Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: INTERVIEW 'Das ist ein strategischer Angriff'
Leo Casey, Politikwissenschaftler und Vize-Präsident der UFT zu Attacken mächtiger Wirtschaftsinteressen auf die Lehrergewerkschaft und wie sie diese zurückschlagen will.
Mit Leo Casey sprach Cornelia Girndt in der UFT-Zentrale in New York City./Foto: Cornelia Girndt
Mr. Casey, warum werben Lobbygruppen in den USA so stark für die Charter-Schulen, wo doch alle Studien zeigen: Die Schülerleistungen an diesen privat gemanagten Schulen sind nicht besser als die öffentlicher Schulen?
Auf diesem Terrain wird derzeit der Kampf ausgetragen, ob Schulen in den USA künftig gewerkschaftsfrei sind. Und ob Lehrer weiterhin Tarifverträge und Pensionsfonds haben und die Schulen in öffentlicher Regie bleiben. Eine Zeit lang schenkten wir dem keine allzu große Beachtung. Jetzt wissen wir: Das Charter-School-Movement will ein alternatives Schulsystem zu den öffentlich geführten Schulen schaffen.
Wer steckt dahinter?
Das ist ein Vorstoß, der vom rechten Flügel der Republikaner und den Wirtschaftsinteressen des "Corporate America" ausgeht. Ein großer Geldgeber ist die Wal-Mart-Stiftung, auch Hedgefondsmanager sind involviert. Die dominierenden Kräfte im Charter-School-Movement finanzieren mit Millionen von Dollars Kampagnen gegen Lehrer und deren Gewerkschaften - das hat es so in den USA noch nie gegeben. Sie sagen, die Bildungslücke resultiere aus schlechten Lehrern, und Gewerkschaften würden diese schützen. Sie schüren in der Wirtschaftskrise Ressentiments gegen Lehrer, die eine anständige Rente haben, während andere ihre Renten verloren haben.
Wie positionieren sich dazu der New Yorker Bürgermeister und der Kanzler der Erziehungsbehörde, Joel Klein?
Beide sind starke Befürworter der Charter Schools, sie haben es zugelassen, dass diese in die Gebäude der öffentlichen District-Schulen einziehen, - für einen Dollar Miete jährlich -, während andere ihre Schulklassen räumen mussten. Die Charter-Schulen werden komplett von der Regierung finanziert - anders als etwa eine katholische Privatschule. Und sie bekommen eine Menge Geld von den Stiftungen obendrauf. Der Kontrast zu den District-Schulen war so skandalös geworden, dass 2009 im Staat New York ein Gesetz verabschiedet wurde: Wer in Charter Schools investiert, muss den gleichen Betrag für die District-Schulen bereitstellen.
Hat sich dadurch die Position der United Federation of Teachers geändert?
Wir sind nicht gegen Charter Schools, sie müssen aber komplett öffentliche Schulen sein und dem Gemeinwohl dienen. Sie dürfen sich nicht nur bestimmte Schüler herauspicken, sie müssen auch diejenigen aufnehmen, die besonderer Unterstützung bedürfen und als Einwanderer Englisch lernen müssen. Und sie müssen in ihrer Geschäftstätigkeit den gleichen Transparenzpflichten unterliegen. Bisher mussten sie ihre Bücher nicht offenlegen.
Sonst noch?
Wir sagen auch: Die Eltern müssen wirklich Einfluss haben. Und Charter-Schulen müssen den Lehrern das Recht einräumen, sich zu organisieren, und deren Gewerkschaft muss das Recht haben, Kollektivverträge für die Arbeitnehmer abzuschließen.
95 Prozent der Lehrer an New Yorks öffentlichen Schulen sind UFT-Mitglieder. Charter Schools sind fast alle gewerkschaftsfrei.
Die Herausforderung für uns ist, Charter-Schulen gewerkschaftlich zu organisieren. Das ist nicht ohne Risiko, viele unserer Mitglieder sind aufgebracht. Doch wenn uns das nicht gelingt, werden wir den Weg der amerikanischen Auto- und Stahlarbeitergewerkschaften gehen. Deren Gewerkschaften wurden zerschlagen. Als in den 70er Jahren kleine, gewerkschaftsfreie Fabriken entstanden waren, hat die Automobilgewerkschaft UAW die für vernachlässigbar gehalten. Das war ein Fehler.
Was sagt das über den Zustand der US-Gewerkschaften?
In den USA gibt es machtvolle antigewerkschaftliche Kräfte. Das Arbeitsrecht ist gegen Arbeitnehmer, es ist nicht leicht, eine Gewerkschaft im Betrieb zu bilden und tarifvertragsfähig zu sein. Die Industriegewerkschaften wurden in den letzten 30 Jahren dezimiert, die private Wirtschaft ist mit 7 Prozent nur noch geringfügig organisiert. Übrig geblieben sind die Gewerkschaften im öffentlichen Sektor und deren Rückgrat - die Lehrergewerkschaften. Die American Federation of Teachers, zu der wir New Yorker gehören, hat 1,5 Millionen Mitglieder. Und die National Education Association ist mit 2,5 Millionen Mitgliedern die größte US-Gewerkschaft. Die Lehrer sind sehr dicht organisiert, fast flächendeckend. Von daher kann man das als strategischen Angriff verstehen.
