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Magazin Mitbestimmung

: Der Arbeiter auf den Spuren der Kolonisatoren

Ausgabe 10/2004

Der Urlaub ist für viele der Höhepunkt des Jahres. Es waren die Gewerkschaften, die ihn erkämpften und so zum Wegbereiter des Massentourismus wurden. Die Demokratisierung des Reisens hat eine globale Industrie hervorgebracht, die jeden Weltwinkel erschließt.

Von Karlheinz Wöhler
Prof. Dr. Wöhler lehrt empirische und angewandte Tourismuswissenschaft an der Universität Lüneburg und ist Herausgeber der Fachzeitschrift "Tourismus Journal".

Wer in der Freizeit wegfährt und einige Tage woanders als zu Hause verbringt, der redet von Urlaub - auch schon Kinder. Urlaub ist ein Ortswechsel auf Zeit. Urlauben bedeutet nicht nur, den alltäglichen Raum zu verlassen, sondern auch das Alltägliche zurückzulassen. Beim Wort "Urlauben" lebt die seit dem Mittelalter geltende Bedeutung fort: die Erlaubnis, sich zu entfernen. Mit dieser Wortbedeutung, die sich im Handeln konkretisiert, landet man nicht nur mit einem Schlag in der Geschichte der Arbeiterbewegung, sondern auch in der konfliktreichen Gegenwart. Dass heute jeder Mann und jede Frau zeitweilig von Arbeitspflichten und damit vom Alltag entbunden ist, dass er einen Anspruch auf Urlaub hat, ist mit den Kämpfen um demokratische Rechte seit der Industrialisierung verbunden.

Seit den Bismarck'schen Sozialgesetzen geht es nicht mehr darum, ob, sondern wie lange Lohnabhängige vorübergehend von ihrer Arbeit entbunden werden. Vergleichbar mit den Festen zu allen Zeiten gerät auch der Urlaub in die Mühlen der verschiedenen Interessen und Zwecksetzungen: Urlaubsgewährung und Urlaubsreisen waren und sind mit politischer Ruhestellung, Regeneration der Arbeitskraft sowie politischer Indoktrination verbunden. Insofern ist Urlaub nicht "frei". Dass der Urlaub zweckfreier und allein von den Bedürfnissen der Arbeitnehmer gestaltet werden kann, ist insbesondere dem Kampf der Gewerkschaften um Verkürzung der Wochenarbeitszeiten und der Erhöhung der Urlaubstage seit den 50er Jahren zu verdanken.

Urlaub bedeutet spielen, abschalten, sich selbst verwirklichen

Wenngleich sozialdemokratische und gewerkschaftliche Arbeiterorganisationen und der Touristenverein "Die Naturfreunde" in der Weimarer Republik mit ihren Urlaubsangeboten eine proletarische Reisekultur etablieren wollten, mussten sie sich den Reisebedürfnissen der angesprochenen Arbeiternehmerklientel anpassen. Sie wollte genau das, was das einstige bürgerliche Luxusgut "Urlaubsreise" ausmachte: Erholung, Vergnügen, Abschalten und sinnliche Erfahrung neuer Räume. Was sich bereits damals abzeichnete, nur unterbrochen von den gelenkten KdF-Reisen des NS-Staates, setzte sich in der Bundesrepublik fort: Der Urlaub folgt dem Leitwert der Moderne - der Selbstverwirklichung des Individuums. Im Urlaub können wir uns wie im Spiel "testen" und uns den umgebenden "Dingen", Ereignissen und Menschen hingeben. Dies gilt auch für die ehemalige DDR: Obwohl ihre Staatsmacht den Urlaub lenkte, ist er von der Bevölkerung als "Individualisierungsventil" genutzt worden.

Nicht zuletzt daran, dass es mehr Urlaub gab als früher, konnten die Menschen ablesen, dass sich die Gesellschaft demokratisierte und ihnen bislang verschlossene Teilhaberechte zugestand. Der Urlaub gilt als Symbol eines sozial gerechten Fortschritts, als Ausgleich für die zunehmende Entfremdung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Dieser Fortschritt zu mehr Freiheit, Freisein und Selbstbestimmung ist symbiotisch mit der verkehrstechnischen Massenmobilisierung durch Bahn, Auto und Flugzeug verbunden. Das Urlaubsverlangen nach Abstand, Ausschlafen, nur Ausruhen und anderem Erleben ist mit raumüberwindender Fortbewegung und mit der eigenen geistigen Beweglichkeit verbunden. Sich jenseits des Alltags zu bewegen ist Ausdruck der Sehnsucht nach Freiheit von Regeln und Routinen. Die mit dem Urlaub einhergehende Mobilität erschließt Möglichkeitsräume, sich andernorts nicht nur zu finden, sondern sich bisweilen auch anders zu erfinden. Der Urlaub wird somit ein moderner Zeitraum der Selbstbestimmung, was eine Selbstbesinnung nicht ausschließt.

