Quelle: ullstein bild/Archiv Mehrl
Magazin MitbestimmungTeamarbeit: Innovationen aus dem 30. Stock
Kaum einer weiß, dass die Deutsche Bahn einen eigenen IT-Dienstleister hat. DB Systel setzt auf eine agile Arbeitsorganisation. Der Sprung in die Zukunft wird vom Gesamtbetriebsrat mitgestaltet. Von Joachim F. Tornau
Die Zukunft der Bahn beginnt hoch über der Erde. Im 30. Stock des Silberturms im Frankfurter Bahnhofsviertel, einst die Zentrale der Dresdner Bank, werden Ideen ausgeklügelt, die mit der Gegenwart der chronischen Verspätungen, Signalstörungen und geschlossenen Bordrestaurants nur schwer in Deckung zu bringen sind. Man sieht, wie die Eisenbahnerausbildung mit Virtual Reality revolutioniert wird. Ein sprechender Roboterkopf erteilt freundlich Fahrplanauskünfte. An einer Modelleisenbahn wird demonstriert, wie Züge sich ihren Fahrweg mittels Blockchain-Technik selbst stellen und Signale und Stellwerke überflüssig gemacht werden können. „Skydeck“ heißt dieses Innovationslabor, zu Hause ist es bei DB Systel, dem IT-Dienstleister der Deutschen Bahn.
Doch die Bahn-Tochter beschränkt sich nicht darauf, mit der flippigen Experimentieretage ein wenig Start-up-Kultur ins Staatsunternehmen zu holen. DB Systel ist dabei, die Arbeitsorganisation vollständig umzubauen – weg von Hierarchien, Abteilungen, Zuständigkeiten, hin zur selbstorganisierten und eigenverantwortlichen Arbeit im Team. Oder kurz: zu dem, was seit einigen Jahren unter dem Schlagwort „agiles Arbeiten“ diskutiert wird. Für ein Unternehmen dieser Größenordnung – derzeit zählt DB Systel rund 4800 Beschäftigte – dürfte das in Deutschland beispiellos sein. Ebenso ohne Beispiel ist, wie der Gesamtbetriebsrat (GBR) den Transformationsprozess nicht nur begleitet, sondern mitgestaltet.
Eine ganz neue Firmenkultur entsteht
Um das Engagement zu erklären, das der Arbeitnehmervertretung den Sonderpreis „Veränderung gestalten“ beim Wettbewerb um den Deutschen Betriebsräte-Preis 2019 eingebracht hat, bemüht Klaus-Theo Sonnen-Aures, Mitglied der Eisenbahngewerkschaft EVG und GBR-Vorsitzender bei DB Systel, einen Vergleich aus der Welt des Fußballs. Klassische Betriebsratsarbeit, sagt er, folge der Trainerphilosophie von Otto Rehhagel: Hinten alles dichtmachen, und vorne hilft der liebe Gott. „Aber in modernen Kontexten muss man spielen lassen wie Jürgen Klopp: Jeder hilft jedem, ein Verteidiger kann auch stürmen, der Teamgedanke steht im Vordergrund.“ Übersetzt heißt das: Traditionell dient das Betriebsverfassungsgesetz – aus guten Gründen – vor allem als Abwehrwaffe gegen Zumutungen und Verschlechterungen. Heute jedoch muss es verstärkt zur konstruktiven Gestaltung von Arbeitsbeziehungen genutzt werden. „Es geht dabei nicht um eine Verabschiedung aus der Mitbestimmung“, betont der 65-Jährige, „sondern um ihre Weiterentwicklung und Neuinterpretation für die neue, selbstorganisierte Arbeitswelt.“
Die Umwälzung der Arbeitsorganisation bei DB Systel nahm ihren Anfang, als 2014 bei einem großen Führungskräftetreffen des Bahnkonzerns die Digitalisierung als Zukunftsstrategie ausgerufen wurde – und die eigentlich für derlei Fragen prädestinierte IT-Tochter noch nicht einmal vorkam. „Das war für uns eine kollektive Krisenerfahrung“, erinnert sich Sonnen-Aures. Vertreter des Managements zogen sich daraufhin für eine Woche in Klausur zurück, auch Betriebsräte waren dabei. Das Ergebnis: Alles muss anders werden. Aber das Wie und das Wohin sollte nicht diktiert, sondern mit den Beschäftigten diskutiert werden.
