Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: INTERVIEW 'Wir haben es mit einer neuen Maßlosigkeit zu tun.'
IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban über die arbeitspolitische Humanisierungsoffensive der IG Metall.
Das Gespräch führten die Journalistinnen CORNELIA GIRNDT und MICHAELA BÖHM.
Hans-Jürgen Urban, du bist jetzt neu im geschäftsführenden Vorstand der IG Metall. Ist das gute Arbeit?
Ja, sehr gute Arbeit. Wir haben den Begriff definiert: Gute Arbeit beinhaltet: ein faires, abgesichertes Einkommen, Beschäftigungs-sicherheit, soziale Sicherheit und die Möglichkeit, interessante Arbeit zu machen und sich weiterentwickeln zu können. Von daher habe ich richtig gute Arbeit.
Aber dazu gehört doch auch eine vernünftige Arbeitszeit
Richtig, manche meiner Arbeitstage sind sehr lang. Aber die Balance zwischen Arbeit und Leben stimmt dennoch. Außerdem: In meinem Job geht es in erster Linie darum, nicht die eigenen, sondern die Arbeitsbedingungen der Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben zu verbessern.
Sind die tatsächlich so schlecht geworden, wie es manche Umfragen nahelegen?
Nicht für jeden und nicht überall. Aber schauen wir mal hinein in die Betriebe: Kurze Taktzeiten, monotone Tätigkeiten, Über-Kopf-Arbeiten - all das, was wir überwunden glaubten, kehrt zurück. Arbeit wird wieder zerhackt in kleine, überschaubare Handgriffe. Wir erleben ein arbeitspolitisches Roll-back. Gleichzeitig nehmen psychische Belastungen in rasantem Tempo zu. Die Menschen stehen unter enormem Druck. Arbeit ist für viele definitiv schlechter geworden.
Waren die 90er Jahre arbeitspolitisch wirklich ein verlorenes Jahrzehnt, wo doch innovative Modelle wie Teamarbeit eingeführt wurden?
Viele hegten die Hoffnung, etwa mit der Gruppenarbeit einen allzu plumpen Taylorismus ablösen zu können. Dazu gehörte die optimistische Einschätzung, die Unternehmen würden aus einem wohlverstandenen Eigeninteresse heraus die Arbeitsbedingungen humanisieren - eine These, die auch in der Wissenschaft viele Anhänger fand. Das hat sich offensichtlich als Irrtum herausgestellt. Und dann hat uns - ehrlich gesagt - der Finanzmarktkapitalismus kalt erwischt. Wir haben die Wucht, mit der das Shareholder-Value-Regime betriebliche Sozialstandards und Arbeitsbedingungen in Frage stellt, unterschätzt.
Was genau passiert da?
Mit dem Shareholder-Value-Kapitalismus haben die Finanzer und Controller im Management die Oberhand gewonnen. Wir haben es heute in den Unternehmen mit einer neuen Maßlosigkeit zu tun und mit einem neuen Konservatismus, dem fantasielosen Rückfall in Hierarchien, auf kurze Takte und monotone Arbeit. Maßlos dagegen sind die Zumutungen gegenüber Beschäftigten: überlange Arbeitszeiten, eine nie da gewesene Verdichtung von Arbeit, hoch geschraubte Leistungsanforderungen. Viele erleben einen geradezu imperialen Zugriff auf den ganzen Menschen und seine gesamte Lebenszeit. Die Shareholder-Value-Fixierung frisst Ansätze innovativer Arbeitspolitik allmählich auf.
Aber dagegen etwas zu tun, dafür gibt es doch eine starke IG Metall, gibt es Betriebsräte und Vertrauensleute?
In den letzten Jahren waren Gewerkschaften und Betriebsräte vor allem damit beschäftigt, den massiven Angriffen auf Arbeitsplätze, Standorte und Einkommen entgegenzutreten. Der Erhalt der Arbeit rangierte vor der Qualität von Arbeit. Als uns dann die Kolleginnen und Kollegen immer nachdrücklicher über Leistungsverdichtung, ansteigenden Stress und insgesamt gesundheitsverschleißende Arbeitsbedingungen berichteten, wurde deutlich: Wir hatten in den Betrieben und den gewerkschaftlichen Organisationen arbeitspolitische Kompetenz eingebüßt. Daraus entstand die Idee, eine neue Humanisierungs-Initiative anzustoßen.
Das war die Gute-Arbeit-Initiative der IG Metall, die 2004 startete. Konnte man an die Humanisierungsdebatte der 70er Jahre anknüpfen?
Wir mussten unseren strategischen Ansatz neu ausrichten. Arbeitsgestaltung ist nicht mehr so stark wie früher auf Technikgestaltung orientiert. Heute entsteht der Druck vor allem durch Umorganisation von Arbeit, durch neue Konzernstrukturen, durch Dezentralisierung und Vermarktlichung. Zugleich erhält die systematische Beteiligung der Beschäftigten einen höheren Stellenwert. Und die Verbindung von Arbeits- und Lebenswelt spielt eine größere Rolle, da heute die Entgrenzung von Leistungsabforderungen und Arbeitszeiten den gesamten Lebensrhythmus prägt.
