung für staatliche Hilfen sei, sagte Weil in seiner bekannt spröden Art: „Ja, so sehen wir das.“ Das wäre ein Punktsieg für die Mitbestimmung – aber mehr nicht.

Mehr zum Thema:

Bedenkliches SE-Urteil

Im Mai bezog der Europäische Gerichtshof (EuGH) Stellung zu einer der umstrittensten Fragen im Recht der Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Es ging darum, ob das Verhandlungsverfahren zur Beteiligung der Beschäftigten in einer SE einzuleiten beziehungsweise nachzuholen ist, wenn eine zunächst arbeitnehmerlose SE herrschendes Unternehmen von Tochtergesellschaften mit Beschäftigten in einem oder mehreren Mitgliedstaaten wird. Die Antwort des Gerichts war eindeutig: Nein. Das Fehlen von Regelungen zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens sei kein Versehen, sondern eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers. Eine solche Regelung sei im Interesse der Stabilität der bereits gegründeten SE bewusst verworfen worden.

Urteil vom 16.05.2024 (Az. C-706/22)
 

Die Studie

Sebastian Sick: Erosion der Unternehmensmitbestimmung. Zur Mitbestimmung und Mitbestimmungsvermeidung in Deutschland. I.M.U. Mitbestimmungsreport Nr. 81, Juni 2024


Was der Gesetzgeber tun kann

In Deutschland
Sinnvoll wäre eine gesetzlich bindende Klarstellung, dass die Mitbestimmungsgesetze für alle kapitalistisch strukturierten Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten in Deutschland gelten.

Im Drittelbeteiligungsgesetz gibt es keine automatische Konzernzurechnung von Beschäftigten aus Tochterunternehmen. Ein Konzern bleibt ohne jede Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat, wenn er sich in eine Holding und verschiedene Töchter aufgliedert, die jeweils maximal 500 Beschäftigte haben.

Es braucht verbesserte Regeln zur Kontrolle und Durchsetzung der Mitbestimmung.

Der deutsche Gesetzgeber muss tätig werden und das „Einfrieren“ verhindern.

In der EU
Bei der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) und analog bei einigen ähnlichen Modellen müsste dafür gesorgt werden, dass das „Einfrieren“ auf einem Status ohne oder mit geringer Mitbestimmung durch taktische Umwandlung in einem frühen Stadium verhindert wird.

Die EU sollte eine Rahmenrichtlinie verabschieden, die europaweit generelle Mindeststandards für die Arbeitnehmerpartizipation setzt.

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