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Noch bis vor Kurzem wurde künstliche Intelligenz (KI) mit Jobverlusten gleichgesetzt. Doch Arbeitnehmervertreter haben längst die Chancen der neuen Technologie erkannt. Magazin Mitbestimmung

Von ANDREAS SCHULTE: Das freundliche Gesicht der KI

Ausgabe 12/2018

Thema Noch bis vor Kurzem wurde künstliche Intelligenz (KI) mit Jobverlusten gleichgesetzt. Doch Arbeitnehmervertreter haben längst die Chancen der neuen Technologie erkannt.

Von ANDREAS SCHULTE

Tamim Asfour geht mit dem zwölfjährigen Armar hart ins Gericht. „Das ist aber heute nicht so gut“, mäkelt der Professor, dessen plötzliche Strenge die versammelten Altstipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung überrascht. Bis vor einigen Augenblicken hat Armar noch aufs Wort gehorcht, seinen Küchendienst tadellos geleistet. Es gelang ihm mit einigem Geschick, Popcorn anzureichen und behäbig Milch aus dem Kühlschrank zu holen. Mit seiner Unbedarftheit erobert Armar die Herzen der Anwesenden in der Küche des Karlsruher Institute of Technology (KIT) in Windeseile.

Armar aber kriegt davon nichts mit. Er steht still da und starrt in die offene Spülmaschine. Den grünen Becher hineinzustellen, wie ihm vom Professor geheißen, gelingt ihm nicht, obwohl er die Spülmaschine zuvor eigenständig erkannt und geöffnet hat. Plötzlich macht sich der Professor Sorgen, fachmännisch untersucht er Armars Schulter. Die Diagnose kommt prompt: „Wackelkontakt.“ Zwei Handgriffe nur, ein Schulterklopfen, und Armar ist in Sekundenschnelle wieder fit. Kurze Zeit später steht der Becher – wenn auch schief – im Geschirrspüler. Einige Stipendiaten applaudieren.

Armar, der rührige humanoide Roboter am KIT, wo sich Mitte Oktober einige Dutzend Altstipendiaten zum Netzwerktreffen MINT eingefunden hatten, deutet an, wie sich die Arbeitswelt von morgen verändern wird. Denn zunehmend übernehmen selbstlernende Maschinen Arbeitsaufgaben. Dank künstlicher Intelligenz lernen sie eigenständig, ihr Arbeitsprofil zu verbessern – so wie Armar, dem einmal gesagt wird, wie eine Spülmaschine aussieht, der aber dann auch andere Modelle erkennt und bedient. Zwei Dekaden noch, so schätzt Robotik-Professor Asfour, dann könnten sprachgesteuerte Roboter wie Armar das Personal in Großküchen entlasten, indem sie dort die körperlich anspruchsvollen Arbeiten erledigen.

Das Netzwerktreffen MINT (Mathematik-, Informatik-, Naturwissenschaft- und Technik-Fächer) ist eine Veranstaltung für Altstipendiaten der Stiftung, in der sich dieses Jahr im Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit dem Thema „Künstliche Intelligenz“ beschäftigt wurde.

Ob durch die Übernahme solcher Arbeiten, durch die Schaffung neuer Arbeitsfelder oder durch automatisierte Wissensvermittlung – immer deutlicher treten die Chancen von künstlicher Intelligenz zutage. Die Vertreter der Arbeitnehmerseite entwickeln längst Strategien, künstliche Intelligenz in ihrem Sinne zu nutzen.

Beispiel IG Metall

„Auch wenn der Einsatz von künstlicher Intelligenz in unserem Organisationsbereich noch am Anfang steht, sehen wir schon jetzt, dass es in vielen Betrieben in fast allen Bereichen Überlegungen und erste Ansätze gibt, wie KI-Anwendungen die Arbeit unterstützen oder ganz übernehmen können“, sagt die Zweite Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner. Der Kerngedanke ist positiv: „KI-Systeme sollen Beschäftigte entlasten und Freiräume für höherwertige Tätigkeiten schaffen. Sie sollen die Beschäftigten bei ihren Aufgaben unterstützen und Entscheidungen vereinfachen“, heißt es in einem Thesenpapier der Gewerkschaft. Derzeit diskutieren die Mitglieder, wie dies gelingen kann.

Die IG Metall engagiert sich zudem als einer von neun Konsortialpartnern im Projekt SmartAIwork. Ziel des Forschungsprojekts – an dem sich auch ver.di beteiligt – ist es, Potenziale von künstlicher Intelligenz zur Unterstützung von Büroarbeit zu identifizieren und sie mit einer humanen Arbeitsgestaltung zu verbinden.

Benner hat indes einen Fünf-Punkte-Plan für innovative Mitbestimmung in der Industrie 4.0 vorgeschlagen und will flächendeckend einen sogenannten Betriebsatlas über die Auswirkungen der Digitalisierung und die Einsatzmöglichkeiten von KI ausrollen. „Wir wollen in jedem Betrieb vermessen, in welchen Bereichen und Abteilungen digitale Technik eingeführt wird, damit Betriebsräte und Beschäftigte wissen, was bei ihnen in Sachen Digitalisierung geschieht“, sagt Benner. Mithilfe der Erkenntnisse sollen Beschäftigte für die Aufgaben, die durch künstliche Intelligenz entstehen, qualifiziert werden.

