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Wie kann die grenzüberschreitende Arbeitnehmerbeteiligung in Europa gestärkt werden, ohne dass dafür nationales Recht geopfert werden muss? Das Projekt „Workers’ Voice“ hat eine Lösung gefunden. Der Grundgedanke: Funktionen sind wichtiger als die Form. Magazin Mitbestimmung

Mitbestimmung: Ein Chor aus vielen Solisten

Ausgabe 02/2019

Wie kann die grenzüber­schreitende Arbeitnehmerbeteiligung in Europa gestärkt werden, ohne dass dafür nationales Recht geopfert werden muss? Das Projekt „Workers’ Voice“ hat eine Lösung gefunden. Der Grundgedanke: Funktionen sind wichtiger als die Form. Von Joachim F. Tornau

Ein Himmelfahrtskommando. Das war, woran Anke Hassel dachte, als sie im Oktober 2015 die Leitung der internationalen Expertengruppe „Workers’ Voice“ übernahm. „Als ich angefangen habe, war ich sehr skeptisch diesem Projekt gegenüber“, gibt die Soziologin freimütig zu. 

Wie sollte es gelingen, beim Thema Arbeitnehmerbeteiligung in Europa zu mehr zu gelangen als zur Feststellung, dass es viele sehr unterschiedliche nationale Systeme und Blickwinkel gibt? Würde man nicht doch wieder in der Sackgasse eines Vergleichs der Institutionen landen? Die Ergebnisse der Expertengruppe straften Hassels anfängliche Skepsis Lügen. „Wir haben einen Ansatz gefunden, mit dem man nicht gleich an der Hürde der Diversität scheitert“, sagt sie. „Das war ein großer Lerneffekt.“

Die Lösung verbirgt sich hinter der etwas sperrigen Formel der „funktionalen Äquivalente“. Statt auf die strukturellen und rechtlichen Unterschiede abzuheben, nahm die Kommission die Ziele und Wirkungen von Arbeitnehmerbeteiligung in den Blick. Und die lassen sich, bei allen Differenzen in der konkreten Ausgestaltung der Mittel und Wege, auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Workers’ Voice bedeutet Vertretung der Anliegen der Beschäftigten, Schutz und Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten, Kommunikation von Arbeitnehmerinteressen an der Unternehmensspitze sowie die Überwachung von Managemententscheidungen.

Das kann, wie bei der deutschen Unternehmensmitbestimmung, durch Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat geschehen. Das könnte aber, wo es weder Betriebsräte noch Beschäftigtenvertreter an der Unternehmensspitze gibt, auch durch einen verpflichtenden Dialog zwischen Unternehmen und Gewerkschaften erreicht werden, der die Rechte der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Beteiligung erfüllt. Denn entscheidend ist nicht die Form, sondern die Funktion. 

Entsprechend weit gefasst ist, was nach diesem Verständnis unter Workers’ Voice fällt. Neben Arbeitnehmervertretern in Aufsichts- oder Verwaltungsrat – wofür es in immerhin 18 der bei Redaktionsschluss noch 28 EU-Mitgliedstaaten gesetzliche Vorschriften gibt, also keineswegs, wie von Kritikern gerne behauptet, nur in Deutschland – können das beispielsweise auch nationale und Europäische Betriebsräte, Tarifverträge, europäische Betriebsvereinbarungen oder mit internationalen Gewerkschaftsföderationen abgeschlossene Globale Rahmenvereinbarungen sein, in denen sich multinationale Konzerne zur Einhaltung grundlegender Beschäftigtenrechte auch bei ihren Tochtergesellschaften, bei Zulieferern, Vertragshändlern und Subunternehmen verpflichten.

„Workers’ Voice gewinnt seine Wirkung und Gestaltungsmacht aus dem Zusammenwirken verschiedener Elemente der Arbeitnehmerbeteiligung sowie durch die Einbettung in Tarifvertrag, Sozialpartnerschaft und gewerkschaftliche Unterstützung“, erklärt Norbert Kluge, Direktor des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung und Initiator der eingesetzten Expertengruppe. 

