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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Die Zukunft gehört den Akademikern'

Ausgabe 07+08/2009

INTERVIEW Pädagogik-Professorin Marion Musiol über frühkindliche Bildung, geringes Sozialprestige von Erzieherinnen und ihren Traum einer Hochschulausbildung

Das Gespräch führten KAY MEINERS und CHRISTOPH MULITZE. Foto: David Ausserhofer

Frau Musiol, auf 40 Studienplätze für frühkindliche Erziehung, die Sie an der FH Neubrandenburg anbieten, kommen jedes Jahr mehr als 400 Bewerber. Wie erklären Sie den Ansturm auf ein Fach, das bisher ein Schattendasein an den Universitäten führte?
Die Nachfrage nach unseren Absolventen ist am Arbeitsmarkt sehr hoch. Wer bei uns einen Studienplatz bekommt, hat praktisch schon einen Arbeitsvertrag in der Tasche. Hinzu kommt, dass in Neubrandenburg niemand Studiengebühren zahlen muss und wir auch kein Praktikum vorgeschaltet haben. Die Praktika werden bei uns in das Studium integriert.

Bisher wurden Erzieherinnen nicht an Hochschulen, sondern an Fachschulen ausgebildet. Frühere Generationen hatten gar nicht die Chance, zu studieren, weil es das Fach nicht gab.
Das stimmt. Nicht einmal fünf Prozent des Kita-Personals sind heute Akademiker. Ein Studium wie unseres wertet den Beruf ohne Frage auf. Es bietet andere Inhalte, mehr persönliche Perspektiven und Aufstiegsmöglichkeiten. Gerade arbeiten wir daran, dass unsere Absolventen auch das Promotionsrecht erhalten.

Nach welchen Kriterien suchen Sie die Studenten aus?
Die hohe Zahl der Bewerbungen hat uns gezwungen, sehr schnell einen Numerus clausus einzuführen. Wer bei uns studieren will, braucht einen Abi-Schnitt von 1,4 oder 1,5. Dazu kommen Losverfahren - unter anderem eine Chance für männliche Bewerber, die etwas schlechtere Abiturnoten haben.

Wie viele Männer sind unter den Bewerbern?
Etwa 20 Prozent. Darauf bin ich sehr stolz, denn in den Kitas von heute gibt es praktisch keine Männer. Das allein ist ein klares Indiz für das niedrige Sozialprestige, das der Beruf in der Vergangenheit hatte. Kinder brauchen aber auch männliche Bezugspersonen - gerade heute, wo in vielen Familien die Väter fehlen, muss da auch die Kita einspringen. Wenn Männer zu uns kommen, ist das eine ungeheure Bereicherung für beide Geschlechter.

Wie schneiden die Männer fachlich ab?
Sie bringen oft etwas schlechtere Abiturnoten mit als die Frauen. Dafür haben sie viel Erfahrung im Freizeitsektor. Sportvereine spielen für ihre Vorqualifikation eine sehr wichtige Rolle. Diese Männer wollen wirklich mit kleinen Kindern arbeiten. Leider lockt der Markt sie schnell wieder von der pädagogischen Arbeit weg. Manchmal rufen Kindergärten bei mir an und fragen ganz offen, ob noch Männer unter den Absolventen sind - weil eine Führungsposition frei ist.

Mit welchem Einstiegsgehalt darf rechnen, wer einen Ihrer raren Studienplätze bekommen hat?
Das ist ein leidiges Thema. Momentan werden unsere Absolventen genauso eingruppiert wie diejenigen von der Fachschule. Im öffentlichen Dienst ist das die Entgeltgruppe 6. Die Fachszene verlangt für die Bachelor-Abschlüsse im öffentlichen Dienst mindestens die Entgeltgruppe 9. Wir versehen diese Abschlüsse in Zukunft mit der Berufsbezeichnung "Kindheitspädagoge", um zu zeigen, wie wir uns selbst verstehen und wohin wir wollen. Es gelingt unseren Absolventen allenfalls, individuell kleine Zulagen zur Gruppe 6 auszuhandeln.

Was Sie sagen, bedeutet, dass ein Akademiker heute unter Umständen keine 1500 Euro netto verdient.
In den Ausschreibungen der freien Träger finden Sie oft das Wort "annähernd" vor der Entgeltgruppe. Das bedeutet in der Tendenz, dass es weniger gibt. Dazu kommt noch, dass in der Branche viel mit Teilzeitkräften gearbeitet wird.