Dem Aufruf zur Beteiligung folgten mit 600 Kollegen weit mehr, als erwartet. Besonders viele schlossen sich einer Arbeitsgruppe mit dem Namen „Mitarbeiter, Führung und Unternehmenskultur“ an. Offensichtlich waren sie der Meinung, dass es hier am meisten hakte. Was folgte, nennt der GBR-Vorsitzende „die Phase der Graswurzelrevolution“: Unter den Parolen „Wir stürzen die Pyramide“ und „Wir wollen auf Augenhöhe zusammenarbeiten“ begann der Übergang zu einer hierarchiearmen, flexiblen und agilen Arbeitsorganisation – zunächst noch ohne einen Masterplan, wie das im Detail aussehen sollte. „Es war ein Weg in eine Nebelwand hinein“, sagt Sonnen-Aures. „Wir wussten nicht, wo wir ankommen, sind aber schon mal losgegangen.“
Gleichzeitig war der Arbeitnehmervertretung klar: Handlungs- und Rechtssicherheit für alle Beteiligten muss es trotzdem geben. Doch wie lässt sich das schaffen, wenn noch gar nicht feststeht, was alles geregelt werden muss? Die Lösung, auf die sich der Gesamtbetriebsrat mit der Geschäftsführung verständigte, ist eine Rahmengesamtbetriebsvereinbarung zum Transformationsprozess, die sich als „selbstlernend“ versteht: Sobald eine Seite neuen Regelungsbedarf anmeldet, muss über eine Aktualisierung des kurz „RGBV Trafo“ getauften Paragrafenwerks verhandelt werden. Was seit Unterzeichnung der Ursprungsfassung im April 2017 schon dreimal geschah. Derzeit ist Version 3.0 in Kraft, die Verhandlungen über Version 3.1 laufen.
Topwerte bei der Mitarbeiterzufriedenheit
Grundlage ist die Einigung, nicht nur den gesamten Prozess, sondern auch jeden Teilschritt als Betriebsänderung gemäß Paragraf 111 des Betriebsverfassungsgesetzes zu begreifen, was bestimmte Mitbestimmungsrechte auslöst. Das mag juristisch so eindeutig nicht sein, doch mit „Diskussionen über definitorische Grenzen“ eines Paragrafen, erklärt Klaus Rüffler, Geschäftsführer Personal bei DB Systel, habe man das Engagement und die „unglaubliche Dynamik“ in der Belegschaft nicht aufhalten wollen. „Die Transformation kann nur gelingen, wenn alle Mitarbeiter unsere gemeinsamen Werte und Ziele kennen und teilen.“ Und diese Werte und Ziele glaubhaft zu vermitteln, funktioniere nur gemeinsam mit der Arbeitnehmervertretung. Die RGBV Trafo ist die Verfassung der neuen Arbeitsorganisation: Jeweils rund sieben Beschäftigte finden sich zu einem Team zusammen, wählen aus ihren Reihen einen „Agility Master“ und bekommen von der Geschäftsführung einen „Product Owner“ zugeordnet. Ehemalige Führungskräfteaufgaben werden im Sinne einer „Gewaltenteilung“ gleichmäßig verteilt. Stark vereinfacht bedeutet das: Der Product Owner bestimmt, was gearbeitet wird. Das Team bestimmt, wie gearbeitet wird. Der Agility Master sichert die Rahmenbedingungen. Aus Delegierten der Teams bilden sich Einheiten, aus Delegierten der Einheiten bilden sich Cluster.
„Klassisches Rätedemokratieprinzip“, sagt GBR-Vorsitzender Sonnen-Aures. „Handlungseinschränkungen von oben wollten wir so weit als möglich von den Mitarbeitern fernhalten.“ Schließlich könnten die oft selbst die besseren Entscheidungen treffen.
Mehr als 400 Teams haben sich inzwischen auf den Weg gemacht, rund 30 sind bereits ganz in der neuen Arbeitsorganisation angekommen. Denn auch das regelt die RGBV Trafo: Teams werden nicht Knall auf Fall agil, sondern schrittweise von der alten in die neue Arbeitswelt geführt. Dass sie zum nächsten Schritt bereit sind, müssen sie bei Anhörungen beweisen, an denen immer auch Vertreter des Gesamtbetriebsrats teilnehmen. Niemand soll überfordert, niemand zum Übergang gezwungen werden. Und nicht zuletzt: Personalabbau, Stellenstreichungen und Gehaltseinbußen durch die Transformation sind ausdrücklich ausgeschlossen. Das steht in der Vereinbarung sogar fett gedruckt.
„Die Arbeitnehmervertretung hat bei der Transformation der DB Systel eine Schlüsselrolle“, sagt Personalgeschäftsführer Rüffler – und lobt die Bereitschaft der Betriebsräte, gemeinsam „kreative Lösungen“ zu finden und „gelernte Verhaltensmuster“ zu überwinden, in die, wie er zugibt, auch die Arbeitgeberseite gelegentlich noch zurückfalle.
GBR-Chef Sonnen-Aures lobt, andersherum, die Fähigkeit der Geschäftsführung, Fehler einzuräumen: „Das ist die Voraussetzung für einen solchen Prozess.“ Das größte Lob aber kommt von den Beschäftigten: Bei der jüngsten Befragung zur Mitarbeiterzufriedenheit im DB-Konzern erreichte DB Systel 4,2 von 5 Punkten. Vor dem großen Umbau waren es lediglich 3,6.