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Magazin Mitbestimmung

: Hauptsache Arbeit

Ausgabe 05/2007

ARBEITSWELT Hinter dem Fabriktor und der Bürotür, das wissen die Beschäftigten, ticken die Uhren etwas anders. Doch wie verändert sich die Arbeitswelt? Eine Literaturstudie über aktuelle arbeitspolitische Forschungsergebnisse



Von MATTHIAS HELMER. Der Autor ist Sozialwissenschaftler und freier Journalist in Göttingen.


Arbeitspolitik ist in der Defensive. Diese Erfahrung müssen nicht nur Gewerkschaften und Betriebsräte machen, die sich um eine Arbeitsgestaltung im Sinne der Beschäftigten - früher einmal "Humanisierung der Arbeit" genannt - bemühen. Zumal in Zeiten, wo in Unternehmen mit dem Argument des Marktdrucks arbeitswissenschaftliche Standards zunehmend außer Kraft gesetzt werden. Auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung um die Entwicklung der Arbeitswelt und ihre politische Gestaltbarkeit ist von einer Krisenstimmung, zumindest aber einer Verunsicherung geprägt. Vorbei sind die Zeiten großer Erklärungsansätze.

Nach dem verkündeten Ende von Fordismus und Taylorismus wurde schon vor über 20 Jahren von Jürgen Habermas eine "neue Unübersichtlichkeit" künftiger Entwicklung konstatiert. Auch heute weiß in der Sozialforschung niemand, welches Produktions- und Gesellschaftsmodell sich "in the long run" durchsetzen wird. Folgt man der Zeitdiagnose von Dieter Sauer, Sozialforscher am ISF München, dann befinden wir uns gegenwärtig in einer "nachfordistischen Übergangsphase". Auch in den "Spandauer Thesen", die in einem Dialog zwischen Wissenschaftlern und Gewerkschaftern um den Berliner DGB-Vorsitzenden Dieter Scholz entwickelt wurden, ist von einem Epochenbruch die Rede, der noch nicht abgeschlossen sei. Die Vorstellung eines neuen gesellschaftlichen Produktionsmodells, das sich irgendwann durchsetzen wird, ist also nach wie vor prägend.

Weitgehender Konsens besteht unter den Forschern über die Differenziertheit der Arbeitswelt und ihrer unterschiedlichen Entwicklungslinien - eine Vielfalt, der auch die Forschung Rechnung tragen müsse. So beschränkt sich der Blick der Arbeitsforscher heute nicht mehr auf den klassischen Industriebetrieb. Auch andere Wirtschaftsbereiche wie Dienstleistungstätigkeiten oder - in letzter Zeit verstärkt - die so genannte Wissensarbeit rücken in den Fokus der Betrachtung.

Und ebenso Beschäftigtengruppen, die nicht unter das so genannte Normalarbeitsverhältnis fallen. Zudem erweiterte sich die Perspektive auf den Gesamtprozess und die Rahmenbedingungen von Produktion, gerade auch vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Globalisierung. Aufgabe der Arbeitsforschung sei heute, die Spannbreite innerhalb der Arbeitswelt näher "zu beschreiben und zu typisieren" und "übergreifende Basistrends zu entdecken", bemerkt Steffen Lehndorff vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ), vormals IAT, in Gelsenkirchen. Manfred Moldaschl von der TU Chemnitz und andere hatten bereits vor ein paar Jahren die Suche nach einer "zukunftsfähigen Arbeitsforschung" angemahnt.

Zu diesem Zweck wurde unter anderem im Jahr 2000 eine Förderinitiative des Bundesbildungs- und Forschungsministeriums, unter Projektträgerschaft des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), gestartet, die unter anderem darauf zielte, einen "Selbstinnovationsprozess anzuregen", um "für die zukünftigen Fragestellungen der Arbeitswelt gerüstet zu sein". 17 Forschungsprojekte wurden in diesem Rahmen bis 2005 durchgeführt.

VERMARKTLICHUNG UND INDIVIDUALISIERUNG_ Die arbeits- und industriesoziologische Debatte der letzten Jahre war in Deutschland vor allem durch folgende drei Schlagworte bestimmt: Entgrenzung, Subjektivierung und Vermarktlichung. Hintergrund ist die Beobachtung einer veränderten Rationalisierungsstrategie und damit auch eines erweiterten Zugriffs auf die Ressource menschlicher Arbeitskraft.

