zurück
Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Reputation entscheidet über Einfluss'

Ausgabe 05/2006

Die niederländische Europaabgeordnete Ieke Van den Burg (SPE) über ihre Erfahrungen als Aufsichtsrätin beim niederländischen Halbleiter-Multi ASML



Mit Ieke Van den Burg sprach Norbert Kluge vom ETUI.


Wie kommt eine sozialdemokratische Europaabgeordnete auf Vorschlag des Betriebsrats in den Aufsichtsrat eines niederländischen High-Tech-Unternehmens?
Das Unternehmen wollte sich wohl eine jüngere, profilierte Frau im Aufsichtsrat leisten und sich vom traditionellen "old boys network" absetzen. Hilfreich war fraglos auch mein gewerkschaftlicher Hintergrund, denn ich habe lange für den niederländischen Gewerkschaftsdachverband FNV gearbeitet. Gewählt wurde ich dann nach den Vorgaben des Strukturgesetzes von 2004.

Für alle Mitglieder des Aufsichtsrats gilt, dass sie unabhängig vom Unternehmen sein müssen, sie dürfen keinen Arbeitsvertrag mit dem Unternehmen haben. Mithin können Betriebsräte auch niemand aus ihren eigenen Reihen vorschlagen. Die vorgeschlagenen Personen müssen vom gesamten Aufsichtsrat akzeptiert werden, letztlich gewählt werden sie von der Aktionärshauptversammlung. Diese Prozedur gilt im Übrigen für alle Aufsichtsratsmitglieder.

Ist ASML ein Unternehmen mit Mitbestimmungstradition?
Es handelt sich um ein relativ junges High-Tech-Unternehmen mit rund 5000 Arbeitnehmern, davon 2200 in den Niederlanden. Sie produzieren Maschinen zur Chipherstellung und sind sehr erfolgreich auf den Märkten in Übersee. Durch die Gründung einer internationalen Holding hätte ASML die Mitbestimmung sogar umgehen können. ASML hat sich gegen diesen Weg entschieden. Das bedeutet, dass ein Drittel der Mitglieder des Aufsichtsrats auf Vorschlag des Betriebsrats gewählt werden.

Wie kommt ein niederländischer Betriebsrat zu seinen Personalvorschlägen?
Zwar stand den Arbeitnehmervertretungen auch schon nach dem alten Gesetz das Recht zu, Personen für den Aufsichtsrat zu empfehlen. In der Praxis wurde dies nur wenig genutzt, weil neue Mitglieder im Aufsichtsrat kooptiert wurden. Nun ist der Betriebsrat gefordert, ein eigenes Profil für diejenigen Persönlichkeiten zu entwickeln, die er vorschlagen möchte und von denen er dann auch etwas erwartet.

Im so genannten Tabaksblad Code, dem niederländischen Corporate-Governance-Kodex, ist festgelegt, welche Qualitäten die Aufsichtsratsmitglieder mitbringen sollen. Der Vorschlag des Betriebsrats muss, wie alle anderen Personalvorschläge auch, im Einklang mit dem Kodex sein.

Verstehen Sie sich als Vertreterin der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat?
Dem niederländischen System liegt weniger der Gedanke der Interessenvertretung im fundamentalen Widerstreit zwischen Arbeit und Kapital zu Grunde, wie er für die deutsche Mitbestimmung prägend ist. Wir fühlen uns in der Verantwortung fürs Unternehmen und wirken aus diesem Verständnis heraus an strategischen Entscheidungen mit, die dann auch im Interesse der Beschäftigten getroffen werden.

Zählt das niederländische System eher zur Gruppe derjenigen europäischen Staaten, in denen es keine Mitbestimmungsrechte auf Unternehmensebene gibt? Oder liegt es vielleicht sogar in der Nähe der deutschen Montanmitbestimmung, der die Idee der gesellschaftlichen Kontrolle von Unternehmen zugrunde liegt?
Öffentliche Kontrolle wäre als Charakterisierung des niederländischen Systems zu stark.

Aber richtig ist, dass dieses System eine gesellschaftliche Rolle des Unternehmens unterstützt - und zwar im Einklang mit unserem Verständnis, dass die Reputation der Mitglieder des Aufsichtsrats über ihren Einfluss entscheidet, die Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in die Unternehmenspolitik einzubringen. Europaweit sehe ich mein Land durchaus in der Gruppe der Länder mit Mitbestimmung, auch wenn dieser Begriff unsere Situation nicht gut erfasst.
 