Ist die von der IG Metall erkämpfte 35-Stunden-Woche denn eine entgrenzte oder gar maßlose Arbeitszeit?
Nein. Damit lässt sich die Balance von Arbeit und Leben gut verwirklichen. Nicht die 35 ist das Problem, sondern die Tatsache, dass sie oft nur noch auf dem Papier existiert. Die Praxis sieht doch so aus, dass Betriebsräte erpresst werden: Entweder ihr akzeptiert längere Arbeitszeiten oder die Arbeitsplätze verschwinden. Wir erleben massive Angriffe auf tarifliche Arbeitszeitstandards. Das hat nicht nur zur Folge, dass Beschäftigte mehr und länger arbeiten. Damit gerät die Hoffnung unter die Räder, auch selbst über eigene Zeit verfügen zu können und nicht nur das Unternehmen und der Kunde.
Worin unterscheidet sich ein moderner Arbeits- und Gesundheitsschutz von dem klassischen Arbeitsschutz, der mit Ohrstöpseln und ergonomischen PCs assoziiert wird?
Ein moderner Arbeits- und Gesundheitsschutz muss stärker präventiv orientiert sein. Auch wenn die Ohrstöpsel weiterhin unverzichtbar sind, halten wir es für sinnvoller, Lärm an der Quelle zu drosseln als Renten für Lärmschwerhörige zu zahlen. Was macht krank? Was schädigt die Gesundheit? Alles gehört auf den Prüfstand - von der Arbeitszeit über die Arbeitsorganisation bis zu den physischen, aber eben auch den psychischen Belastungen. Arbeitsschutz - das sind Maßnahmen der menschengerechten Gestaltung von Arbeit, keine vereinzelte Mängelbeseitigung. So steht es im Gesetz, und das ist unser Ansatz.
Für die Betriebsräte ist Arbeits- und Gesundheitsschutz eher ein ungeliebtes Kind, ein Nischenthema ohne viel Anerkennung. Wie kann man dieses Image loswerden?
Da ist was dran. Arbeits- und Gesundheitsschützer haben lange Zeit weniger Anerkennung erfahren als etwa die Lohngestalter und Akkordfachleute. Das verändert sich gerade. So wie psychische Belastungen nicht mehr als Randproblem abgetan werden, sondern oftmals ins Zentrum der Arbeitspolitik rücken. Und je stärker dieses Bewusstsein bei Betriebsräten, Vertrauensleuten und Belegschaften wächst, desto mehr Anerkennung erfahren auch die Arbeits- und Gesundheitsschützer.
Manager denken in Quartalszahlen. Gute Arbeit hingegen will dafür sorgen, dass die Arbeit der heute 30-Jährigen so beschaffen ist, dass er und sie gesund die Rente erreichen. Gegensätzlicher geht es kaum
Das ist uns bewusst. Hier prallen zwei völlig unterschiedliche Logiken aufeinander. Hier das Shareholder-Value-Diktat mit seinen Quartalsberichten, den betriebswirtschaftlichen Kennziffern und der ganzen Kurzfristhektik. Dort "Gute Arbeit" mit einer langfristigen Perspektive, mit dem Blick auf Nachhaltigkeit und die Qualität von Arbeit.
Wie will die IG Metall die Personalchefs und die Finanzchefs davon überzeugen, bei dem Projekt "Gute Arbeit" mitzumachen?
Wir haben es mit zwei Typen von Management zu tun: Die einen machen harte Opposition und lehnen alles ab, was nicht der Steigerung von Gewinnen dient. Die anderen sind bereit, so lange Zugeständnisse zu machen, wie "Gute Arbeit" dazu beiträgt, Produktivität zu steigern und im Wettbewerb eine Nasenlänge voraus zu sein. Daran setzen wir an, aber wir gehen weiter. Für uns ist das Recht auf Gesundheit kein betriebswirtschaftliches Anhängsel, sondern ein Menschenrecht. Und das gilt doch wohl auch im Betrieb?
Taugt "Gute Arbeit" wirklich als Gegenmachtprojekt? Oder sind nicht im Gegenteil kooperative Sozialbeziehungen unerlässlich, um der Arbeit im Betrieb ein gesundes Maß zu geben?
Zweifellos gibt es auch viele kooperative Unternehmen. Aber ebenso erleben wir, dass Humanisierungsvorhaben von den Controllern oder Finanzern zurückgepfiffen werden. Da kommt es dann eben zum Konflikt. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir unsere Verhandlungsmacht im Betrieb stärken. Humane Arbeitszeiten werden uns nicht geschenkt. Die müssen wir einem Management hart abringen. Und oft ist die bewiesene Konfliktfähigkeit dann wieder Grundlage für eine neue Kooperation, in der aber die Interessenvertretung gestärkt ist. Also: So viel Kooperation wie möglich - so viel Gegenmacht und Konflikt wie nötig!