Der Tourist wird zum Konsumenten, zum Botschafter, zum Entdecker

Mit der Erlaubnis, sich vom Arbeitsalltag zu entfernen, geht die Erlaubnis einher, sich einmal etwas zu erlauben, ohne dabei dieses und jenes, diesen oder jenen Menschen zu bedenken. Man wird "Chef" in ureigenster Mission. Mit dem Raumwechsel findet auch ein Rollenwechsel statt, selbst dann, wenn der Tourist das nicht will. Ist er im Arbeitsalltag an Weisungen gebunden und muss zu Diensten sein, so kann er am Urlaubsort zum Weisung Gebenden, zum Bedienten werden. In süd- und osteuropäischen, jedoch insbesondere in Ländern der Dritten Welt mit niedrigerem Bruttosozialprodukt verwandelt sich auf diese Weise auch die westliche Arbeiterschicht kurzfristig in eine ökonomische Elite. Der Urlauber erfährt dabei zwar eine Gastfreundschaft, doch sie ist schon lange nicht mehr "natürlich". Sie ist professionalisiert - eine ökonomische, entgeltliche Dienstleistung.

Der Urlauber, zumal der westliche städtische, bringt mit seinem Geld sein Denken, Handeln und Träumen (mithin das Lieben) in die entferntesten Winkel des Globus. Man kann und muss dies differenziert, wenn nicht als einen Verlust, so doch als eine Bedrohung der traditionellen sozialen Gefüge der "Bereisten", hinterfragen. Auf der anderen Seite importiert der Tourist auch Demokratie. Er schafft Verdienstmöglichkeiten, auch für weniger privilegierte Bevölkerungsschichten, und er bietet den "Bereisten" Lebensmodelle an, die gerade für die Jugend und die Frauen Vorbild und Chance sind, sich von lokalen Gefügen und Traditionen zu emanzipieren. Darüber hinaus trägt er mit seinem Verlangen, fremde Sehenswürdigkeiten zu betrachten, dazu bei, dass diese erhalten und nicht dem Zerfall oder der Zerstörung anheim fallen.

Interessanterweise wandelt der urlaubende "Otto-Normalbürger" auf den Spuren der wohlhabenden Stadtbürger früherer Generationen, die sich aufmachten, erst die Sommerfrische in den Bergen und am Meer zu genießen, um dann die Routen und Plätze der Kolonisatoren, Handelsreisenden, Missionare, Wissenschaftler und Pilger in der ganzen Welt kennen zu lernen. Die Bilder und Erzählungen, die sie mitbrachten, haben die Erwartungshaltung der nachfolgenden sozialen Klassen geprägt. Die Massenmobilisierung einerseits und die teilweise extrem niedrigen Lohnkosten des Dienstleistungspersonals in den Reiseregionen andererseits haben die ehedem elitäre Flucht aus dem Alltag zum Massenphänomen verwandelt. Heute kann man sich als "einfacher" Mensch den Urlaub erlauben und auch dort stehen, wo einst "große" Reisende oder die "Betuchten" standen: Urlauben ist ein relativ preisgünstig zu erwerbendes Status- und Prestigegut geworden. Zweifelsfrei ist dieser Aspekt der "Demokratisierung des Reisens" zum Großteil durch eine Ausbeutung von Arbeitskraft ermöglicht worden.

Erholung ist ein Massengut, die Orte sind längst austauschbar

Die verkehrte Welt des Urlaubens - als Urlauber ist man dominant, lässt man sich bedienen - ist heute eine Industrie mit all ihren charakteristischen Zügen. Der Urlauber nimmt die darin herrschenden Produktionsabläufe und Verhältnisse nicht wahr. Dass man ihm auf der Vorderseite stets willig zu Diensten ist und dies preisgünstig, sei es im Hotel, am Strand, im Restaurant oder auf dem Kreuzschiff, basiert auf einer "dunklen" Rückseite: Neben der beständig fortschreitenden Automatisierung und Standardisierung der Geschäftsprozesse und der Infrastrukturen wie Hotels und Restaurants führen brutale Personalkostensenkungen, Schwarzarbeit, latente kostengünstige Arbeitsverträge, migrantisches Personal, der globale Einkauf von billigen Waren, die kostensparende Vermeidung von Umweltauflagen sowie neuerdings die Erpressung der öffentlichen Hand ("Wenn es keine Vergünstigungen gibt, dann investiere ich nicht.") dazu, dass man sich den Urlaub selbst in konjunkturell schwierigen Zeiten als den Höhepunkt des Jahres leisten kann.

