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Magazin Mitbestimmung

Umgehungsstrategien: Einzelhandel schert aus

Ausgabe 04/2016

Nirgends sonst werden so viele Arbeitnehmer um ihre Mitbestimmungsrechte im Aufsichtsrat gebracht wie im Einzelhandel. Warum gerade in dieser Branche? Von Joachim F. Tornau

Wer sich beim Einkauf von Shampoo oder Toilettenpapier nicht nur um Seidenglanz oder Flauschigkeit schert, sondern auch um die Beteiligungsrechte der Beschäftigten, hat es nicht leicht. Von den drei größten deutschen Drogeriemarktketten verfügt allein dm über einen mitbestimmten Aufsichtsrat. Der Konkurrent Müller firmiert seit 2004 als britische Limited & Co. KG und hat sich damit aus dem Geltungsbereich der deutschen Mitbestimmungsgesetze davongestohlen. Und die Dirk Rossmann GmbH, die in Deutschland rund 29 000 Menschen beschäftigt und damit wie die beiden Mitbewerber weit über dem Schwellenwert liegt, ab dem die paritätische Unternehmensmitbestimmung greift, ignoriert die gesetzlichen Vorgaben schlichtweg. 

„Das zeigt exemplarisch, wie mit der paritätischen Mitbestimmung umgegangen wird in Deutschland“, sagt Thomas Hoffmann. Zusammen mit Juraprofessor Walter Bayer hat der Wissenschaftler vom Institut für Rechtstatsachenforschung an der Universität Jena das Ausmaß der Mitbestimmungsvermeidung in Deutschland untersucht. Die Studie, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, brachte dramatische Ergebnisse ans Licht – insbesondere im Einzelhandel. „Bei den großen Unternehmensketten des Einzelhandels mit mehr als 2000 Arbeitnehmern ist Mitbestimmung nicht die Regel, sondern die Ausnahme“, bilanziert Hoffmann.

Genutzt werden alle Schlupflöcher, die der Gesetzgeber gelassen hat: das Einfrieren des Mitbestimmungsniveaus durch Umwandlung des Unternehmens in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE), die Aufsplitterung in Teilgesellschaften, die sämtlich unter den Schwellenwerten bleiben, die Wahl von Unternehmenskonstruktionen, die nicht von den Mitbestimmungsgesetzen erfasst werden, und – am häufigsten – die Flucht in eine ausländische Rechtsform. Um nur einige prominente Beispiele zu nennen: H&M, Zara oder Runners Point sind, mitbestimmungsrechtlich gesehen, in die Niederlande ausgewandert, Primark und Starbucks wie die Drogeriemarktkette Müller nach Großbritannien.

Aber warum ist die Mitbestimmungsvermeidung gerade in dieser Branche derart ausgeprägt? Das haben die Jenaer Forscher nicht wissenschaftlich untersucht. Aber Thomas Hoffmann hat eine Vermutung: „Das Geschäftsmodell im Einzelhandel beruht in weiten Teilen auf Billiglöhnen und prekärer Beschäftigung“, meint er. Da sei es nur logisch, wenn Arbeitnehmer im Aufsichtsrat unerwünscht seien. „Sonst wäre es ja so, als wenn bei einem Schnapsproduzenten ein Alkoholgegner mitbestimmen dürfte.“

Stefanie Nutzenberger, im Bundesvorstand der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di für den Handel zuständig, sieht das ähnlich. „In kaum einer anderen Branche gibt es so viele Reiche auf der einen und so viele Arme auf der anderen Seite“, sagt sie. Vier der zehn reichsten Deutschen seien Händler. Und gleichzeitig liege der Anteil der Beschäftigten, deren Lohn nicht zum Leben reicht und die deshalb ergänzend Hartz IV beantragen müssen, im Einzelhandel so hoch wie sonst fast nirgends. „Es herrscht ein massiver Verdrängungswettbewerb, der auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird“, sagt Nutzenberger. „Die Lohnkosten sind ein wesentliches Instrument, um sich am Markt zu behaupten.“

Dazu passt, dass sich gerade einige der erfolgreichsten Unternehmen partout nicht in die Karten schauen lassen wollen. Im Lebensmitteleinzelhandel haben vier Konzerne den Markt fast vollständig unter sich aufgeteilt; zusammen kommen Edeka, Aldi, Lidl/Kaufland und Rewe nach Angaben des Bundeskartellamts auf 85 Prozent des Umsatzes. Nur in einem von ihnen – der Rewe Group – werden die Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten durch einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat für den Gesamtkonzern vertreten. Aldi und Lidl/Kaufland (Schwarz-Gruppe) sind Stiftungen, für die die Mitbestimmungsgesetze nicht gelten. Und Edeka ist ein so kompliziertes Geflecht aus selbstständigen Kaufleuten, Regionalgesellschaften (und von ihnen betriebenen Märkten) sowie einer Zentrale in Hamburg, dass die Mitbestimmung in Aufsichtsräten weitgehend umgangen werden kann. „Bei Edeka liebt man zwar Lebensmittel, aber keine Gewerkschaften“, schrieb „Die Zeit“ vor einigen Jahren unter Anspielung auf den Werbeslogan des Supermarktriesen.

