Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungProgramme: Kurz gelesen
Keine Lust auf ellenlange Texte? Wir haben die Programme der wichtigsten Parteien, die ins Europaparlament wollen, durchgesehen. Von Kay Meiners, Andreas Molitor und Marius Ochs
Seit’ an Seit’
Die SPD gilt traditionell als die Partei mit dem besten Draht zu den Gewerkschaften – kein Wunder angesichts gemeinsamer Vergangenheit. Die Geistesverwandtschaft zieht sich bis in die Formulierungen der Forderungen und Programmpunkte zur Europawahl. Öffentliche Fördergelder nur bei Guter Arbeit und Tarifbindung, Stärkung der Europäischen Betriebsräte, ein soziales Fortschrittsprotokoll und mehr öffentliches Geld für den ökologischen und sozialen Umbau der Wirtschaft – all das findet sich beim DGB fast wortgleich. SPD und Gewerkschaften fordern, wie auch die Grünen, das europaweite Flickwerk unterschiedlicher Mitbestimmungsregeln durch eine EU-Rahmenrichtlinie zu vereinheitlichen. Die SPD, die 2019 mit 15,8 Prozent ihr bis dato schlechtestes Ergebnis erzielte, tritt erneut mit der EU-Parlamentsvizepräsidentin Katarina Barley als Spitzenkandidatin an. Die Tochter aus einer deutsch-britischen Ehe („Ich bin Europäerin durch und durch“) gab vor fünf Jahren ihr Amt als Bundesjustizministerin für die Spitzenkandidatur auf. In den vergangenen Jahren setzte sie sich für ein entschlossenes Vorgehen bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in der EU ein und plädierte etwa für ein hartes Vorgehen gegen den ungarischen Ministerpräsidenten Orbán.
Fremdeln war früher
Im Wahlprogramm der Grünen zur ersten Europawahl 1979 war von Mitbestimmung überhaupt nicht die Rede. Grüne und Gewerkschaftsbewegung – das war damals kein Traumpaar. Alles Geschichte: Bei der Formulierung des aktuellen Programms hat der gewerkschaftsnahe Flügel der Partei erkennbar seinen Stempel hinterlassen, beispielsweise mit dem Passus, bei der Umwandlung eines Unternehmens in eine Europäische Aktiengesellschaft dürfe es „nicht mehr zum Einfrieren des bestehenden Mitbestimmungsniveaus“ kommen. Bei der Umsetzung und Überwachung der Mindestlohnrichtlinie sind die Grünen sogar näher und konkreter an den Forderungen des DGB als die Sozialdemokraten. Hier und da sind die Formulierungen allerdings auch butterweich – etwa bei der Vergabe von EU-Geldern, die man „stärker“, nicht – wie beim DGB – „zwingend“, daran koppeln will, dass „Sozialstandards eingehalten und geltende Tarife befolgt werden“. In den vergangenen fünf Jahren haben die Grünen, ebenso wie die SPD, mitarbeiterfreundliche EU-Entscheidungen mit vorangetrieben – zur Mindestlohnrichtlinie, zum Lieferkettengesetz oder zum Verbot von Produkten, die mit Zwangsarbeit hergestellt wurden. Oft wurden sie allerdings, gerade in jüngster Zeit, auf den letzten Metern von ihrem Berliner Ampelkoalitionspartner FDP ausgebremst.
Ein bisschen Entgegenkommen
CDU und CSU setzen ihren Fokus im Europawahlkampf auf Sicherheit und Verteidigung. Außerdem drängen sie darauf, das Verbrenner-Aus ab 2035 rückgängig zu machen. Gewerkschaftliche Forderungen nimmt die Partei nur selektiv und oft in abgeschwächter Form auf. So will sie etwa die Tarifbindung in der EU erhöhen, lehnt es aber ab, die Vergabe von EU-Mitteln an diese Bedingung zu knüpfen. Den Green Deal und die ökologische Taxonomie der EU trägt die CDU mit Ursula von der Leyen als Spitzenkandidatin mit, will sie aber auf ihre „Praxistauglichkeit“ überprüfen. Und während der DGB verbindliche Mindeststandards für die Ausbildung fordert, heißt es bei der CDU lediglich: „Die Mitgliedstaaten sollen
Anerkennungsverfahren und Transparenzinstrumente für die berufliche Bildung weiter vereinfachen.“ Auffällig ist, dass sich die Partei im Europawahlprogramm nicht zur Unternehmensmitbestimmung äußert. Der DGB fordert, dass Unternehmen, die europäische Richtlinien nutzen, um ihre Unternehmensverfassung zu ändern, dazu verpflichtet werden sollen, Verhandlungen zur Gründung eines europäischen Gremiums der betrieblichen Interessenvertretung zu führen. Dazu braucht es eine EU-Rahmenrichtlinie zur Unterrichtung, Anhörung und Unternehmensmitbestimmung. Die CDU geht darauf mit keinem Wort ein. Dafür verspricht sie, die Standards zum Arbeitnehmerschutz auch bei den Beschäftigten auf digitalen Plattformen sicherzustellen. Ein dezidierter Plan, Mitbestimmungslücken zu schließen, sähe anders aus.
