Beteiligungsrechte: Der Stresstest
Vielerorts versuchten Arbeitgeber während der Pandemie, die Mitbestimmung auszuhebeln und durchzuregieren. Doch längst nicht überall ließen Betriebs- und Personalräte sich ihre Rechte nehmen. Von Andreas Molitor
Es ist ein Satz, der von Resignation kündet, von Hilflosigkeit und von der Erkenntnis, dass es nie wieder so sein darf: „Es gab keine Mitbestimmung in der Zeit.“ Gesagt hat es die Mitarbeitervertreterin eines kirchlichen Pflegeheims, gemeint sind die Zustände in ihrem Betrieb während der ersten Welle der Coronapandemie im Frühling vorigen Jahres. Ein Team von Soziologinnen und Soziologen der TU Darmstadt hat die Aussage protokolliert. In einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie haben die Wissenschaftler in ausgewählten Industrie-Großbetrieben sowie im Gesundheitswesen untersucht, „ob und unter welchen Bedingungen die demokratischen Beteiligungsrechte der Belegschaften in dieser Krise respektiert wurden“. Kurz: Was wurde im Zeichen von Corona aus der Mitbestimmung? Bestand sie den „pandemischen Stresstest“?
Nicht nur in der Politik, sondern auch in den Betrieben war mit Beginn der Pandemie die „Stunde der Exekutive“ angebrochen. „In einer ganzen Reihe von Betrieben versuchte das Management mit Sätzen wie: ‚Jetzt ist Notstand, da haben wir keine Zeit für Bedenken des Betriebsrats‘ ihr vermeintliches Direktionsrecht durchzusetzen“, erklärt Daniel Behruzi, einer der Autoren der Studie. „Uns erodiert da unsere Kernmitbestimmung weg“, beschreibt einer der interviewten Betriebsräte die Situation, „weil der Arbeitgeber sich auf Befehlsnotstand und Anweisungen von oben zurückzieht und an allen Stellen, wo er das nicht kann, die Mitbestimmung einfach aussetzt.“ Die Autoren waren überrascht, wie weit die Attacken der Arbeitgeber auf die Mitbestimmung vielerorts reichten. In einigen Fällen wurde dem Betriebs- oder Personalrat eine als „Vereinbarung“ getarnte Generalvollmacht vorgelegt, mit der die Beschäftigtenvertretung pauschal auf ihre Rechte verzichten sollte. „Die Brachialität, mit der gearbeitet wurde, ist schon erschreckend“, gab ein Betriebsrat zu Protokoll.
Besonders groß war der Druck – mal moralischer Appell, mal harte Ansage – im Gesundheitswesen. Mitsprache bei Dienstplänen und Überstunden war nicht gefragt. Die Mitarbeiter, berichtet eine Beschäftigtenvertreterin eines kirchlichen Krankenhauses, seien „wie Leibeigene zwischen den Häusern oder auch zwischen den Diensten hin und her getauscht“ worden. Manche Gremien verzichteten in vorauseilendem Gehorsam sogar von sich aus auf ihre Beteiligungsrechte und stellten ihre Arbeit über Wochen und Monate hinweg ein – „sei es aus Hilflosigkeit oder aufgrund einer Mentalität, die den mit einem externen Schock konfrontierten Betrieb als gemeinsam zu verteidigende Wagenburg ansieht“. Ganze Belegschaften verfielen in eine Art Rettermodus. „Jetzt ist Notfall, und da schauen wir halt weg“, so beschreibt ein Verdi-Sekretär die Haltung vieler Betriebsräte.
Doch längst nicht überall ließen sich Betriebs- und Personalräte ihrer Rechte berauben. „In vielen Fällen erkämpften sie ihre Beteiligung an Krisenstäben und wiesen geforderte ‚Generalvollmachten‘ zurück“, so die Studie. Solche Beschäftigtenvertretungen zeigten sich durchaus kooperativ dem Arbeitgeber gegenüber, sie verschleppten dringend nötige Maßnahmen nicht, aber sie achteten streng darauf, dass sie nicht übergangen wurden. Manchmal half „klare Kante“: Nachdem das Management bereits etliche Male mit einseitigen Entscheidungen vorgeprescht war, erzählt ein Betriebsrat, habe er beim nächsten Treffen mit dem Arbeitgeber „das Betriebsverfassungsgesetz hochgehalten und gesagt: Da kommt ihr nicht dran vorbei.“
Auch Arbeitgeber haben dazugelernt
Als essenziell erwies sich ein heißer Draht zur Gewerkschaft vor Ort: „Die gewerkschaftliche Organisation ist für die Wirksamkeit der betrieblichen Mitbestimmung entscheidend.“ In vielen Fällen brachte erst die Gewerkschaft den Austausch zwischen Betrieben über Erfahrungen mit übergriffigen Arbeitgebern in Gang. „Wo die Gewerkschaft stark im Betrieb verankert ist und wo Betriebs- und Personalräte eng mit der Gewerkschaft kooperiert haben, konnten die Interessenvertretungen die Attacken auf die Mitbestimmung seitens der Arbeitgeber meist zurückweisen“, so das Fazit von Daniel Behruzi. Wo es vor Corona eine gelebte Mitbestimmungskultur und „einen kooperativen Umgang des Arbeitgebers mit der Beschäftigtenvertretung gab“, so der Soziologe, „war das in der Regel auch in der Pandemie so“. Auch die Arbeitgeber haben hinzugelernt – zum Beispiel dass sich mit einer selbstbewussten Mitbestimmung an der Seite Krisensituationen meist besser meistern lassen als per direktem Durchgriff. „Wenn die Beschäftigten das Gefühl haben, mitgenommen zu werden, ziehen sie auch mit – und dann können Dinge auch ganz schnell gehen.“
Ein „Schub für die Mitbestimmung und die Demokratie im Betrieb“ war die Coronapandemie mit Sicherheit nicht, lautet Daniel Behruzis Fazit. Die langfristigen Folgen für die Machtverhältnisse in den Betrieben sind noch nicht absehbar. „Wenn der Arbeitgeber sieht: Es geht doch, ich kann am Betriebsrat vorbei Dinge durchdrücken“, dann werde er es bei nächster Gelegenheit vielleicht erneut versuchen. „Starke Mitbestimmung ist intensiver und besser geworden“, bringt eine von den Wissenschaftlern befragte Gewerkschafterin es auf den Punkt. „Und schwache Mitbestimmung wurde entweder gänzlich weggedrückt oder hatte tiefste Schwierigkeiten.“
Daniel Behruzi/Ulrich Brinkmann/Tanja Paulitz: Corona-Krise – Stresstest für die Mitbestimmung. In: WSI-Mittteilungen 4/2021; als Einzelheft bestellbar bei Nomos, Telefon: 07221/2104-39, abo@nomos.de
Die Studie entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „‚Digitale Bohème‘ und Mitbestimmung. Informelles Digitalisierungswissen in Großunternehmen als zukünftige Gestaltungsressource für Betriebsräte” der Hans-Böckler-Stiftung.