Sie wollen Herr im Haus sein 

„Der Wettbewerbsdruck prägt das Denken“, sagt Bernhard Franke, Leiter des Fachbereichs Handel bei ver.di in Baden-Württemberg. „Viele Unternehmen sehen es nicht ein, warum sie sich im Konkurrenzkampf einen mitbestimmten Aufsichtsrat ans Bein binden sollen.“ Dabei gebe es für den behaupteten Wettbewerbsnachteil durch die Mitbestimmung keine Belege, betont der Gewerkschafter. „Ich halte das für Ideologie.“ 

Eine Ideologie, die jedoch gerade bei Familienunternehmern und selbstständigen Kaufleuten auf sehr fruchtbaren Boden fällt: „Es gehört zu ihrer Mentalität, dass sie Herr im Haus sein wollen“, sagt Franke. „An den Gedanken der Mitbestimmung haben sie sich nie gewöhnt.“ Und das betrifft keineswegs nur die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat. Auch was die Be- oder gar Verhinderung von betrieblicher Interessenvertretung angeht, ist der Einzelhandel führend. Ob Aldi, Lidl, Müller oder H&M: Nicht ohne Grund sind viele Unternehmen, die wegen Schikanen gegen Betriebsräte in die Negativschlagzeilen geraten sind, dieselben, die auch keinen mitbestimmten Aufsichtsrat haben.

Und noch auf einen weiteren Zusammenhang weist Franke hin: Das Missachten von Mitbestimmungsrechten gehe häufig einher mit einer Ablehnung auch des Flächentarifs, sagt der Gewerkschafter. „Im Einzelhandel haben wir eine rapide sinkende Tarifbindung zu beklagen.“ Seit der Jahrtausendwende sei sie von 100 Prozent auf weniger als 40 Prozent zurückgegangen.

Trotz dieses feindlichen Klimas die Arbeitnehmerrechte durchzusetzen ist für ver.di eine Herkulesaufgabe – zumal Beschäftigten- und Branchenstruktur die Sache nicht eben leichter machen. „Wir haben im Einzelhandel sehr viele Teilzeitkräfte, studentische Aushilfen und Minijobber“, sagt Thomas Voß, Gewerkschaftssekretär in der ver.di-Bundesverwaltung. „Die sind schlecht organisierbar – und schwierig zu interessieren für die Mitbestimmung.“ Und: Die Branche ist sehr kleinteilig strukturiert; jenseits des Versandhandels gibt es kaum Betriebe mit mehr als 30 fest Beschäftigten. 

Die Schwierigkeiten, die das für die Gewerkschaft bedeutet, spiegeln sich wider in einem im Schnitt eher bescheidenen Organisationsgrad und in großen betriebsratsfreien Zonen. Vor diesem Hintergrund ist die mangelnde Aufsichtsratsmitbestimmung nicht das einzige Problem und für manchen bei ver.di auch nicht das vordringlichste. So hat Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger, um die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel zu verbessern, zwei Aufgaben auf der Prioritätenliste: das Erreichen allgemeinverbindlicher Tarifverträge, nicht nur zur Höhe des Entgelts, sondern auch zu guter und gesunder Arbeit. Und die möglichst flächendeckende Errichtung von Betriebsräten, die für die Einhaltung dieser Tarifverträge sorgen.

Gleichwohl unterstreicht sie nachdrücklich die vom DGB erhobene Forderung an den Gesetzgeber, die Schlupflöcher für die Flucht aus der Unternehmensmitbestimmung zu stopfen. „Die Gesetze müssen so gestaltet sein, dass die Unternehmen nicht einfach machen können, was sie wollen“, sagt Nutzenberger. Schließlich gehe es um den Schutz der Menschen – und nicht darum, Willkür zu ermöglichen. „Unternehmen müssen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, gegenüber den Beschäftigten und gegenüber der Gesellschaft“, verlangt die Gewerkschafterin. 