Diese Rückseite ist der Preis für die paradiesische Vorderseite der Urlaubsreise. Weil man in den Reiseregionen im Gegensatz zu früheren Zeiten weiß, dass sich der angekündigte Gast mit Sicherheit einfinden wird, bleibt Zeit und Raum, sich auf ihn verlässlich einzustellen. Die Reisedestinationen inszenieren für fremde Frauen, Männer, Kinder, seien sie Senioren, Abenteurer, Kulturbeflissene, "neue" Pilger, "Ökos", Wellnesssuchende, Mountainbiker, Skifahrer, Angler, Jäger, aber auch nur für Erholungssuchende das, was ihrem Geschmack und ihren Erwartungen entspricht. Diese infrastrukturelle Inszenierung verwandelt die Urlaubsräume zu thematischen Erlebnis- und Kulturlandschaften.

Das vermeintlich Authentische, "Echte" eines Urlaubsraumes verschwindet auf diese Weise, es kommt gar nicht mehr in das Blick- und Handlungsfeld des Urlaubers. Urlaubsregionen werden durch diese Anpassungen an die Gästewünsche geklont, ein Ort in den Alpen, an der Costa de la Luz, der Ostseeküste oder der türkischen Mittelmeerküste gleicht dem anderen. Diese Homogenisierung ist die beste Voraussetzung für Globalisierung, und daher überrascht es nicht, dass ortsfremde und infolgedessen ortsilloyale "Urlaubs-" und "Freizeitkonzerne" überall auf der touristischen Landkarte anzutreffen sind.

Dass wir als Urlauber diese Rückseiten ausblenden, ja gar nicht sehen wollen, liegt schlicht daran, dass wir im Urlaub eine andere Welt suchen als die des Alltags. Doch der Tourismus ist längst Teil des Alltags. Nicht nur der "Italiener" oder der "Thailänder" ist gleich um die Ecke. Sich von körperlicher oder nervlicher Anspannung zu erholen, einen "Adventure-Park" besuchen, im Freien zu sitzen und sich vom Gastronomiepersonal bedienen zu lassen oder einmal etwas für die Gesundheit durch sportliche Aktivitäten zu tun - all dies können wir in legerer Urlaubsbekleidung auch zu Hause. Der Tourismus hat auch die heimische Ökonomie verwandelt. Als urlaubende Menschen der relativ gut situierten Zweidrittelgesellschaft touristifizieren wir das Zuhause und erlauben es uns ungefragt, hier und jetzt anders zu sein und kleine Höhepunkte im Alltagstrott zu setzen.

Vor langer Zeit ist einmal gesagt worden, das ganze Elend der Welt rühre daher, dass wir nicht zu Hause bleiben wollen. Dass der Mensch aufbricht und sich einen neuen Raum aneignet, liegt in seiner Natur. Insofern können wir gar nicht anders, als Angestammtes zu verlassen und uns andernorts zu finden und zurechtzufinden. Schon wer liest, in den Kindergarten oder zur Arbeit geht, ist ein Reisender. In diesen Welten erfahren wir, dass es anderes gibt und wir anders sein können als zu Hause. Insofern ist Reisen revolutionär, zumindest emanzipatorisch. Es kommt nicht von ungefähr, dass diktatorische Staaten die Reisefreiheit verweigern, die von ihren Bürgern zutiefst gefordert wird. Es ist wie ein Hohn oder Fluch der Reisegeschichte, dass wir nun aus ökonomisch-globalen "Zwängen" angehalten werden, flexibel zu sein und andernorts in der Fremde einen Arbeitsplatz zu finden. Die damit auf Dauer gestellte und fremdbestimmte Reise wird das Zuhause zum Höhepunkt machen.

Zum Weiterlesen

Hasso Spode: Wie die Deutschen "Reiseweltmeister" wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte. Landeszentrale für politische Bildung Thüringen 2003. 160 Seiten, 2 Euro

Reinhard Bachleitner/Jürgen Kagelmann/Max Rieder (Hg.). Erlebniswelten.
Zum Erlebnisboom in der Postmoderne, München/Wien, Herold Verlag 2004, 230 Seiten, 23 Euro

Reinhard Bachleitner/Jürgen Kagelmann (Hg.): Städte, Kultur, Tourismus. Idee
und Visionen, Perspektiven und Lösungen. München, Herold Verlag 2002. 202 Seiten, 19,95 Euro

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