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Magazin Mitbestimmung

: Eine andere Logik

Ausgabe 12/2009

ANKERAKTIONÄRE Mit der Montanmitbestimmung und staatlicher Beteiligung im Rücken hat sich die Salzgitter AG über alle Branchenkrisen hinweg im Wettbewerb behauptet. Von Matthias Helmer

Matthias Helmer ist Journalist in Göttingen/Fotos: Salzgitter AG

Eigentlich war der Verkauf schon besiegelt: Zum Jahreswechsel 1997/98 wollte die Preussag AG - auf ihrem Weg vom Bergwerks- zum Touristikkonzern - ihre traditionsreiche Stahltochter in Salzgitter an den österreichischen Konkurrenten Voest Alpine abstoßen. Diese Nachricht löste im Südosten Niedersachsens - insbesondere unter den Beschäftigten in Salzgitter, Peine und Ilsenburg - einen Sturm der Entrüstung aus. Betriebsrat und IG Metall drohten mit "brennenden Hütten", und auch im Management regte sich Widerstand, denn man befürchtete den Verlust von mehreren Tausend Arbeitsplätzen in der strukturschwachen Region - sowie den Entzug unternehmerischer Entscheidungsgewalt. Die gleichen Sorgen machte man sich bei der Landesregierung in Hannover. Ministerpräsident Gerhard Schröder bangte zudem um seine Wiederwahl bei den bevorstehenden Landtagswahlen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion beschlossen die politisch Verantwortlichen, die Preussag Stahl AG zu kaufen - mit Unterstützung der Landesbank Nord/LB. So erwarb das Land - ungeachtet massiver Kritik aus Politik und Wirtschaft - fast 100 Prozent an dem Unternehmen mit der Perspektive, es an die Börse zu bringen. Heute ist das Land Niedersachsen mit 26,5 Prozent der Anteile größter Einzelaktionär der neu gegründeten Salzgitter AG.

GEWISSE STABILITÄT_ Peter-Jürgen Schneider, Arbeitsdirektor der Salzgitter AG, ist überzeugt: "Wenn wir 1998 nicht von der Regierung Schröder gekauft und an die Börse gebracht worden wären, dann würde die Salzgitter AG in der jetzigen Form nicht mehr existieren." Denn die nachfolgenden Krisen hätten das Unternehmen vermutlich in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. "Weil dann die unternehmerische Logik eine andere gewesen wäre", wie Arbeitsdirektor Schneider vermutet. So sieht es auch der Leiter der Staatskanzlei in Hannover, Lothar Hagebölling, der als Vertreter des Landes im Aufsichtsrat der Salzgitter AG sitzt: "Ohne die Landesbeteiligung wäre die Salzgitter AG längst von einem ausländischen Konkurrenten übernommen worden." Denn die europäische Stahlindustrie hat sich in den vergangenen Boomjahren dramatisch verändert - siehe die Übernahmen von Arcelor durch Mittal Steel und des britisch-niederländischen Corus-Konzerns durch den indischen Konkurrenten Tata Steel. Aus Sicht von Christian Schwandt, Vorsitzender des Konzernbetriebsrats und ebenfalls Mitglied des Aufsichtsrats, sorgt die Beteiligung des Landes für eine gewisse Sicherheit und Stabilität im Unternehmen. "Ziel war es 1998, dass wir unabhängiger werden und vor dem Zugriff der Wettbewerber geschützt sind. Die 26,5 Prozent, die das Land hält, sind Garant dafür."

Die "andere unternehmerische Logik", von der Arbeitsdirektor Schneider spricht, ergibt sich aus den Leitlinien des staatlichen Anteilseigners. Er starrt nicht auf Dividenden oder Börsenwerte, sondern verfolgt übergeordnete Interessen: die Sicherung von Arbeitsplätzen, die Entwicklung der Region und den Ausbau der Infrastruktur. Und es ist ihm wichtig, dass der Konzernsitz in Niedersachsen bleibt. Ansonsten hält sich die Landesregierung aus den unternehmerischen Entscheidungen heraus: "Sie haben sich nie in das operative Geschäft eingemischt", sagt Peter-Jürgen Schneider. Lothar Hagebölling bestätigt: "Wir nehmen lediglich im Rahmen der uns nach dem Aktiengesetz zustehenden Rechte Einfluss. Das sind die Eigentumsrechte als Aktionär und das legitime Recht des größten Aktionärs, ein Aufsichtsratsmitglied zu stellen."