Denn die weitgehende Ausklammerung der subjektiven Potenziale sowie die rigide Arbeitsteilung und Kontrolle, zentrale Kennzeichen tayloristischer Produktionsorganisation, sind längst - so die These - an ihre Grenzen gestoßen, insbesondere in Bezug auf ihre ökonomische Effizienz und die zunehmend flexibleren Marktanforderungen. Zugleich verlangt die verstärkte Orientierung am globalisierten Wettbewerb sowie am kurzfristigen Shareholder-Value aus Sicht der Unternehmen neue Formen der Steuerung von Arbeit und Produktion. Damit entsteht ein neuartiges Wechselspiel von Dezentralisierung und Re-Zentralisierung von Verantwortung und Kompetenzen. Marktrisiken werden unmittelbar auf die Beschäftigten abgewälzt - mit überaus problematischen Folgen.

Auch in den neuesten arbeitspolitischen Studien wird die Kontroverse um Entgrenzung, Subjektivierung und Vermarktlichung fortgeführt. Beobachtet wird eine "radikale Vermarktlichung auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Produktion" und, daneben, eine wachsende "Bedeutung lebendiger Arbeit". Nach Klaus Peters und Dieter Sauer vom ISF München geht es daher zum einen darum, die durch neue Formen der indirekten Steuerung angeregte "Bereitschaft zur Selbstunterwerfung" bei den Beschäftigten aufzubrechen.

Zum anderen seien Ansätze einer "eigensinnigen Arbeitspolitik" zu entwickeln, welche die "eigenständigen Interessen der Lohnabhängigen" gegen die Anpassungszwänge der Vermarktlichung in Stellung bringen. Da sich aus Sicht von Sauer die Widersprüche zwischen Vermarktlichung und Individualisierung eher noch verschärfen, verkleinern sich seines Erachtens auch die Chancen einer "innovativen Arbeitspolitik", wie sie insbesondere von Forschern des SOFI in Göttingen in die Debatte eingebracht wird. 

Für die Wissenschaftlergruppe um Michael Schumann stellen die von ihnen beschriebenen Konzepte, die eine Aufwertung von Produktionstätigkeiten beinhalten, einen erfolgreichen Gegenentwurf zu beobachtbaren Tendenzen einer Re-Taylorisierung von Industriearbeit dar - Konzepte, von denen letztlich sowohl das Unternehmen wie auch seine Beschäftigten profitieren. Den Beleg dafür sehen sie unter anderem in dem Modellprojekt Auto 5000 bei Volkswagen. Schumann verteidigt diesen Ansatz als eine "Politik der kleinen Schritte", hin zu besseren Arbeitsbedingungen.

Dagegen stehen die kritischen Befunde von Erich Latniak vom IAQ und anderen, die die Reichweite von Organisationsveränderungen, beispielsweise von Gruppenarbeit, untersucht haben: In den meisten Unternehmen, so stellen sie fest, kommen eher restriktive Mischformen - deutsche Varianten der Lean Production mit starker Prozess- und Qualitätsorientierung - zum Einsatz, die den Beschäftigten kaum größere Teilhabechancen einräumen und nur vereinzelt zu einer geringeren Arbeitsbelastung führen. Einen nachhaltigen Umgang mit der Ressource Arbeitskraft fanden sie in der Praxis dagegen nur selten.

STAMMPERSONAL UND PREKARIAT_ Konsens in der Forschung ist mittlerweile ein Verständnis von Arbeitspolitik, wie es bereits vor über 20 Jahren von Frieder Naschold, Ulrich Jürgens und anderen Forschern am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) entwickelt wurde. "Der Betrieb ist nicht zu verstehen, wenn man nur den Betrieb betrachtet", bringt es Steffen Lehndorff, daran anknüpfend, auf den Punkt. Einen Überblick über den spezifischen arbeitspolitischen Ansatz des WZB und dessen programmatische Weiterentwicklung im Zeitverlauf bietet der Sammelband "Arbeitspolitik im Wandel": Befruchtend für die Arbeitsforschung wirkte insbesondere der Blick des WZB auf die internationale Ebene und die Frage nach den Besonderheiten einzelner nationaler Produktionsmodelle. Aber auch die Untersuchung unterschiedlicher Systeme der Unternehmensführung und -kontrolle, also der Corporate Governance, brachte eine neue Facette in die Debatte. Und nicht zu vergessen die Ansätze einer ökologisch erweiterten Arbeitspolitik.

