Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Die Revolution hat bereits begonnen
Nach dem Smartphone kommt nun die Smart Factory. Was bedeutet das für die Arbeitnehmer? Werden sie zu Handlangern der Maschinen oder zu ihren Aufsehern? Noch bleibt beim Stichwort Industrie 4.0 vieles vage. Das dürfte sich bald ändern. Von Andreas Kraft
Was wird das nächste große Ding? Der Blogger und Internetexperte Sascha Lobo hat eine Antwort. Er beschreibt die Entwicklung des Internets in Fünfjahresschritten. Los ging es 1994 mit dem Browser, dann kamen 1999 die Onlineshops, 2004 die sozialen Netzwerke wie Facebook und Twitter und schließlich 2009 die Verbreitung von Smartphones und dem mobilen Netz. Als nächsten großen Entwicklungsschritt sieht er den Datenstrom im Internet der Dinge: Immer mehr Geräte (Kühlschränke, Autos, Uhren) werden miteinander vernetzt und tauschen Informationen aus.
Für die Arbeitswelt, an der diese Entwicklung nicht vorübergehen wird, haben Experten einen anderen Begriff geprägt: Industrie 4.0 – in Anlehnung an die Schritte der industriellen Revolution. Mit der Dampfmaschine wurde die Produktion mechanisiert, mit dem Fließband industrialisiert und mit den Robotern automatisiert. Nun, im vierten Schritt, wird die Fabrik digitalisiert. Arbeitnehmer, Maschinen und Produkte werden danach künftig miteinander kommunizieren. Ständig und in Echtzeit.
Wie das konkret aussehen kann? Möglicherweise tragen die Beschäftigten künftig eine Datenbrille, wie sie gerade von Google entwickelt wird. Bewegen sie sich durch die Produktionshalle, wird eingeblendet, wo was zu tun ist. Auch andere Assistenzsysteme werden bereits erprobt, etwa ein Handschuh, der dem Monteur mit Signalen die Hand führt. Jeder Handgriff soll damit perfekt sitzen.
Eine weitere durchgreifende Entwicklung sind cyberphysikalische Systeme. In einem Speicherchip trägt dabei das Produkt die Wünsche des Kunden mit sich. Der Auftrag soll sich so selbstständig durch die Wertschöpfungskette steuern. Er bucht Kapazitäten bei verschiedenen Maschinen, ordert die notwendigen Teile und Rohstoffe und meldet Verzögerungen an den Kunden. Braucht die Maschine zusätzliche Informationen – etwa weil sie mit einem Werkstoff noch nie gearbeitet hat –, müssen die entsprechenden Programme nicht umständlich aufgespielt werden. Die Maschine lädt sich die benötigten Daten stattdessen vom Hersteller herunter.
Die Hoffnung der Ingenieure ist dabei, eine Produktion auf Nachfrage zu ermöglichen, ohne dabei die Vorteile der Massenfertigung aufgeben zu müssen. Mit der intelligenten Fabrik (Smart Factory) will die Industrie flexibler auf den Markt reagieren können. Natürlich geht es auch um Effizienz: Aus den anfallenden Daten lässt sich jederzeit ablesen, ob die Fabrik ausgelastet ist, und vermutlich auch prognostizieren, wie viele Beschäftigte zu welchem Zeitpunkt gebraucht werden. Und der Anlagenbauer kann mit der Analyse der Daten seine Produkte und Services verbessern.
Viel konkreter werden die Szenarien gegenwärtig noch nicht. Doch mit der Digitalisierung der Produktion sind große Hoffnungen verbunden – auch für die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland. Die Bundesregierung unterstützt Manager und Ingenieure tatkräftig dabei, neue Ideen zu entwickeln. So wird das Thema Industrie 4.0 etwa im Koalitionsvertrag erwähnt: Um die „Technologieführerschaft im Maschinenbau“ zu erhalten, wolle die Regierung das „Feld Industrie 4.0 aktiv besetzen“. Dafür will Berlin 200 Millionen Euro Fördergeld spenden – für die gemeinsame „Plattform Industrie 4.0“ vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), dem Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM) und dem Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI). Dort sollen branchenübergreifend neue Technologien entwickelt, Standards erarbeitet und Geschäftsmodelle vorangetrieben werden.