Welche Bedeutung hat der Aufsichtsrat für das Unternehmen?
Mit sechs bis acht Treffen im Jahr ist die Aufsichtsratsarbeit in meinem Fall ziemlich aufwändig. Außerdem sitze ich im Ausschuss, der die Vergütung des Managements festlegt. Mit dem operativen, alltäglichen Geschäft sind wir allerdings nicht befasst. Unsere Funktion liegt in der Begleitung und Überwachung der strategischen Ausrichtung des Unternehmens.

ASML ist ein börsennotiertes Unternehmen mit einem breit gestreuten Aktienbesitz. Es ist also den Unwägbarkeiten der Finanzmärkte in besonderer Weise ausgesetzt. Das macht meine Aufgabe besonders reizvoll. Dabei ist uns das kontinentale Unternehmensverständnis näher als das rein von Finanzmarktinteressen dominierte in den USA.

Ist dieses Verständnis in den Niederlanden unumstritten?
Es gibt durchaus Stimmen, die das Vorschlagsrecht für Betriebsräte anzweifeln, weil es der optimalen Kontrolle des Unternehmens durch die Aktionäre entgegenstehe. Man darf nicht vergessen, dass die Gesetzesänderung von 2004 gerade unter dem Druck der Investoren zustande kam.

Wie stehen Betriebsräte und Gewerkschaften zum neuen System der Aufsichtsräte?
Ich bin im laufenden informellen Kontakt mit dem Betriebsrat. Diese Verbindung ist zwar offiziell nicht vorgesehen, aber in der Praxis möglich. Soeben wurde bei ASML ein neuer Betriebsrat gewählt. Er hat das Recht, den Aufsichtsrat als Ganzes einzuladen. Praxis ist, dass sich der Betriebsrat zwei bis drei Mal im Jahr mit einer Aufsichtsratsdelegation trifft.

Unmittelbare Unterstützung beispielsweise für die Neugestaltung von Arbeitszeiten können die Betriebsräte freilich nicht erwarten. Das ist nicht unsere Aufgabe. Allerdings bringt das neue Strukturgesetz die Betriebsräte und auch die Gewerkschaften zurück in die Debatte über strategische Unternehmensorientierung und das Verständnis von Unternehmen sowie die eigene Rolle dabei.

Ihre Beteiligung steht nicht mehr nur auf dem Papier, gefragt sind jetzt inhaltliche Beiträge und Profile. Ich habe übrigens eine Stiftung initiiert, in die ich die Vergütung für meine Aufsichtsratsarbeit einbringe - eine Plattform für Debatten, wie dieses Modell der langfristigen Unternehmensorientierung und Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen vorangetrieben werden kann. Da sind auch die Gewerkschaften einbezogen.

 

Corporate Governance in den Niederlanden

In den Niederlanden hat sich ein ebenso komplexes wie spezielles System der Unternehmensmitbestimmung herausgebildet. Es umfasst alle öffentlichen und privaten Unternehmen, die mehr als 100 Mitarbeiter beschäftigen und über ein Kapital von mindestens 16 Millionen Euro verfügen. Nach einer Gesetzesreform im Oktober 2004 - dem so genannten Strukturgesetz - besitzen die Betriebsräte in diesen Unternehmen nunmehr die Möglichkeit, Vorschläge für ein Drittel der Aufsichtsratsmitglieder einzureichen.

Die Gesellschafterversammlung, der formell die Ernennung aller Mitglieder obliegt, ist im Prinzip an diese Kandidaten gebunden. Eine Besonderheit des niederländischen Systems liegt in der Betonung der Unabhängigkeit der Mitglieder des Aufsichtsrats. Diese sind gesetzlich verpflichtet, nicht die spezifischen Belange einer bestimmten Gruppe zu vertreten, seien es die Aktionäre, eine Bank oder die Mitarbeiter. Aus diesem Grund dürfen weder Angestellte des Unternehmens noch Vertreter von Gewerkschaften, die in Kollektivvereinbarungen mit dem Unternehmen stehen, in das Gremium gewählt werden.

In der Praxis nominieren die Betriebsräte daher vor allem Personen des öffentlichen Lebens, die das Vertrauen der Belegschaft genießen. Nach der Ernennung ist die Verbindung zumindest formal beendet. Dies führt zu erheblichen Unterschieden im Informationsfluss zwischen ihnen und dem Betriebsrat, der sie einst vorgeschlagen hat. Dies mag ein Grund dafür sein, dass Betriebsräte bisher weit weniger Gebrauch von ihrem Vorschlagsrecht machen als ihnen gesetzlich möglich wäre.
Michael Stollt



Zum Weiterlesen
Mehr zum niederländischen System der Corporate Governance in Norbert Kluge, Michael Stollt (Hrsg.): Die Europäische Aktiengesellschaft (SE) - Perspektiven für eine europäische Unternehmensmitbestimmung. Erscheint Ende Mai.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen