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Magazin Mitbestimmung

: Das überarbeitete Herz

Ausgabe 05/2004

Hans Böckler war ein schwer kranker Mann, als er sich 1951 mit Bundeskanzler Adenauer über die Montanmitbestimmung verständigte. In seinem letzten Lebensjahr glaubte der DGB-Gründer sich am Anfang einer weitgehenden Neuordnung der Wirtschaft.

Von Karl Lauschke
Dr. Lauschke ist Privatdozent an der FU Berlin. Er arbeitet als Böckler-Biograf am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum.
k.lauschke[at]dokom.net

"Bürger, nicht Untertanen wollen wir sein! Wollen mitraten, mittaten und mitverantworten in allen wichtigen Dingen des Lebens der Gemeinschaft. Vor allem in den Angelegenheiten der Wirtschaft unseres Volkes." Das hatte Hans Böckler am 14. Oktober 1949 auf dem Gründungskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in München unter dem Beifall der Delegierten erklärt. Er war zuversichtlich, die paritätische Mitbestimmung gesetzlich verankern zu können, nachdem die Bundesregierung angekündigt hatte, die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern "zeitgemäß" neu zu ordnen und sich dabei vom Grundsatz der "Gleichberechtigung" leiten zu lassen.
 
Einer staatlichen Bevormundung zog sie die Verständigung zwischen den Sozialpartnern selbst vor, und in einem Spitzengespräch, das Hans Böckler Mitte November 1949 mit Walter Raymond, dem Präsidenten der Vereinigung der Arbeitgeberverbände, führte, waren sich auch beide einig, über alle relevanten Fragen zunächst vertraulich zu verhandeln, ohne die Öffentlichkeit darüber zu unterrichten. Erst nach einer grundsätzlichen Einigung sollte das Parlament mit der gesetzlichen Regelung betraut werden.

Doch die Gespräche, die im Januar und März 1950 im malerischen Weinort Hattenheim im Rheingau geführt wurden, hatten keine Entscheidung gebracht. Zwar stimmten beide Seiten darin überein, der Bundesregierung die Errichtung eines Bundeswirtschaftsrates und die Bildung paritätisch zusammengesetzter Wirtschaftskammern vorzuschlagen, deren Befugnisse über die der Industrie- und Handelskammern sowie der Handwerkskammern hinausgehen sollten - über die betriebliche Mitbestimmung war jedoch kein Einvernehmen zu erzielen. Böckler teilte Bundeskanzler Konrad Adenauer deshalb am 5. April mit, "dass wir uns von weiteren Verhandlungen keinen Erfolg mehr versprechen können." Der DGB kündigte an, nun einen Gesetzentwurf vorzulegen und einen "propagandistischen Feldzug" zu starten, um die Öffentlichkeit für das Mitbestimmungsrecht in der Wirtschaft zu gewinnen.

Mitbestimmung als "heiliges Recht"

In der Rede, die Hans Böckler am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, in Braunschweig hielt, bezeichnete er die Mitbestimmung nicht nur als "heiliges Recht", er unterstrich auch, damit "niemandem, weder der Allgemeinheit noch der Unternehmerschaft, etwas Unbilliges zuzumuten". In dieser Ansicht sah er sich durch den Katholikentag in Bochum bestärkt, der die Mitbestimmung noch im September 1949 als "ein natürliches Recht in gottgewollter Ordnung" charakterisiert hatte. Mit geradezu feierlichen Worten bekräftigte Hans Böckler den Willen der Gewerkschaften, "hinauszugreifen in den Himmel und herabzuholen jene Rechte, die droben hängen, unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst": Er, der wegen der "widerwärtigen Heuchelei der meisten Frommen" keiner Kirche angehörte, wie er im Februar 1946 in einem Fragebogen angegeben hatte, scheute sich auch nicht, für die "offenen und versteckten Feinde der Arbeitersache" durchaus biblische Begriffe zu verwenden: "… diese Judasse, diese Kaiphasse, sie, die geschworenen Feinde jeder demokratischen Einrichtung…" Indirekt drohte der DGB-Vorsitzende mit Kampfmaßnahmen, vertraute er doch ganz der Kraft der Arbeitnehmer, "die, wenn es nicht anders sein kann, gewiß zu erzwingen vermag, was Unverstand und böser Wille der Arbeitnehmerschaft vorenthalten mögen."

Nach den Anstrengungen der zurückliegenden Wochen, in denen er quer durch die Bundesrepublik gereist war, ohne jedoch alle Termine wahrnehmen zu können, zu denen er als geschätzte Persönlichkeit eingeladen wurde, fuhr Hans Böckler am 3. Mai zur Erholung in ein Sanatorium am Tegernsee. Hier erlitt er innerhalb kurzer Zeit einige Herzanfälle, die ihn ans Bett fesselten und befürchten ließen, dass er nicht mehr auf seinen Posten zurückkehren konnte. Beunruhigt schrieb Else Klein, seine Sekretärin, die ihn aufopfernd betreute, an einen Bekannten: "Vieles unserer Sorgen und Mühen scheitert an seiner eigenen Mutlosigkeit und an seiner eigenen Überzeugung, dass er nicht wieder gesund werden wird, weil das so überarbeitete Herz nicht mehr mitmachen will. Aber allem ,Nichtmehrwollen‘ von seiner Seite setzen wir unser ,Müssen‘ entgegen; denn noch kann unsere deutsche Gewerkschaftsbewegung auf ihren Vorsitzenden nicht verzichten, und wenn er nur da ist mit seinem Rat und seiner großen Erfahrung."
Die Genesung machte nur langsam Fortschritte, aber Hans Böckler wurde immer ungeduldiger. Gegen den Rat der Ärzte nahm er am 23. August wieder seine Arbeit im DGB-Bundeshaus auf. Der Gewerkschaftsbund befand sich in einer schwierigen Lage, und Böcklers Anwesenheit schien unumgänglich. Pflichtbewusst wie er war, übernahm er wieder das Steuer. "Es ist nicht gut", schrieb er am 28. September einem Freund, "wenn der verantwortliche Mann zu lange fort ist. Du kannst dir denken aus welchen Gründen, und so bin ich denn dem Drängen meiner Kollegen gefolgt und nach Düsseldorf zurückgekehrt. Aber es heißt schon noch ein wenig kurz treten." Welche "Gründe" sprach Böckler hier an?

In der Öffentlichkeit war bereits damit gerechnet worden, dass er als Vorsitzender endgültig ausscheide; weiter vermutete man, dass sich innerhalb des Bundesvorstandes ein Machtkampf zwischen einem radikalen und einem gemäßigten Flügel abspiele und den DGB in einer wichtigen Phase der Auseinandersetzung um die Mitbestimmung möglicherweise entscheidungsunfähig mache. Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern, die unter Vermittlung des Bundesarbeitsministers Anton Storch zwischenzeitlich stattgefunden hatten, waren ergebnislos abgebrochen worden. Die Arbeitgeber lehnten eine paritätische Mitbestimmung ab; außerdem sperrten sie sich gegen den Einfluss, den die Gewerkschaften in den Vorständen und Kontrollorganen der Unternehmen für sich beanspruchten. "Betriebsfremden" Kräften wollten die Arbeitgeber auf keinen Fall Mitbestimmungsrechte zugestehen. Zudem machte die Bundesregierung mit einem Gesetzentwurf deutlich, dass sie sich in dieser Auseinandersetzung keineswegs neutral verhielt, sondern auf Seiten der Arbeitgeber stand. Selbst Arbeitsminister Storch, ein ehemaliger christlicher Gewerkschafter, glaubte, vor der Gefahr des "Kollektivismus" warnen zu müssen, wenn statt "Einzelpersönlichkeiten" Funktionäre bestimmten.