Eine Erhebung durch das wissenschaftliche Sekretariat der Kommission ergab: In multi­nationalen Konzernen mit Beschäftigtenvertretern im Aufsichts- oder Verwaltungsrat findet Interessenvertretung auch auf anderen Kanälen häufiger statt. Während hier fast überall Tarifverhandlungen geführt wurden, geschah das sonst nur in jedem Zweiten der untersuchten Unternehmen. Die Verbreitung von Europäischen Betriebsräten war mit 57 Prozent sogar fast dreimal so hoch. Mithin: Workers’ Voice wirkt kumulativ. Und dass es wirkt, dafür lieferte die Auswertung ebenfalls klare Hinweise. Waren die Konzerne tarifgebunden oder auf Vorstandsebene mitbestimmt, kletterte die Vorstandsvergütung seltener ins Astronomische, wuchsen die Beschäftigtenzahlen stärker, traten die Unternehmen häufiger einem Nachhaltigkeitsindex bei. 

Drei zentrale Handlungsfelder identifizierte die Expertengruppe, auf denen der positive Einfluss von Arbeitnehmerbeteiligung besonders zum Tragen kommt – ein Einfluss, der nicht nur dem Unternehmen und seinen Beschäftigten, sondern auch anderen Stakeholdern nutze: den Regionen, in denen ein Unternehmen ansässig ist, den Kunden, der Gesellschaft insgesamt. Bei einem Treffen in Paris nahm die Kommission die Bedeutung von Workers’ Voice für Nachhaltigkeit und soziale Unternehmensverantwortung in den Blick. In Rom diskutierten die Experten die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Corporate Governance – weg von einer kurzfristigen Orientierung auf die Interessen der Aktionäre, hin zu einem breiter und langfristiger angelegten Stakeholder-Ansatz. Und bereits zu Beginn hatten sie sich in Prag damit beschäftigt, wie Workers’ Voice dazu beiträgt, Firmenumstrukturierungen sozial verantwortlich zu gestalten.

Der Ort war bewusst gewählt. „Tschechische Gewerkschaften“, sagt I.M.U.-Direktor und Kommissionsmitglied Kluge, „haben uns berichtet: Die Gefahr, zur bloßen verlängerten Werkbank zu werden, ist mit einem Europäischen Betriebsrat deutlich geringer.“ Fast ein Vierteljahrhundert nach ihrer Einführung gibt es derartige Gremien in 1100 der rund 3000 von der entsprechenden EU-Richtlinie erfassten transnationalen Unternehmen. Zwar sind viele von ihnen, wie es im wissenschaftlichen Abschlussbericht des Workers’-Voice-Projekts heißt, nach wie vor nur „symbolische Institutionen“. Doch in etlichen anderen Unternehmen haben sie sich zum wirkungsvollen Instrument einer länder­übergreifenden Arbeitnehmervertretung entwickelt.

„Die alltägliche Praxis zeigt, dass Mitbestimmung nicht statisch ist, sondern selbst ‚lernt‘“, sagt Kluge. Dieses „institutionelle Lernen“ sollte politisch anerkannt werden – etwa indem die Rechte der Europäischen Betriebsräte ausgeweitet werden und nicht länger auf Unterrichtung und Anhörung beschränkt bleiben. Das allein würde nach Überzeugung der Expertengruppe jedoch nicht ausreichen, um Workers’ Voice in Europa den nötigen zusätzlichen Nachdruck zu verleihen. Aber was tun? Eine weiter gehende Harmonisierung der Arbeitnehmerbeteiligung in der EU wäre angesichts der Vielfalt nationaler Systeme und Traditionen weder realistisch noch überhaupt sinnvoll – sie könnte nur auf eine Abwärtsintegration hinauslaufen, die in vielen Ländern einem Abbau bestehender Rechte gleichkäme. 