Dieses dichte Netz übt auch politisch Einfluss aus?
Bei Wahlen ist die Lehrergewerkschaft eine wichtige Kraft für progressive Kandidaten und Ideen. Unsere Gegner denken: Wenn sie uns zerstören, wird das eine rechte, wirtschaftsnahe Politik befördern. Die Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor sind die Einzigen, die noch ihre Pensionen und Gesundheitsleistungen haben - was früher in den USA jeder Arbeitnehmer hatte. Wir erleben also den Versuch, ein System von sozialer Sicherung, das die Gewerkschaften garantieren, auch im öffentlichen Bildungsbereich zu demontieren.
Viele ihrer Mitglieder werden nicht begeistert sein, dass die UFT nun die Konkurrenz-Schulen organisieren will.
Es wäre keine smarte politische Strategie, zu glauben, man könnte die Charter Schools wieder abschaffen. Kein demokratischer Politiker will das, und auch Obama unterstützt sie. Was wir anpeilen, macht mehr Sinn: Wir kämpfen mit den Wal-Mart-Leuten und den Hedgefonds um den Status dieser Schulen. Denn sie sind faktisch öffentliche Schulen. Sie haben dem Gemeinwohl zu dienen. Und wenn sie dann eines Tages auch noch gewerkschaftlich organisiert sind, wird das Interesse dieser Leute erlahmen. Sie werden sich dann andere Ziele für ihre Attacken suchen.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Unser Vorteil ist: Man kann ein Auto in Peking produzieren, aber man kann keinen amerikanischen Schüler in Shanghai ausbilden. Außerdem haben unsere Gegner wenig Ahnung von dem, was Lehrer tun. Wir aber haben eine Vision von Bildung und langjährige pädagogische Praxis.
Die UFT erhält ihre Mitglieder und Mitgliedsbeiträge automatisch. Kann so eine Gewerkschaft überhaupt organisieren?
Wenn wir uns damit zufriedengeben würden, dass Geld hereinkommt, wären wir in einem ziemlich schlechten Zustand. Wir müssen immer unsere Mitglieder zu politischen Aktionen aktivieren. Und wir organisieren erfolgreich neue Berufsgruppen: Vor einem Jahr ist es uns in New York City gelungen, für 30 000 Tagesmütter den ersten Tarifvertrag abzuschließen. Sie sind nun Mitglieder der UFT.
Warum sollten die Arbeitgeberorganisationen der Charter-Schulen auf einmal das 190-seitige Tarifvertragswerk der UFT mögen?
Im öffentlichen Dienst ist das Verhältnis zu den Arbeitgebern nicht so konfliktgeladen. Wer hier eine Mehrheit der Arbeitnehmer organisiert hat, wird automatisch anerkannt. Wir müssen heute ein modernes Tarifvertragssystem aufbauen mit weit mehr Differenzierungen für unterschiedliche Schultypen. Das beinhaltet auch Chancen: In unserer Gründungsphase in den 60er Jahren hatte man die Schulen gewerkschaftlich nach dem Fabrikmodell organisiert. Das funktioniert heute nicht mehr.
Was heißt das konkret?
Wir haben schon einen Tarifvertrag gemacht mit einer Handvoll sogenannter "Green Charter Schools" in New York. Dort regeln wir Überstunden anders. Während unser traditioneller Tarifvertrag dafür eine Menge an Vorschriften und Regeln definiert, sagen wir in unserem neuen "Green Contract" einfach: Zehn Prozent des Schulbudgets sind reserviert für die Überstundenbezahlung der Lehrer und andere Extra-Aufgaben. Wie nun das Geld verteilt wird, darüber entscheidet demokratisch ein gewähltes Lehrergremium.
Das wäre eine Art Personalrat mit Mitbestimmungsrechten.
Vorausgesetzt, dass die Lehrer mitbestimmen und wichtige Fragen entscheiden können, brauchen wir all die Überstunden-Vorschriften nicht mehr, die Leute können das selbst regeln.
Warum sind die Lehrergewerkschafter in New York so enttäuscht über die Obama-Regierung?
Viele fühlen sich betrogen. Sie haben Flyer verteilt und Unterstützer-Anrufe gemacht, damit er gewählt wird. Viele von uns dachten, dass Obama ein New-Deal-Präsident werden würde wie Franklin D. Roosevelt, dass er in dieser ökonomischen Krise die Gewerkschaften stärken würde, dass er den öffentlichen Sektor und das Gemeinwohl eher ausbauen würde. Es zeigt sich aber, dass er so ein Dritte-Weg-Politiker ist und starke Kompromisse mit der Wirtschaft eingeht.
Kritisiert wird auch die Marktideologie dieser Regierung, die Lehrergehälter von Schülerleistungen abhängig machen will.
Ein Wendepunkt in unserem Verhältnis zu Obama war ein Ereignis an der Highschool in Bedford, Rhode Island. Weil die Schule keine gute Leistung zeigte, hat die Schulverwaltung alle Lehrer rausgeworfen. Die Tatsache, dass viele Schüler obdachlos sind und Immigranten, spielte keine Rolle. Anstatt die harte Arbeit anzugehen, diese Jugendlichen voranzubringen, haben sie das gesamte Lehrerkollegium gefeuert. Und unser Bildungsminister und auch Präsident Obama erklärten, das sei die richtige Maßnahme.