Aber wenn sich die Unternehmensleitungen dann doch querstellen? Was dann?
Dann geht es eben nicht ohne Konflikt, in vielen Fällen nicht ohne die Einigungsstelle. Man sollte sich nichts vormachen. Gute Arbeit umzusetzen ist keine Kuschel-Veranstaltung. Aber sie ist letztlich im Interesse des Unternehmens - und übrigens auch der Gesellschaft.
Warum das?
Weil die Folgekosten von Krankheit und Arbeitslosigkeit auf die Gesellschaft abgewälzt werden. Ist der Ingenieur verschlissen, wird er eben ausgetauscht, sollen die Sozialkassen doch für die ruinierte Gesundheit zahlen. Humane Arbeitszeiten kosten den Betrieb eben etwas mehr Geld. Denn nun müssen mehr Menschen eingestellt werden, um die Aufträge abzuarbeiten. Das heißt: Die Kosten werden in den Betrieb zurückgeholt, und die gesellschaftlichen Institutionen werden entlastet.
Ist das Projekt "Gute Arbeit" wirklich - über einige Pilotbetriebe hinaus - in den Betriebsräten angekommen?
Es ist uns innerhalb von drei Jahren gelungen, "Gute Arbeit" in den Betrieben und in der Öffentlichkeit zu einem Begriff zu machen. Wir haben Instrumente entwickelt wie den Arbeitszeit-TÜV oder das Stressbarometer, und die Betriebsräte in den Pilotbetrieben arbeiten damit. Und wir werden verstärkt überlange Arbeitszeiten, Leiharbeit und zu hohe Leistungsanforderungen aufgreifen. Dahinter steht jetzt auch organisatorisch mehr Power auf Seiten der IG Metall, denn aus dem Projekt Arbeitsgestaltung/Gute Arbeit ist ein festes Arbeitsfeld geworden, mit personellen Ressourcen. Von hier aus werden wir über Abteilungsgrenzen hinweg gemeinsam mit Tarif- und Betriebspolitikern Projekte und Kampagnen anstoßen
.. auch in der Hoffnung, Mitglieder zu gewinnen ..
?
Neue zu gewinnen und alte zu halten. Gute Arbeit ist ein Mitgliederthema ersten Ranges. Wir wollen die IG Metall als betriebspolitischen Akteur profilieren. Indem wir anpacken, was den Kolleginnen und Kollegen auf den Nägeln brennt - gemeinsam mit ihnen.
Alle reden von guter Arbeit. Die SPD hat es kürzlich zu einem zentralen Begriff ihres Zehn-Punkte-Programmes erhoben. Kommt da Freude auf?
Das begrüßen wir nachdrücklich. Der Begriff ist verbreitet, auch andere politische Akteure wie Die Linke haben sich des Themas angenommen. Und auch in der Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung taucht gute Arbeit auf. An guter Arbeit kommt kaum einer mehr vorbei.
Kein Argwohn, keine Furcht, dass eure Inhalte bald nicht mehr wiederzuerkennen sind?
Noch sind die Ankündigungen vage. Wir sagen: Der allgemeinen Humanisierungs-Rhetorik muss jetzt eine konkrete Humanisierungs-Praxis folgen. Und das kostet Geld. Experten halten für das geplante Programm zur Humanisierung der Arbeit einen Startbeitrag von 30 Millionen Euro jährlich für angemessen.
Wer entscheidet über die Prioritäten?
Schon bei der Planung müssen Gewerkschaften, Betriebsräte und Kollegen aus den Betrieben beteiligt werden. Und schließlich muss eine Politik für gute Arbeit auch in anderen Politikfeldern Konsequenzen haben. Denn: Gute Arbeit verträgt sich nicht mit Arbeitsmarktreformen wie Hartz IV, Leiharbeit und der Rente mit 67. All das senkt die Qualitätsstandards der Arbeit. Man kann nicht eine solche Politik gegen Arbeitnehmer machen und gleichzeitig gute Arbeit propagieren. Wir werden sehen, wie ernst es der Bundesregierung mit guter Arbeit ist.
ZUR PERSON
HANS-JÜRGEN URBAN, 46, wurde auf dem Gewerkschaftstag mit 89,8 Prozent der Stimmen in den geschäftsführenden Vorstand der IG Metall gewählt. Urban ist in Neuwied geboren. Nach dem Abitur studiert er Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Philosophie und promoviert später an der Universität Marburg. 1991 wird Urban Gewerkschafts-sekretär, ab 1998 leitet er die Abteilung Sozialpolitik beim IG-Metall-Vorstand, seit 2003 den Bereich Gesellschaftspolitik/Grundsatzfragen. Im Vorstand der IG Metall ist Hans-Jürgen Urban zuständig für Sozialpolitik, Gesundheitsschutz und Arbeitsgestaltung.