Die Alternative folgt aus dem Ansatz der „funktionalen Äquivalente“. Die Kommission plädiert dafür, allgemeine Mindeststandards für Workers’ Voice in der EU zu definieren, die konkrete Ausgestaltung aber den Mitgliedstaaten zu überlassen. Vier Punkte hält die Expertengruppe dabei für unverzichtbar: Die Beteiligung der Beschäftigten auf Unternehmensebene müsse erstens verpflichtend und ihre Vermeidung oder Behinderung, zweitens, strafbar sein. Drittens müssten sowohl individuelle als auch kollektive Arbeitnehmerrechte gesetzlich geschützt sein. Und viertens müsse Workers’ Voice in multinationalen Unternehmen alle Ebenen vom lokalen Betrieb bis zum grenzüberschreitenden Konzern erfassen sowie das Zusammenwirken inner- und außerbetrieblicher Arbeitnehmervertreter ermöglichen.

Die Expertengruppe ist sich einig: Es braucht eine europäische Rahmenrichtlinie, die diese Regeln festschreibt. Aber das zu erreichen wird nicht leicht. Ziel ist es, ein gemeinsames Verständnis zu erreichen, was Workers’ Voice jenseits der Unterschiedlichkeit der Institutionen ausmacht und was die Mitbestimmung leisten kann. 

In den mehr als zehn gesellschaftsrechtlichen Richtlinien zur transnationalen Unternehmenstätigkeit, die die EU seit 1968 verabschiedet hat, spielten Fragen der Arbeitnehmerbeteiligung, wenn überhaupt, dann nur eine sehr untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt standen die Interessen von Management und Aktionären. Selbst die als positive Ausnahme geltende Richtlinie zur Europäischen Aktiengesellschaft (SE), die bei SE-Gründungen den Erhalt des bestehenden Beteiligungsniveaus garantiert, kann zum Aushebeln von Mitbestimmungsrechten missbraucht werden: Ein Unternehmen muss nur rechtzeitig, bevor die Beschäftigtenzahlen die Schwellenwerte für einen mitbestimmten Aufsichtsrat erreichen, in eine SE umgewandelt werden, dann bleiben die Arbeitnehmervertreter für alle Zeit draußen.

Mittlerweile propagiert die EU die Stärkung ihrer „sozialen Säule“. Doch auch die derzeit im EU-Parlament zur Abstimmung stehende Richtlinie zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung und Onlineregistrierung von Unternehmen folgt weitgehend noch der alten Logik. Trotz einiger Verbesserungen, die das Parlament erreichte, wird das sogenannte Company Mobility Package die Gründung von Briefkastenfirmen oder das Umgehen von Mitbestimmungs- und Steuergesetzen nicht wirksam unterbinden. Unternehmen können – weiterhin – auf dem Papier einfach in den EU-Mitgliedstaat mit den laxesten Vorschriften umziehen. Immerhin: Einen dreijährigen Bestandsschutz für Mitbestimmungsrechte bei Sitzverlegungen hatte bereits die EU-Kommission in ihren Entwurf aufgenommen; das Parlament erhöhte das jetzt auf vier Jahre. Das reicht den Gewerkschaften zwar nicht. Aber es ist ein Indiz, dass ein Umdenken begonnen hat.

Dieser Prozess soll mit den Ergebnissen und Argumenten des Workers’-Voice-Projekts weiter voran­getrieben werden. So organisiert die Hans-Böckler-Stiftung verschiedene Veranstaltungen in Brüssel, bei denen Praktiker der Arbeitnehmerbeteiligung auf EU-Mitarbeiter treffen und aus ihrem Alltag berichten. „Zu sehen, wie Workers’ Voice in der Praxis funktioniert, eröffnet neue Denk- und Handlungsspielräume“, ist Norbert Kluge überzeugt. Nächstes großes Etappenziel sind die Anhörungen der designierten EU-Kommissare durch das neu gewählte Europaparlament: In diesen Hearings wolle man die Stärkung von Workers’ Voice auf die Agenda heben, auch mit Blick auf die EU-Ratspräsidentschaften der mitbestimmungsfreundlichen Mitgliedstaaten Deutschland (2020) und Frankreich (2021), sagt Kluge. Mit kurzfristigen Erfolgen, warnt er, sollte aber niemand rechnen. „Das ist eine Aufgabe für mehr als eine Generation.“

  • Viele Solisten, ein Chor (Foto: Shutterstock)

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