Neue Partei, alte Bekannte
Das mit Abstand kürzeste Programm hat das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW): Auf 20 Seiten geht es von Umverteilung („Besteuerung von Superreichen“) über „Friedensverhandlungen“ mit Russland bis hin zu „Meinungsfreiheit statt Cancel Culture“. Formulierungen aus dem DGB-Forderungskatalog finden sich teilweise wieder, etwa zum Vorrang sozialer Grundrechte vor Binnenmarktfreiheiten, zu einer Investitionsregel, nach der bestimmte öffentliche Investitionen von der europäischen Schuldenbremse ausgenommen werden sollen, oder zu einem wirksamen Monitoring der Mindestlohnrichtlinie. Zu einer Reform Europäischer Betriebsräte oder zu Mitbestimmung schreibt das Bündnis nichts. Die Parteichefin tritt nicht als Spitzenkandidatin für Europa an, schickt aber einen Polit-Promi ins Rennen: Fabio de Masi machte sich als Finanzexperte der Linken während des Wirecard-Skandals einen Namen. Jetzt setzt er sich unter anderem für eine Mindestbesteuerung großer Konzerne und eine effektive Finanztransaktionssteuer ein.
Hoffnung auf einen Neustart
„Klimagerechtigkeit“ und „Frieden“ sind die Begriffe, mit denen die Partei in den Wahlkampf zieht. Aber auch das Wort „Mitbestimmung“ kommt ganze 21-mal im Programm der Partei vor, die nach der Auflösung der Bundestagsfraktion in ihrer Existenz bedroht ist. Viele Forderungen decken sich mit denen des DGB: Betriebe sollen nicht mehr Standort oder Rechtsform wechseln dürfen, um Mitbestimmungsrechte auszuhebeln. Öffentliche Förderung soll an Mitbestimmungsrechte und Tarifverträge geknüpft werden. Europäische Betriebsräte müssen gestärkt werden. Nach dem Parteiaustritt von Sahra Wagenknecht ist der Weg frei für den ökologischen Fokus. Der kommt in Gestalt von Carola Rackete, ehemalige Sea-Watch-3-Kapitänin, Klimaaktivistin und jetzt parteilose Kandidatin auf Listenplatz zwei hinter Martin Schirdewan. Rackete steht für den Versuch eines Neustarts für Die Linke: Um bei neuen grünen und sozialen Bewegungen zu fischen, sollen Aktivisten stärker eingebunden werden. Auf ihrem ersten Parteitag musste sich Rackete für ihre Forderung entschuldigen, die Partei müsse sich von ihrer SED-Vergangenheit konsequenter distanzieren. Die Stimmung ist aber versöhnlich, wie die Taz berichtete: Der Parteitag applaudierte der Entschuldigung und wählte Rackete mit 77,8 Prozent der Stimmen auf den zweiten Listenplatz.
Das trojanische Pferd
Auf dem Europaparteitag der AfD in Magdeburg im vergangenen Jahr geißelten Redner die EU als „Monster“. Maximilian Krah, der Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl, soll nun dieses Monster bekämpfen. Krah gilt als Anhänger Björn Höckes und Vertreter des rechten Flügels der Partei. Zwar scheint es, dass er ein wenig Kreide gefressen hat, wenn er erklärt, nicht aus der EU austreten zu wollen, doch das bedeutet nur, dass er die EU von innen heraus bekämpfen will. Den anderen EU-Abgeordneten wirft er vor, einem „Welteinheitsstaat“ unter Führung der USA zu huldigen. Dagegen setzt er auf eine völkisch-nationalistische Vision: Europa wird nicht über Gemeinsamkeiten, nicht als Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft definiert, sondern vor allem über die Abstammung. Krah nennt das beschönigend ein „Europa der Vaterländer“. Die EU in ihrer heutigen Form sei ein Angriff auf die nationale Souveränität. Den Green Deal zur sozialökologischen Transformation bezeichnet die AfD als zerstörerisch, den Euro als gescheitert. Zu Gewerkschaften, Arbeitnehmerrechten oder mehr Mitbestimmung steht kein Wort im Wahlprogramm. Stattdessen teilte Krah auf der Plattform X einen Kommentar seines Parteigenossen René Springer, wonach die „linken Gewerkschaften “ schon lange nicht mehr die „Interessen der arbeitenden Bevölkerung “ vertreten würden.
Ja zu einem schlanken Europa
Die liberale Partei bekennt sich zur EU, die sie in einer „Bewährungsprobe“ sieht: „Die Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der terroristische Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 sind Zäsuren für ganz Europa.“ Die Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann fordert „mehr Mut“ im Umgang mit diesen Krisen. Man könne schließlich nicht erwarten, „dass die Amerikaner für uns die Kastanien aus dem Feuer holen“. Das gilt auch für die militärische Unterstützung der Ukraine. Wirtschaftlich bezeichnet die FDP die „Bekämpfung der Inflation“ als Priorität und fordert von der EU haushaltspolitische Zurückhaltung bei der Schaffung neuer Eigenmittel. Beim Green Deal soll es eine „Regulierungspause“ geben. Europas soziale Dimension spielt eine untergeordnete Rolle. Ebenso bleibt die Partei der Garant dafür, dass sich in Europa in Sachen Gewerkschaften und Mitbestimmung nichts bewegt. Ein Beispiel: Zuletzt versuchte die Partei, durch eine Vetopolitik im Bund – eine beliebte Strategie des kleinsten Koalitionspartners in der Ampel –, das europäische Lieferkettengesetz zu verhindern, was einen Koalitionskrach auslöste. Gegen das Gesetz, das Menschen- und Arbeitsrechte besser schützen soll, setzten die Liberalen den Slogan: „Weniger Bürokratie, mehr Freiheit!“