Ihre Absolventen erwartet ein sicherer Job, aber ein mäßiges Gehalt?
So kann man es sagen. In allen Gremien, in denen ich sitze, werbe ich dafür, dass eine gute Ausbildung auch in der Eingruppierung belohnt werden muss. Aber so weit ist es noch nicht. Viele Studenten hoffen wenigstens mittelfristig auf eine bessere Bezahlung.
 
Wo wird besonders schlecht gezahlt?
Die kommunalen Träger sind tendenziell etwas besser aufgestellt. Wir sind aber immer auch mit freien Trägern im Gespräch, um für Verbesserungen zu werben. Aber wichtiger sind die Unterschiede zwischen Ost und West. Ich kriege ein Grummeln im Bauch, wenn ich sehe, dass manche Träger Haustarife abschließen oder Berufseinsteigern sagen: Du kannst 20 Stunden bei uns arbeiten, aber nicht mehr. Das ist moralisch fragwürdig.

Ist unter diesen Bedingungen die totale Akademisierung des Berufes wirklich das Richtige?
Man wird nicht schnell reich, wenn Sie das meinen. Aus fachlicher Sicht aber gehört die Zukunft der Hochschule. Die Erwartungen an die frühkindliche Erziehung sind so groß, dass es auf Dauer keine andere Möglichkeit gibt.

Was sagen denn die Fachschulen dazu?
Manche fürchten, dann Ausbildungsorte zweiter Klasse zu sein. Es gibt auch die Sorge, dass das Personal dann irgendwann gespalten wird. Das spüren manchmal auch unsere Studenten im Praktikum, auch wenn sie grundsätzlich wohlwollend aufgenommen werden.
 
Was ist Ihre Antwort auf solche Sorgen?
Wir müssen mit der Konkurrenz aufhören und zusammenarbeiten und das jeweils andere in den Ausbildungswegen als Bereicherung ansehen. Es geht darum, neues Wissen möglichst weit zu verbreiten. Wir werden vielleicht 15 oder 20 Jahre lang ein Mischsystem haben.

Das heißt, es gibt auch Chancen für eine längerfristige Zusammenarbeit?
Das Rostocker Kolleg, eine private Fachschule, arbeitet mit uns zusammen. Nach drei Jahren Fachschulausbildung kommen die Absolventen zu uns und schließen nach weiteren drei Semestern mit dem Bachelor ab. Wir tauschen sogar Dozenten aus. Für Kolleginnen mit Berufserfahrung bieten wir einen berufsbegleitenden Studiengang an - der Stoff reicht von Theorien frühkindlicher Bildungsprozesse bis zu Leitungs-Know-how und BWL.

Was kann die Hochschule besser als die Fachschule?
Unsere Stärke ist die Nähe zur Forschung, die sich auf die Methodik und die Inhalte auswirkt. Viele Fachschulen haben dagegen Stärken in den einzelnen Fachdisziplinen wie Kunst oder Musik. Aber pädagogisch sind einige hinter der Zeit zurück.

Wie hat sich die Kleinkindpädagogik denn in den letzten 20 Jahren verändert?
Durch die Gen- und Gehirnforschung verstehen wir heute besser, wie wichtig gerade die ersten sechs Lebensjahre für das Lernen sind und wie man das Lernen stimulieren kann. Die Reformpädagogen haben früher auch schon gut Bescheid gewusst - ihnen war klar, dass Kinder mit hervorragenden Voraussetzungen zum Lernen auf die Welt kommen.

Erklären Sie uns, was damit gemeint ist.
Man muss kleine Kinder, anders als ältere, selten motivieren - sie sind intrinsisch motiviert. Es geht vielmehr darum, die Neugier der Kinder, ihren Spiel- und Explorationstrieb zu erhalten. Jungen und Mädchen brauchen für ihre Welterkundung im freien, kreativen Spiel einen sicheren Hafen. Sie brauchen eine feste Bindungsperson. Das ist wichtiger als die materielle Ausstattung der Kita.

Was bedeutet das für die Berufsausbildung?
Es ist wichtig, den Beruf zu professionalisieren. Es hilft enorm bei der Arbeit, wenn man gelernt hat, Stimmtechniken oder das Augenspiel gezielt einzusetzen. Wichtig für die Erzieher ist auch die Dokumentation und Evaluation der eigenen Arbeit. Bei uns lernen die jungen Männer und Frauen, die zu uns kommen, außerdem Bildungsbiografien zu dokumentieren.