Und dazu gehöre auch, sich von einem mitbestimmten Aufsichtsrat kontrollieren zu lassen, der die strategischen Entscheidungen des Vorstands kritisch hinterfragt und konstruktiv begleitet. Der frühzeitig auf drohende wirtschaftliche Probleme aufmerksam macht, die das Unternehmen und die Arbeitsplätze gefährden könnten. Der aber beispielsweise auch nachfragt, woher eigentlich der Orangensaft oder das T-Shirt im Sortiment kommen und zu welchen Bedingungen sie hergestellt werden. „Was passiert, wenn es keine Kontrollinstanz gibt, zeigt das Beispiel Schlecker“, meint Nutzenberger. Die Drogeriemarktkette, deren Pleite im Jahr 2012 rund 25 000 Menschen den Job kostete, war von Firmenpatriarch Anton Schlecker ohne jede Unternehmensmitbestimmung geführt worden. „Ob ein Aufsichtsrat die Insolvenz hätte verhindern können, weiß ich nicht“, sagt die ver.di-Handelsexpertin. „Aber es hätte wenigstens die Chance gegeben.“

Sie ignorieren die Mitbestimmungsgesetze

Die Arbeitgeber ficht all das freilich gar nicht an. „Ganz bewusst“ habe der Gesetzgeber einzelne Rechtsformen von der Unternehmensmitbestimmung ausgenommen, teilt der Handelsverband Deutschland (HDE) mit. „Von daher ist das Verhalten der Unternehmen, die sich für eine mitbestimmungsfreie Rechtsform entscheiden, legal.“ Alles kein Problem also. Auch da nicht, wo – wie beim Drogerieriesen Rossmann, aber auch etwa bei den Billigfilialisten Tedi und KiK – einfach so getan wird, als gebe es die Mitbestimmungsgesetze nicht. Gewerkschaften oder Betriebsrat könnten ja vor Gericht ziehen und die Einsetzung eines Aufsichtsrats erzwingen. Tun sie das nicht, erklärt der Spitzenverband des deutschen Einzelhandels süffisant, dann sei das Interesse an der Bildung eines Aufsichtsrats vielleicht doch „nicht so groß“.

Diese Klagemöglichkeit besteht in der Tat. Doch was der Branchenverband nicht erwähnt: Solange die deutschen Gesetze auf vielerlei Weise zur Mitbestimmungsflucht einladen, laufen die juristischen Schritte leicht ins Leere. „Zwischen dem legalen Vermeiden und dem gesetzeswidrigen Ignorieren der Mitbestimmung besteht ein ganz enger Zusammenhang“, sagt der Jenaer Wissenschaftler Thomas Hoffmann. Sei ein gerichtlicher Erfolg der Arbeitnehmer absehbar, könne das Unternehmen immer noch die Strategie wechseln und den mitbestimmten Aufsichtsrat auf einem anderen, legalen Weg verhindern. „Das ist die Drohkulisse, die im Hintergrund steht.“ 

GEIZ ist nicht geil, sondern hat einen hohen Preis

Im Einzelhandel hat die Arbeitnehmerseite schwer zu kämpfen. Über die Hälfte der Arbeitsverhältnisse ist Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung. Der gewerkschaftliche Organisationgrad in der Branche ist mit rund zehn Prozent unterdurchschnittlich. Betriebsräte werden behindert, spektakuläre Fälle bei Aldi und Obi wurden weithin bekannt. Wo Betriebsräte fehlen, fehlt auch die Instanz, die die Einhaltung von Arbeitszeiten und Lohn(zuschlägen) im Rahmen der Tarifverträge einfordert. Insgesamt ist die Tarifbindung mit aktuell 40 Prozent erheblich zurückgegangen. Und dazu kommt die fehlende Mitbestimmung durch Arbeitnehmer und Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat.

400 000 Arbeitnehmer werden in 21 Konzernen des Einzelhandels von der unternehmerischen Mitbestimmung ausgeschlossen – durch Mitbestimmungsvermeidung. Die Unternehmen, die die Mitbestimmung gesetzeswidrig ignorieren, sind dabei noch nicht einmal eingerechnet.

Die Unternehmer macht der Handel reich: Auf Platz drei der Liste der reichsten Deutschen sind die Familien Albrecht und Heister (Aldi Süd), auf Platz fünf Dieter Schwarz (Lidl/Kaufland), auf Platz sechs Familie Theo Albrecht jr. (Aldi Nord) und auf Platz acht Familie Otto (Otto-Versand), laut Manager-Magazin von 2015.

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