Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Gute Führung - Annäherung an ein schwieriges Begriffspaar
Die Beziehung zum Chef ist eine Einflussgröße, die nachweislich mit dem Unternehmensergnis korreliert. Ist sie positiv, bedeutet sie Wertschöpfung durch Wertschätzung. Und wenn sie negativ ist?
Von Reinhard K. Sprenger
Dr. Sprenger ist Berater und Trainer für Personalentwicklung, Autor mehrerer Bestseller und seit kurzem auch Songwriter.
reinhard@sprenger.com
Was eine gute Führungskraft ist, das weiß eigentlich niemand. Es gibt keinen "Führungsstil", den man wie eine Videokassette einschieben und abspulen kann. Es gibt auch keine "Führungspersönlichkeit", die eine Leistungsexplosion nach der anderen erzeugt. Wenn wir uns erfolgreiche Führungskräfte aus Vergangenheit und Gegenwart vor Augen führen und fragen: "Was macht sie erfolgreich?", dann bleibt bei aller Unterschiedlichkeit nur ein Kriterium übrig: Es gibt Menschen, die ihnen folgen. Freiwillig folgen. Es gibt Menschen, die "Ja" zu ihnen sagen. Es gibt Menschen, die sich von ihrer Führung eine Verbesserung ihrer Lebensqualität versprechen und die sie deshalb als Führungskräfte anerkennen. Auch wenn es fast archaisch anmutet: Führende haben Folgende.
Das ist die Basis, ein natürliches Gesetz. Man kann es durch das Begriffspaar "Vorgesetzter - Führungskraft" verdeutlichen. Ein Vorgesetzter ist zunächst nichts weiter als das Resultat der Organisationsstruktur, wobei der hierarchisch-technische Aspekt betont wird. Seine Autorität ist eine Positions-Autorität. Diese wiederum ist an ein Amt gebunden, das er "von oben" erhält. Dadurch wird er legalisiert. Eine Führungskraft hingegen kann, aber muss nicht Resultat der Organisationsstruktur sein. Eine Führungskraft führt vor allem Menschen. Ihre Führungsleistung trägt etwas bei, was für die Empfänger von Führung vorteilhaft ist. Oder das fehlen würde, wäre sie nicht mehr. Im Gegenzug wird sie legitimiert. Ist es Zufall, dass der Vorgesetzte männlich ist, die Führungskraft aber weiblich?
Damit kommt der Mitarbeiter als Bestimmungsfaktor für erfolgreiches Führungshandeln ins Bild. Gerade in unruhigen Zeiten gilt mehr denn je: Nicht das Top-Management, nicht Führungsseminare, nicht MBA-Zertifikate - es sind die Mitarbeiter, die Führungskräften Kompetenz verleihen. Von deren "Wahl" sind Führungskräfte abhängig, wollen sie mehr sein als nur Vorgesetzte. Ein Beispiel: Der historische Jesus von Nazareth, auch ohne seine religionsstiftende Bedeutung zweifellos eine Führungskraft, überprüfte fortwährend die Bindung zwischen sich und seinen Apostel-Mitarbeitern. Er nahm ihre Zweifel ernst. Er vergewisserte sich immer wieder ihrer Zustimmung, ihrer Gefolgschaft, heute würden wir sagen ihres "Commitments". Mehrfach ist überliefert, dass er sie fragte: "Seid ihr bei mir?"
Nimmt man den natürlichen Fluss der Energien ernst (argumentiert man also nicht hierarchisch-machtgestützt), dann heißen die zentralen Führungsfragen: "Was kann ich tun, um dich, Mitarbeiter, zu unterstützen? Wie kann ich deinen Erfolg fördern?" Führung hat dann keinen unmittelbaren Erfolg, sondern einen mittelbaren. Sie hat keine selbstoptimierende Funktion, sondern eine fremdoptimierende. Führung liegt gleichsam "unter" der Mitarbeiterleistung. Sie ermöglicht und fördert die Leistung anderer.
Nur derjenige, dem die Menschen freiwillig folgen, hat als Führungskraft eine Existenzberechtigung. Wer glaubt, führen zu können, ohne dass ihm Menschen folgen, geht nur spazieren.
Welche Konsequenzen hat diese Zustimmungserfordernis für den Unternehmenserfolg? Es gibt viele Studien, die betriebsinterne Parameter mit dem Unternehmensergebnis zu korrelieren versuchen. Aber nur eine Einflussgröße korreliert nachweisbar signifikant: die positive oder negative Beziehung zum unmittelbaren Chef. Ist die Beziehung von wechselseitigem Respekt und Wertschätzung geprägt, steigt die Produktivität; ist sie schlecht, sinkt sie. So kann man es zuspitzen: Wertschöpfung durch Wertschätzung.