Die Gewerkschaften sind bereit, zu kämpfen

Unter diesen Bedingungen sah sich der DGB gezwungen, offensiver zu werden. Mit einer Kundgebung in Düsseldorf am 26. September informierte er die Öffentlichkeit noch einmal über die gewerkschaftlichen Forderungen und Absichten. Gerade ein Land der freien Welt wie die Bundesrepublik - so betonte Hans Böckler - dürfe sich nicht immer nur negativ von totalitären Systemen abgrenzen, sondern müsse etwas Positives dagegensetzen: "So wäre es nach unserem, der Gewerkschaften Dafürhalten endlich an der Zeit, dass die große Schicht der schaffenden Menschen in unserem Lande endlich ihre Anerkennung als gleichberechtigtes Glied der Wirtschaft und Gesellschaft fände. Nur ein lebenswertes Leben ist wert, auch verteidigt zu werden." Diese Feststellung konnte durchaus als Signal verstanden werden, die Außen- und Verteidigungspolitik der Bundesregierung zu unterstützen, falls im Gegenzug die Mitbestimmung garantiert wird. Zugleich aber schlug der Hauptredner der Versammlung, der sozialistische Theoretiker Viktor Agartz, besonders kämpferische Töne an, an denen christliche Kollegen später Anstoß nahmen. Er gab damit aber zu verstehen, wie entschlossen die Gewerkschaften seien, ihre Forderungen auch gegen größte Widerstände durchzusetzen.
Die Lage spitze sich immer mehr zu. In dem Maße, wie sich der DGB zu radikalisieren schien, wurden die Stimmen aus dem christlich-sozialen Lager lauter, die den DGB angriffen, weil er sich für sozialdemokratische Parteipolitik instrumentalisieren lasse, und die deshalb damit drohten, christliche Gewerkschaften zu gründen. An einzelnen Orten, wie etwa in Bottrop, kam es auch tatsächlich dazu. Auf der anderen Seite wurde der DGB jedoch von maßgebenden christlichen Kollegen unterstützt, allen voran Matthias Föcher, der stellvertretende DGB-Vorsitzende und enge Vertraute Hans Böcklers, der auf einer Konferenz am 14. November an die gesamte christliche Arbeitnehmerschaft appellierte, "mitzutun in unserer Bewegung und sich nicht abschrecken zu lassen vom Versuch, durch ständige negative Kritik immer wieder Misstrauen gegen die Gewerkschaft zu säen."

Die Auseinandersetzung eskalierte schließlich, als der Entwurf einer Durchführungsverordnung für das alliierte Gesetz Nr. 27 bekannt wurde, das vom Bundeswirtschaftsministerium ausgearbeitet worden war. Danach sollten in der Montanindustrie die alten Eigentumsverhältnisse wiederhergestellt und die seit 1947 eingeführte paritätische Mitbestimmung in den entflochtenen Werken der Eisen- und Stahlindustrie zurückgenommen werden. Die IG Metall wurde durch diesen Versuch der Restauration direkt herausgefordert und leitete umgehend Kampfmaßnahmen ein. In der Urabstimmung erklärten sich Ende November 98,9 Prozent der Mitglieder bereit, für den Erhalt der paritätischen Mitbestimmung die Arbeit geschlossen niederzulegen. In der IG Bergbau, die Mitte Januar 1951 eine Urabstimmung durchführte, stimmten 92,8 Prozent mit Ja. Damit drohte ab 1. Februar in diesen zentralen Industriezweigen ein Streik, der den wirtschaftlichen Wiederaufbau gefährdet und den sozialen Frieden nachhaltig gestört hätte. Allein in der Eisen- und Stahlindustrie hatten rund 200000 Arbeiter ihr Arbeitsverhältnis zum 31. Januar gekündigt, wie es die IG Metall ihren Mitgliedern empfohlen hatte, um mögliche Schadensersatzforderungen der Metallarbeitgeber zu vermeiden.