Können die Fachkräfte besser erziehen als die Eltern?
Darum geht es mir überhaupt nicht. Man darf die wirklich Erziehungsberechtigten nicht entmündigen, wir müssen sie unterstützen und als Erziehungspartner gewinnen. Respekt vor den Eltern ist eine ganz wichtige Voraussetzung für pädagogische Arbeit - und zwar Respekt vor jedem sozialen Hintergrund. Ob wir über eine Akademikerfamilie oder eine Hartz-IV-Familie sprechen, ist dabei ganz gleich.

Die Voraussetzungen in den Elternhäusern sind sehr unterschiedlich. Kann eine moderne Pädagogik schlechte Startbedingungen kompensieren?
Nein - wer das glaubt, überschätzt unsere Möglichkeiten. Der zentrale Bildungsort in den ersten Lebensjahren ist die Familie. Wir können versuchen, Kinder aus schwierigen Elternhäusern zu fördern, mehr nicht.

Was genau passiert in den Hartz-IV-Familien?
Da kommt vieles zusammen. Es gibt starke Mechanismen, die dazu führen, dass Eltern das reproduzieren, was sie selbst erlebt haben. Es reicht nicht, solchen Familien kostenlosen Eintritt zur Hochkultur zu gewähren. Wir brauchen niedrigschwellige Angebote. Wenn die Eltern Vertrauen zum Kita-Personal haben und mit ihm im Dialog stehen, steigt die Chance, dass sie selbst aktiver werden.
 
Ab dem nächsten Jahr stehen in Mecklenburg-Vorpommern fünf Millionen Euro jährlich mehr für die Kitas zur Verfügung. Wie würden Sie das Geld ausgeben?
Wir haben in diesem Bundesland, das übrigens neben Sachsen-Anhalt die niedrigste Geburtenrate in Deutschland hat, circa 1200 Kitas. Schnell kam der Gedanke auf, man könnte ja mit dem Geld den Betreuungsschlüssel von 1:18 auf 1:17 reduzieren.

Und was halten Sie davon?
Die reine Arithmetik bringt nichts.
 
Wie lautet denn Ihr Vorschlag?
Ich würde dieses Geld vollständig in die Weiterbildung des Kita-Personals stecken sowie in die Qualität von Ausbildung.

In der Pädagogik ist wie in der Medizin mehr möglich, als man bezahlen kann. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?
Mir sagen die Politiker, dass ich nie genug Geld für diesen Bereich bekommen kann. Das stimmt. Ich weiß, dass nicht alles auf einmal geht. Aber wenn es zu langsam vorangeht, sage ich: Aber wir wollten doch in Bildung investieren! Was wir in den ersten Jahren versäumen, kommt uns teuer zu stehen.

Sie haben Ihre ersten zehn Berufsjahre in der DDR verbracht. Gibt es etwas, das Ihnen besser gefallen hat?
Die Kita-Erzieherinnen hatten in der DDR mehr Selbstbewusstsein. Man gab ihnen das Gefühl, eine gesellschaftlich wichtige Arbeit zu tun, denn die Kitas wurden ohne jeden Abstrich dem Bildungssystem zugerechnet. Meine Idee ist es, dass meine Absolventen jetzt - unter ganz anderen Vorzeichen - wieder ein solches Selbstbewusstsein entwickeln.


ZUR PERSON

Im Büro von Marion Musiol, geb. 1953 in Halle/Saale, riecht es nach frischer Farbe - "Das sind Mittel aus dem Konjunkturpaket", sagt sie. Die Professorin lehrt an der Hochschule Neubrandenburg in Mecklenburg-Vorpommern, rund 150 Kilometer nördlich von Berlin, wo sie den Studiengang Early Education - Bildung und Erziehung im Kindesalter leitet. Musiol hat an der Humboldt-Universität Berlin Pädagogik studiert. Neben einer umfangreichen Lehr- und Forschungsaktivität kann sie auch auf praktische Erfahrungen verweisen. Zusammen mit Freunden hat sie in Dresden eine eigene Kindertagesstätte in freier Trägerschaft übernommen. Marion Musiol ist verheiratet und hat zwei Kinder.

 

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