Es ist praktisch, diese Wertschätzung von der Negativseite aus zu betrachten. Das Schlimmste, was man einer Beziehung antun kann, ist nämlich der Dauerappell: "Sei anders!" Es gibt eine heimliche Neigung vieler Manager zum Menschen-Machen. Das Motto dazu: "Sei du so, wie ich dich gerne hätte" oder "Du musst dich ändern, damit es mir besser geht." Das tut der andere aber nicht. Menschen sind keine trivialen Maschinen, die sich auf Knopfdruck bewegen. Menschen ändern sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam und wenig. Sie sind zwar durch externe Einflüsse beeinflussbar, aber nicht steuerbar. Der Mensch verändert sich nur, wenn er selbst es will. Entwicklung ist nicht ausgeschlossen. Aber es muss ein eigener Weg sein, nicht ein fremdbestimmter, ein selbstgewählter, nicht ein oktroyierter.
Alle Konflikte sind deshalb Eigenwert-Konflikte. Sie lassen sich als Kämpfe um Anerkennung beschreiben. Wenn der Mitarbeiter spürt, dass sein Eigenwert nicht respektiert wird, geht er automatisch in den Widerstand. Zunächst widersetzt er sich, kämpft, dann passt er sich an, will wenigstens nicht mehr negativ auffallen, schließlich wandert er ab in die freizeitorientierte Schonhaltung. Für den Mitarbeiter beginnt dann das Leben nach 17 Uhr: Wenn er dahin geht, wo man ihn so wertschätzt, wie er ist.
Wir können immer nur das einsetzen, was Menschen in die Unternehmen mitbringen. Versuchen wir also nicht abzutragen, wozu die Natur Jahrzehnte gebraucht hat, es aufzubauen. Bauen wir auf das, was jemand ist; versuchen wir nicht zu verbessern, was jemand nicht ist. Beziehungen funktionieren zwischen Menschen so, wie sie sind, nicht wie sie sein sollen. Anspruch ist Ablehnung. Wenn das doch je begriffen würde!
Innerhalb einer als positiv erlebten Beziehung findet sich als wichtigstes Merkmal ein im Einzelnen unentwirrbares Gemisch aus Glaubwürdigkeit, Berechenbarkeit, Freundlichkeit, kurz etwas, für das sich der Begriff "Vertrauen" summarisch anbietet. Oft ist daher gesagt worden: Vertrauen ist die Basis von Führung. Sich führen lassen heißt, sich jemandem anvertrauen. Fehlt es daran, ist alles wie verhext. Dann bekommt die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter gleichsam ein Minus vor die Klammer. Alles verkehrt sich ins Gegenteil. Auch die hochherzigste Geste steht dann im Verdacht, Schlimmes im Schilde zu führen. Alle Initiativen und Bemühungen, die Beziehung zwischen Management und Mitarbeitern positiv zu gestalten, werden dann als besonders raffinierte Form der Manipulation aufgefasst.
Was aber ist Vertrauen? Vertrauen ist eine Erwartung. Wer vertraut, geht davon aus, dass sein Gegenüber kompetent, integer und wohlwollend ist. Vertrauen ist also eine Art Beruhigungspille in unsicheren Situationen. Und diese einzunehmen ist heute keine Belohnung mehr für wiederholt gute Erfahrung, sondern eine individuelle Leistung. Eine Entscheidung, die berechnet, die klug kalkuliert und nüchtern um die Möglichkeit des Risikos weiß. Die sagt: "Ich bin bereit, zu vertrauen, ich will vertrauen, weil andere Steuerungsmöglichkeiten schlicht nicht funktionieren."
Nicht funktionieren heißt: zu teuer sind, das Unternehmen langsam machen, Motivation zerstören. Denn die hierarchischen Kontroll- und Überwachungsinstrumente greifen immer weniger, die Handlungsspielräume der Mitarbeiter erweitern sich zusehends, ihre Aufgaben werden immer komplexer, unschärfer, die räumliche Dezentralisierung verunmöglicht kostenangemessene Kontrollaktivitäten. Das Problem verschärft sich, wenn hochausgebildete Kopfarbeiter zu führen sind. Das sind Menschen, die ihren Job weitgehend selbst organisieren müssen, ja sogar oft nur selbst organisieren können. Weil der Chef über ihre Arbeitsgebiete allenfalls eine grobe Übersicht hat, keineswegs aber über das Expertenwissen verfügt, um im Detail ihre Arbeit beurteilen zu können. Mehr noch: Ihre Produktivität hat man nicht "im Griff", sie lässt sich nicht messen, entzieht sich der Quantifizierung. Was tut ein Geistesarbeiter, wenn er arbeitet? Er sitzt herum! An Stelle formalisierter Koordinierungsinstrumente und Fluchtverhinderungssysteme wird also Vertrauen Stabilität und Koordination sichern müssen, wollen die Mitarbeiter nicht an Sauerstoffmangel leiden.
Welche Führungskräfte sind aber zu einer solchen vertrauensbasierten Kooperation in der Lage? Nur jene, die sich selbst vertrauen. Die ein entspannt-positives Selbstbild haben. Die Macht, Kontrolle und Mitarbeiterzahlen nicht als Ego-Prothesen brauchen. Die wissen, dass sie auch mit Enttäuschungen fertig werden. Nur jene Führungskräfte, die lächeln können, die freundlich mit sich und anderen umgehen, die sich zwar ernst, aber nicht wichtig nehmen, nur die können sagen: "Ich vertraue, und manchmal werde ich enttäuscht, und das nehme ich in Kauf."