Personendiplomatie löst den Konflikt

In einem offenen Brief wies Konrad Adenauer Hans Böckler auf die Unzulässigkeit eines Streiks hin, da er sich "gegen die verfassungsmäßigen Gesetzgebungsorgane" wende. In seiner Antwort bezog sich Hans Böckler seinerseits auf das grundgesetzlich garantierte Koalitionsrecht, das, wie er argumentierte, keineswegs auf tarifvertragliche Probleme begrenzt sei, sondern auch die Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen einschlösse. Er sah sich durch ein internes Rechtsgutachten bestätigt, das der Kölner Arbeitsrechtler und spätere Präsident des Bundesarbeitsgerichts Hans Carl Nipperdey erstellt hatte. Nipperdey hatte Böckler und den DGB schon seit Kriegsende immer wieder juristisch beraten. Nach seiner Einschätzung war ein Streik durchaus zulässig, da der Bund gar nicht zuständig sei, weil die Neuregelung der Grundstoffindustrien unter alliiertes Recht falle und sich die gewerkschaftlichen Aktionen im Grunde gegen die unnachgiebigen Unternehmer richteten, die durch Kampfmaßnahmen gezwungen werden sollten, an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

Gelöst wurde der Konflikt schließlich durch direkte Gespräche zwischen Hans Böckler und Konrad Adenauer. Beide kannten sich schon seit den 20er Jahren, und im Laufe der Zeit hatten sie sich bei allen politischen und weltanschaulichen Differenzen, die sie trennten, gegenseitig achten und schätzen gelernt. Mit ihrer Entscheidung, beide gemeinsam am 4. Januar 1951 zu Ehrenbürgern zu ernennen, verband offenbar auch die Stadt Köln die Hoffnung, dass es zu einer gütlichen Einigung kommen werde. Hans Böckler verfolgte auch keine eigennützigen Verbandsinteressen, sondern war - wie er einem besorgten Studienrat schrieb, der ihn aus diesem Anlass in einem vertraulichen Brief inständig gebeten hatte, von einem Streik abzusehen - von der Verantwortung dem ganzen Volke gegenüber beseelt: "Die Einheit, die Einigkeit des deutschen Volkes vor der Gesamtaufgabe des deutschen Wiederaufbaus ist notwendig. Zu diesem Ziele ist das Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer in der Wirtschaft ein Weg. Es ist der einzige Weg, den wir unter Wahrung unserer Freiheit gehen können."

Nach schwierigen, kräftezehrenden Verhandlungen kam am 25. Januar eine grundsätzliche Einigung zustande, die für Hans Böckler "ein erster Schritt auf dem Wege zur Neuordnung der deutschen Wirtschaft" war. Voller Zuversicht erklärte er wenige Tage später im Rundfunk: "Wir stehen am Anfang einer neuen Wirtschaftsverfassung." Böckler hatte sich verbraucht - kurz nach dieser Erklärung wurde er erneut ins Krankenhaus eingeliefert. Sein gesundheitlicher Zustand hatte sich wieder verschlechtert, und nach einem erneuten Infarkt verstarb er am 16. Februar 1951, wenige Tage vor seinem 76. Geburtstag. Am 21. Februar wurde er auf dem Friedhof Melaten in Köln beigesetzt. Wie bei einem Staatsbegräbnis erwiesen ihm die höchsten Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die letzte Ehre.

Unter den 1200 Trauergästen, die sich in der Aula der Universität versammelten, waren die drei Hochkommissare John McCloy, André François-Poncet und Sir Ivone Kirkpatrick, der Bundespräsident Theodor Heuß, der Bundeskanzler, Ministerpräsidenten, Minister, die Vorsitzenden der politischen Parteien, die Spitzen der Arbeitgeberverbände und Vertreter ausländischer Gewerkschaften. Für zwei Minuten herrschte in fast allen Betrieben der Bundesrepublik Arbeitsruhe, und mehr als 14000 Menschen säumten den Weg zu seinem Grab. Im Bremer Weser-Kurier war als Nachruf auf Hans Böckler zu lesen: "Ja, wahrlich! Er war ,seinem Volke‘ ein zweiter Moses. Aus der ägyptischen Knechtschaft des Dritten Reiches führte er es durch Meer und Wüste der Nachkriegszeit bis zu einem Punkte, wo die deutsche, die westdeutsche Arbeiterschaft etwas erreicht hat, was der Arbeiterschaft noch keines Landes zu erreichen möglich war."


Vorankündigung

Anfang 2005 erscheint in zwei Bänden: Ulrich Borsdorf/Karl Lauschke: Hans Böckler. Die politische Biographie eines deutschen Gewerkschaftsführers.

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