Mit dieser Linie ist die niedersächsische Landesregierung bislang gut gefahren, denn seit Beginn der neuen Selbstständigkeit hat die Salzgitter AG eine Erfolgsgeschichte geschrieben: Sie ist heute einer der führenden Stahltechnologie-Konzerne Europas. Die Zahl der Beschäftigten hat sich seit 1998 verdoppelt, von damals rund 12 000 - konzentriert auf die niedersächsischen Standorte Salzgitter, Peine und Ilsenburg - auf heute über 24000 weltweit. Was wieder bedingt ist durch den Zukauf der florierenden Mannesmannröhren-Werke (2000) und des Anlagen- und Spezialmaschinenbauers Klöckner (2007). Heute hat die Salzgitter AG mehr Standorte, auch hat sich die Zahl der im Ausland Beschäftigten auf rund 4000 erhöht. "Damit stellen sich ganz andere Aufgaben für die Konzernpolitik und die Arbeitnehmervertreter", sagt Schneider. Konzernbetriebsrat und Arbeitsdirektor müssen mit einer großen Vielfalt an Tarifregelungen, Interessenlagen und Märkten umgehen. "Das Geschäft ist schwieriger geworden", sagt Schneider.

VERLÄSSLICHE PARTNER_ Dass dabei die Belange der Arbeitnehmer nicht zu kurz kommen, ist der Montanmitbestimmung zu verdanken. Sie gilt nach wie vor für die operativen Gesellschaften der Salzgitter AG und indirekt - über das Mitbestimmungs-Ergänzungsgesetz - für den gesamten Konzern. "Die Montanmitbestimmung strahlt auch auf jene Bereiche unseres Konzerns aus, die anderen Mitbestimmungsregelungen unterliegen", sagt Christian Schwandt. Es sei gelungen, die Kultur der kooperativen Zusammenarbeit von Geschäftsleitung und Arbeitnehmerseite auf die einzelnen Sparten zu übertragen - und trotzdem deren kulturelle Besonderheiten zu bewahren. "Wir haben die gleichen Probleme wie andere Unternehmen, aber wir versuchen, sie gemeinsam und konstruktiv zu lösen", sagt der Konzernbetriebsratsvorsitzende. Wie schnell die Arbeitnehmerseite aber im Ernstfall den Hebel umlegen und Kampfbereitschaft an den Tag legen kann, hat sie anlässlich des drohenden Verkaufs der Salzgitter AG an die luxemburgische Arbed-Gruppe im Jahr 1999 bewiesen. Gerade in diesem Konflikt habe sich "die Leistungsfähigkeit der Montanmitbestimmung" gezeigt, hat der Wissenschaftler Klaus Lompe herausgefunden, der im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung eine Studie durchgeführt hat.

Heute ist man in Salzgitter froh, dass die Dinge so gekommen sind. "1998 gab es reichlich öffentliche Kommentare mit dem Tenor, ein Unternehmen, an dem das Land beteiligt ist und das die Montanmitbestimmung als Mühlstein am Bein hat, das muss scheitern, das wird niemals erfolgreich sein", erinnert sich Arbeitsdirektor Schneider. Heute aber zeige sich, dass man viel besser am Markt dastehe als die Konkurrenten ohne Montanmitbestimmung. "Dieser Erfolg hat auch mit unseren Strukturen zu tun. Die sind keineswegs ein Mühlstein, sondern ein Antriebsmotor der Unternehmensentwicklung." Hagebölling, der CDU-Mann aus der Staatskanzlei, pflichtet ihm bei: "Es gibt keinen vernünftigen Grund, an dem Bewährten zu rütteln. Dies gilt erst recht in wirtschaftlich schwierigen Zeiten."

Bewährt hat sich vor allem das Miteinander im 21-köpfigen Aufsichtsrat. "Zwar brauchen Entscheidungen oftmals länger, weil man mehr verhandeln und argumentieren muss, dafür unterbleibt aber so mancher Fehler", berichtet Arbeitsdirektor Schneider. Von der Arbeitnehmerbank wird in diesem Zusammenhang ausdrücklich der Beitrag der Landesvertreter im Lenkungsgremium gewürdigt: Sie hätten immer ein Interesse daran gehabt, dass es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Wertentwicklung des Unternehmens und der Beschäftigungssituation der Arbeitnehmer gebe, lobt Schwandt. Auch die Gewerkschaftsvertreterin im Aufsichtsrat, Hannelore Elze, Leiterin des IG-Metall-Zweigbüros, berichtet von einer fruchtbaren Kooperation: "Lothar Hagebölling ist ein verlässlicher Partner, genauso wie seine Vorgänger." Hagebölling schätzt ebenfalls die vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit. "Insbesondere in der Finanz- und Wirtschaftskrise haben Betriebsräte und Gewerkschaften ein hohes Maß an Kompetenz und Verantwortung bewiesen. Darauf können wir nicht verzichten", sagt er.