Klaus Dörre (Uni Jena) und andere haben das Augenmerk auf das Problem der zunehmenden Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen geworfen und, daraus resultierend, auch auf die unterschiedlichen Interessenlagen innerhalb der Beschäftigten. Besonders brisant seien dabei die disziplinierenden Rückwirkungen auf das Stammpersonal, so die Forscher - egal ob es sich um Leiharbeiter in der Automobilfabrik oder um Freelancer im IT-Bereich handelt. Da die Prekarisierungstendenzen aber ein vermutlich längerfristiges Phänomen seien, empfehlen die Autoren anstelle einer reinen Verhinderungsstrategie eine "Anerkennung von Differenz" und eine Regelung prekärer Arbeitsverhältnisse, wie sie von der IG Metall mit der aktuellen Kampagne zum Thema Leiharbeit auch versucht wird.

In der neueren Literatur werden aber auch die Defizite bisheriger Arbeitsforschung beklagt: Einige - wie etwa Kerstin Jürgens von der Uni Hannover - plädieren für eine Erweiterung des wissenschaftlichen Fokus über den Bereich der Erwerbsarbeit hinaus. Gerd Peter (Sozialforschungsstelle Dortmund) und Frieder O. Wolf fordern in diesem Zusammenhang, dass das Thema Subjektivierung von Arbeit nicht nur auf den Produktions-, sondern auch den Reproduktionsbereich - also auf den Gesamtkontext von Arbeit - bezogen werden müsse. Insbesondere Ingrid Kurz-Scherf, Uni Marburg, und andere bemängeln die geschlechterpolitische Lücke in der Mehrzahl der Forschungsarbeiten - begründet unter anderem in der lange Zeit vorherrschenden Fokussierung auf industrielle Produktion. So sind die Kategorien Entgrenzung und Subjektivierung nach Auffassung der Autorinnen geschlechtsblind, weil sie die lange Tradition des Zugriffs auf das weibliche Arbeitsvermögen nur unzureichend berücksichtigen.

ANSÄTZE FÜR GEWERKSCHAFTLICHE KAMPAGNEN_ Angesichts der vergrößerten Vielfalt innerhalb der Arbeitswelt ergeben sich neue inhaltliche und  organisationspolitische Herausforderungen für die Gewerkschaften. Wie gut die Chancen sind, hier neues Terrain zu erobern, etwa im Bereich hochqualifizierter Wissensarbeit oder bei prekär Beschäftigten, darüber sind die Meinungen in der Forscherszene geteilt. Zumindest geben zahlreiche wissenschaftliche Befunde Aufschluss über die Zwiespältigkeit und die Schattenseiten der neuen Unternehmensstrategien, auch bei den vermeintlichen Rationalisierungsgewinnern.

Hier setzen gewerkschaftliche Kampagnen wie "Gute Arbeit" oder "Arbeiten ohne Ende" an: Indem sie versuchen, die Wechselwirkungen zwischen Arbeits- und Lebenswelt stärker miteinander zu verschränken, und damit das Ganze der Arbeit im Blick haben, überwinden sie zudem ein Stück weit die benannten Defizite der bisherigen Konzepte von Arbeitspolitik.

Die schwierige Situation der Arbeitsforschung ist zu großen Teilen in den seit den 1970er Jahren kontinuierlich sinkenden staatlichen Förderbudgets begründet. Als Grundvoraussetzung für eine Wiederbelebung von Arbeitspolitik in der Praxis sieht die Mehrzahl der Forscher jedoch das Aufbrechen der Formel "Hauptsache Arbeit", auf die sich - angesichts anhaltender Massenarbeitslosigkeit - seit geraumer Zeit die Diskussion in Politik und Öffentlichkeit konzentriert. Und bei der die Frage nach der Qualität von Arbeit kaum noch eine Rolle spielt. Eine Re-Thematisierung von Arbeit in Bezug auf ihre Inhalte und Folgen steht von daher auf der gesellschaftlichen Agenda.




MEHR INFORMATIONEN
Richard Detje/Klaus Pickshaus/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.): ARBEITSPOLITIK KONTROVERS. Hamburg 2005 

Wolfgang Dunkel/Dieter Sauer (Hrsg.): VON DER ALLGEGENWART DER VERSCHWINDENDEN ARBEIT. Berlin 2006 

Eckart Hildebrandt u. a. (Hrsg.): ARBEITSPOLITIK IM WANDEL. Berlin 2007  Steffen Lehndorff (Hrsg.): DAS POLITISCHE IN DER ARBEITSPOLITIK. Berlin 2006 

Dieter Scholz u.a. (Hrsg.): TURNAROUND? STRATEGIEN FÜR EINE NEUE POLITIK DER ARBEIT. Münster 2006 

Michael Schumann/Martin Kuhlmann/Frauke Sanders/Hans Joachim Sperling (Hrsg.): AUTO 5000: EIN NEUES PRODUKTIONSKONZEPT. Hamburg 2006 

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