UMWÄLZUNGEN FÜR ARBEITNEHMER
Welche Rolle der Mensch in der Fabrik der Zukunft spielen wird, ist völlig offen. Sicher scheint, dass er über Schnittstellen – etwa ein Tablet oder ein Smartphone – in das Netzwerk eingebunden sein wird. Dabei ist es vorstellbar, dass er zum Handlanger der Maschinen wird. Sie schicken ihm Arbeitsaufträge und sagen ihm beispielsweise, dass er Bleche nachlegen muss. Ein anderes Szenario sieht den Menschen als Dirigenten in der Fabrik, der die Maschinen steuert und Lösungen entwickelt, wenn die Maschinen Probleme haben. Dann könnte Arbeit auch besser werden. Körperlich belastende Tätigkeiten fallen weg, dafür können sich die Beschäftigten interessanteren Aufgaben widmen.
Dass die neuen Technologien so gestaltet werden, dass sie den Arbeitnehmer unterstützen und nicht Fertigkeiten enteignen und zu neuen Belastungen führen, ist ein Hauptanliegen der Gewerkschaften. So bringt die IG Metall ihre Vision auf die einfache Formel: Menschen steuern Systeme und nicht umgekehrt. Denn angesichts der Zukunftserwartungen sorgt sich die IG Metall um die Facharbeiter in der Produktion. Denn in diesem Bereich könnten in der intelligenten Fabrik Stellen wegfallen. An anderen Stellen wird aber sicherlich neues Personal gebraucht. Von einem enormen Weiterbildungsbedarf geht daher Constanze Kurz aus, die beim Vorstand der IG Metall als Ressortleiterin für das Thema zuständig ist: „Für alle wird sich die Arbeit enorm verändern – vom Ingenieur bis zum Angelernten. Mit der Vernetzung verschmelzen zwei Welten. Die Ingenieure müssen ein Stück weit zu Informatikern werden und umgekehrt.“ Denn bislang verstehen sie sich kaum.
Analog sieht Kurz die Entwicklung in allen anderen Bereichen: Arbeit wird interdisziplinärer und komplementärer werden. Die Weiterbildung der Beschäftigten zu stemmen, werde eine enorme Herausforderung für die Unternehmen werden. „Anders wird es aber nicht gehen“, ist sich Kurz sicher. „Die Firmen werden kaum haufenweise junges, bereits ausgebildetes Personal anwerben können. Das gibt es einfach nicht – und das wäre mit Blick auf das vorhandene Arbeitskräftepotenzial auch nicht wünschenswert.“
Aber nicht nur die Metall- und Elektroindustrie treibt das Thema um, auch die chemische Industrie steht vor einer umfassenden Digitalisierung. Eine Expertise des VDI-Technologiezentrums und der Hans-Böckler-Stiftung geht allerdings davon aus, dass sich die Entwicklung dort eher langsam vollziehen wird und nicht so umwälzend sein dürfte wie in der Metall- und Elektroindustrie. Das liege auch daran, dass die Automatisierung in Chemiefabriken heute schon sehr weit vorangeschritten sei. Eine menschenleere Fabrik sei allein aus Sicherheitsgründen unvorstellbar. Wie heute wird es auch zukünftig Menschen geben müssen, die die Anlagen überwachen.
Was dabei aber wahrscheinlich ist, ist, dass Chemiefabriken in allen Teilen der Welt künftig von Europa aus gewartet und überwacht werden. So sei es beispielsweise in Asien schwierig, dafür geeignetes Personal zu finden und an das Unternehmen zu binden. Ein weiteres Szenario fasst modulare Anlagen in den Blick, die deutlich kleiner sind als die heute üblichen Chemieparks. Die Fertigung könne so näher an den Kunden rücken und zentral gesteuert werden.
Wie die Digitalisierung die Produktion und vor allem die Arbeit verändern wird, lässt sich also derzeit nur erahnen. Wirklich konkret dürfte es erst in den kommenden Jahren werden. Dann könnte alles aber – das zeigt die Erfahrung mit den vorherigen Entwicklungsschritten des Internets – sehr schnell gehen. Wer darauf nicht vorbereitet ist oder den anstehenden Wandel unterschätzt, könnte rasch abgehängt werden – so wie die Tageszeitungen, wie Neckermann und Quelle oder wie Nokia.