Auch über den Aufsichtsrat hinaus pflegen Arbeitnehmerseite und Politik ihren guten Draht: Einmal im Jahr trifft sich der Konzernbetriebsrat in ungezwungener Atmosphäre mit Abgeordneten des Landtages. Mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten kommt man alle zwei Jahre zusammen, um die Situation in den Betrieben oder die Auswirkungen politischer Entscheidungen auf das Unternehmen zu besprechen. "Wulff nimmt das mit, gibt uns aber keine Ratschläge", sagt KBR-Chef Schwandt. Bislang habe es keine größeren Probleme mit dem Landesherrn gegeben, auch nicht mit den Vorgängern Schröder und Gabriel. "Da geht es um unsere Interessen, und die bringen wir auch rüber."

KEINE SCHÖNWETTERPOLITIK_ Auf Basis dieser eingespielten Strukturen handeln die Unternehmensverantwortlichen seit Jahren mit einem gesundem Augenmaß - anders als bei vielen Konkurrenten, so die Einschätzung von Aufsichtsrätin Elze. Die Konzernleitung bemühe sich, die personalpolitischen Probleme ohne Auseinandersetzungen mit der Belegschaft zu bewältigen. Dabei helfe auch der in Salzgitter traditionell starke Arbeitsdirektor. "Von Spekulanten wurde die Salzgitter AG deswegen immer argwöhnisch beäugt", sagt Elze. All diese Faktoren haben dazu beigetragen, dass das Unternehmen nicht so heftig von der Krise erwischt wurde wie die übrige Branche - obwohl die jüngsten Geschäftszahlen schlechter ausfielen als erwartet: Nach Steuern verbuchte der Konzern in den ersten neun Monaten des Jahres einen Fehlbetrag von gut 230 Millionen Euro nach einem Überschuss von rund 690 Millionen Euro im Vorjahreszeitraum. Der Umsatz brach im gleichen Zeitraum um 38 Prozent auf knapp sechs Milliarden Euro ein. "Das Unternehmen hat weiterhin Liquidität", sagt Hannelore Elze. Zwar waren im November 2009 etwa 3500 Beschäftigte in Kurzarbeit, und seit Beginn der Krise im letzten Quartal 2008 musste das Personal über alle Standorte verteilt um rund 1600 Köpfe verkleinert werden - darunter rund 1000 Leiharbeitnehmer. Die Arbeitsplätze wurden sozialverträglich abgebaut, in erster Linie über Altersteilzeit oder die Nichtbesetzung frei werdender Stellen. "Unser erklärtes Ziel ist, keine betriebsbedingten Kündigungen vorzunehmen", sagt Peter-Jürgen Schneider. Die Krise führe nicht dazu, dass man Dinge aufgegeben habe, die man für langfristig richtig halte - etwa eine nachhaltige Personalstrategie. "Wir machen keine Schönwetterpolitik, die wir in der Krise zusammenklappen. Und wir sind auch in den guten Jahren nicht übergeschnappt", sagt der Arbeitsdirektor.

Zu den "richtigen Dingen" gehören zum Beispiel betriebliche Demografiefonds, über die Altersteilzeit-Verträge finanziert werden - was wiederum die Übernahme von Auszubildenden ermöglicht. Bislang konnten alle Azubis weiterbeschäftigt werden. Die Personaler haben Stipendien-Programme für Beschäftigte ausgearbeitet, die studieren wollen, - wie sie umgekehrt auf Studenten zugehen, die für das Unternehmen interessant sein könnten. Zudem hat der Konzern einheitliche Systeme für Erfolgsbeteiligungen von Beschäftigten und Managern entwickelt. Auch in den Bereich Forschung und Entwicklung wurde ungeachtet der Krise weiter massiv investiert - in Gebäude, Ausstattung und Personal. So konnte mithilfe des Bundes das neuartige Bandgießverfahren verwirklicht werden, in dem 20 Jahre Forschungsarbeit stecken.

Taugt das Beispiel Salzgitter AG als Vorbild für andere Unternehmen? Nur bedingt, meint Peter-Jürgen Schneider. Die besondere Rolle der öffentlichen Hand für den Stahlkonzern in Salzgitter und die ganze Region vor allem aus der Historie heraus zu verstehen, erklärt Schneider. Das Unternehmen und die Stadt Salzgitter wurden 1937 von den Nationalsozialisten in Vorbereitung des Krieges gegründet - ähnlich wie Volkswagen in Wolfsburg. "Der Staat war Veranlasser dieser Entwicklung. Er muss sicherstellen, dass das nicht in einer Sackgasse oder im Chaos endet. Dazu haben sich früher die Bundesregierungen und später die Landesregierungen Niedersachsens immer bekannt", sagt Schneider. Konzernbetriebsratsvorsitzender Schwandt hält es dagegen für überlegenswert, die erfolgreiche Kombination aus öffentlicher Beteiligung und Montanmitbestimmung auch auf andere Unternehmen zu übertragen: "Wir haben bislang keine Staatshilfen nötig gehabt. So schlecht kann unser Geschäftsmodell also nicht sein. Ich möchte aber davon wegkommen, darüber nur in Krisenfällen zu diskutieren".

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