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Bettina Kohlrausch, Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung Magazin Mitbestimmung

Industrielle Demokratie: Ein Blick nach vorn

Ausgabe 04/2022

Welche Rechte braucht der arbeitende Souverän im 21. Jahrhundert?* Von Bettina Kohlrausch

Wir leben wieder einmal in Zeiten, in denen es wichtig ist, darüber nachzudenken, was eine Demokratie am Leben erhält. Welche Voraussetzungen und Ressourcen brauchen erwerbstätige Menschen, um sich die Sache der Demokratie zu eigen zu machen?  

Historisch betrachtet, setzte sich erst mit dem beginnenden 19. Jahrhundert und den ersten arbeitsrechtlichen Regelungen die Idee durch, dass Arbeit nicht nur Last und Mühsal bedeutet, sondern Menschen einen gesellschaftlichen Status verleiht. Dieses Idealbild von Arbeit stand freilich im Gegensatz zur Realität von Erwerbsarbeit im 19. Jahrhundert, die mit Ausbeutung und Entrechtlichung einherging. 

Dieser krasse Widerspruch zwischen der Idee, dass alle Menschen gleich sind und demokratische Rechte haben und der Praxis extremer Ungleichheit und Ausbeutung verdeutlicht: Demokratische Rechte funktionieren nicht ohne soziale Rechte. 

Soll Demokratie mehr sein als eine formale Hülle, müssen wir uns als Teil der Gesellschaft begreifen, die wir mitgestalten. Wie werden wir zu einem Teil der Gesellschaft, wer fühlt sich warum zugehörig? Für mich ist das der Kern meines Forschungsinteresses und deshalb faszinieren mich diese industriellen Staatsbürgerrechte auch so, denn in meinen Augen sind sie ein wichtiges Instrument der sozialen und demokratischen Integration.  

Der arbeitende Souverän braucht also demokratische und soziale Rechte. Die Erkämpfung und schließlich auch Durchsetzung sozialer Rechte fand zu einem großen Teil im Kontext von Erwerbsarbeit statt – auch weil es hier die Machtmittel gab, die eigenen Rechte durchzusetzen. 

Für diese Rechte haben die Sozialwissenschaften einen besonderen Begriff. Sie sprechen von industriellen Staatsbürgerrechten, die Beschäftigte vor den Kräften des Marktes schützen. In Deutschland werden diese industriellen Bürgerrechte etwa durch direkte Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten, die Tarifautonomie, die Betriebsräte sowie die Unternehmensmitbestimmung verkörpert. 

Diese Rechte leiten sich vom Status der Erwerbstätigkeit ab. Sie schaffen Strukturen, aus denen sozialer Zusammenhalt entstehen kann, und sie garantieren soziale Anerkennung. Es mag pathetisch klingen – aber Erwerbsarbeit hilft uns selbst zu sehen und anderen zu zeigen, welchen Platz wir in dieser Gesellschaft eingenommen haben.  

Trotzdem bleibt auch im 21. Jahrhundert der Widerspruch: Jeder Mensch verfügt über demokratische Rechte und arbeitet dennoch in einer nur begrenzt demokratischen Arbeitswelt. Für einige, so scheint es, sind in Folge von Globalisierung und Digitalisierung die Spielräume, eigene Rechte gegenüber der Macht des Marktes durchzusetzen, sogar geringer geworden. Denken wir nur an die schlechtbezahlten Dienstleistungen, die neuerdings über Internetplattformen organisiert und angeboten werden, denken wir an Leiharbeit, denken wir an prekäre Beschäftigung in deutschen Schlachthöfen. 

Aber neben der materiellen Ungleichheit sehen wir noch mehr: Den Druck, der von wachsender Kontrolle und Entgrenzung von Arbeit ausgeht; die Überforderung, die mit der Einführung neuer Technologien einhergeht. Die Angst vor der Entwertung der eigenen Qualifikation und den drohenden Verlust von Anerkennung. Wer jahrelang stolz darauf war, an der Herstellung immer sparsamerer Dieselmotoren gearbeitet zu haben und jetzt nur noch klimafeindliche Technik von gestern produziert, der sieht nicht nur den Arbeitsplatz bedroht, sondern auch den eigenen Stolz. 

Damit Erwerbsarbeit auch unter den Bedingungen der Digitalisierung oder der sozial-ökologischen Transformation ein Ort sozialer und demokratischer Integration sein oder wieder werden kann, brauchen wir einerseits eine Stärkung der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung, wie es Gewerkschaften ja schon lange fordern. In tarifgebundenen und mitbestimmten Unternehmen sind die Arbeitsbedingungen im Schnitt deutlich besser. 

Die Kräfte des Marktes agieren längst auf der europäischen oder globalen Ebene. Wir sollten daher darüber nachdenken, industrielle Staatsbürgerrechte als europäische oder internationale Rechte zu verstehen. 

Außerdem schützen industrielle Staatsbürgerrechte zwar vor der Macht des Marktes, aber nicht vor der Macht des Patriarchats oder vor Rassismus. Je diverser und weiblicher Erwerbsarbeit wird, desto relevanter werden diese Konflikte. Menschen werden auf der Arbeit täglich wegen ihres Geschlechts oder ihres Migrationshintergrunds diskriminiert. Wir müssen Erwerbstätige besser vor diesen Diskriminierungen schützen. 

Und schließlich schützen industrielle Staatsbürgerrechte nur Erwerbsarbeit – ein Geburtsfehler, denn sie leisten keinen Schutz für unbezahlte Sorgearbeit. Erwerbsarbeit und unbezahlte Arbeit gehören aber zusammen. Menschen leisten in beiden Bereichen wichtige Arbeit und müssen dabei die widersprüchlichen Anforderungen beider Bereiche individuell vereinbaren: Kinder sind nun mal nicht bereit, sich an den Rhythmus eines Schichtdienstes in der Krankenpflege anzupassen; Eltern brauchen gerade dann unsere Pflege, wenn ein wichtiger Projektabschluss ansteht. 

Gerade für Frauen ist dieser Widerspruch kaum aufzulösen. Deshalb muss die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Privatleben im Mittelpunkt der betrieblichen Arbeitsorganisation stehen. Auch hierfür brauchen wir eine Stärkung und Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmungsrechte. 

Der arbeitende Souverän braucht also industrielle Staatsbürgerrechte – und diese benötigen genauso dringend ein Update. 


*gekürzte und leicht umformulierte Fassung einer Festrede beim traditionsreichen „Mahl der Arbeit“ in Bremen am 29.04.2022

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