Notwendigkeit Qualifizierungsoffensive

In Deutschland verfügen derzeit nur 46 Prozent der Arbeitskräfte über das nötige Fachwissen für die Jobs der Zukunft – eines der Ergebnisse der Studie „Die Zukunft der Arbeitsplätze 2018“ des Weltwirtschaftsforums (WEF), für die Personalverantwortliche befragt wurden. Benner weist daher auf die Notwendigkeit einer Qualifizierungsoffensive hin. Man rechne mit „einer Verschiebung zu mehr analytischer und prozessorientierter Arbeit“, heißt es bei der Gewerkschaft. Einen Trend zum Arbeitsplatzabbau durch künstliche Intelligenz könne man in den eigenen Branchen nicht erkennen.

Tatsächlich schlägt weltweit und über alle Wirtschaftszweige hinweg ein prognostiziertes Plus von 58 Millionen Arbeitsplätzen zu Buche. Zu diesem Schluss kommt zumindest das WEF in seiner Studie. Bis 2022 sollen demnach 133 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden, denen 75 Millionen verdrängte Posten gegenüberstehen. Auch die Wirtschaftsprüfer von PricewaterhouseCoopers schätzen, dass das weltweite Bruttosozialprodukt durch KI-Technologien bis ins Jahr 2030 um 14 Prozent wachsen könnte.

Wegfallen werden laut der WEF-Studie leichte und wiederholende Tätigkeiten in der Industrie und in Büros. Sie würden von Robotern und lernender Software übernommen. „Viele neue Tätigkeiten dürften sich hingegen damit beschäftigen, neue Technologien einzuführen und zu kontrollieren“, sagt Studienleiter Till Leopold. So habe bereits auch die Entwicklung von Apps für Smartphones in Europa mehr als zwei Millionen Stellen geschaffen. Diese Entwicklung wiederhole sich nun mit künstlicher Intelligenz, vermutet KIT-Professor Asfour. „Jeder, der hier in Karlsruhe Robotik studiert, bekommt einen Job“, sagt er. Erst kürzlich sei ein Absolvent von einem amerikanischen Unternehmen weggelockt worden. Anfangsgehalt: umgerechnet 300 000 Euro.

Beispiel IG BCE

Ende Oktober hat erstmals die „Zukunftskommission Digitale Agenda“ der Gewerkschaft IG BCE getagt. Das 35-köpfige Gremium wird in den kommenden zwei Jahren eine Agenda zur digitalen Transformation in Arbeit und Gesellschaft erarbeiten. „Wir müssen die digitale Transformation chancenorientiert betrachten“, so Vorstand Francesco Grioli in einer Pressemitteilung der Gewerkschaft. „Beschäftigte müssen zu einer treibenden Kraft des digitalen Wandels werden, anstatt sich von ihm treiben zu lassen.“ Vor allem beim Arbeitsschutz schlummern in den Branchen der IG BCE Potenziale. So könnten mithilfe von systematischen Datenauswertungen mögliche Schadstoffbelastungen im Berufsalltag besser analysiert werden, sagt Grioli.

Beispiel ver.di

Auch ver.di stellte kurz vor Beginn des Digital-Gipfels der Bundesregierung, der dieses Jahr den Titel „Künstliche Intelligenz – ein Schlüssel für Wachstum und Wohlstand“ trägt, ein eigenes Positionspapier vor. ver.di-Bundesvorstandsmitglied Lothar Schröder machte in einer Pressemitteilung deutlich, dass die Umbrüche, die in Unternehmen und der Gesellschaft stattfinden, demokratisch gestaltet werden müssten. „Uns geht es neben der Debatte um eine Nützlichkeitsvision der KI vor allem um soziale und ethische Standards“, so Schröder. Dementsprechend wird ver.di 2019 bei ihrem jährlich stattfindenden Digitalisierungskongress das Thema KI auch zum Schwerpunkt machen.

Beispiel Hans-Böckler-Stiftung

Die Stiftung unterstützt rund ein halbes Dutzend Projekte zum Thema. Eines davon heißt „Diskriminierung durch künstliche Intelligenz“ und wird durch ein Forscherteam der Hochschule für Technik in Berlin durchgeführt. Die Vision: vorurteilsfreie Entscheidungen, unterstützt durch künstliche Intelligenz. „Wir haben bereits bei der Ausschreibung von Ideenwettbewerben den Anspruch formuliert, dass nicht nur negative Aspekte der künstlichen Intelligenz erforscht werden, sondern auch ihre positiven Nutzungsmöglichkeiten“, erklärt Stefan Lücking, Referatsleiter Forschungsförderung.

„Bislang ist es häufig so, dass intelligente Software verschiedene statistische Verfahren an den verfügbaren Daten durchspielt, um zu erkennen, welches die beste Voraussage ermöglicht. Das führt aber dazu, dass Algorithmen Vorurteile von Menschen reproduzieren“, sagt Lücking. Die Software erkennt so zum Beispiel einen negativen Zusammenhang zwischen dem Merkmal „Geschlecht: weiblich“ und Führungspositionen, weil bislang weniger Frauen als Männer in Chefetagen angekommen sind. Die Folge: Bei der nächsten Besetzung eines Chefpostens schlägt die Software erst gar keine Frau vor.

Algorithmen gelten als KI, wenn sie fähig sind, selbstständig zu lernen. Dies wird auch als maschinelles Lernen bezeichnet und umfasst Technologien wie automatische Bild-, Text- und Spracherkennung oder autonomes Fahren.

Ziel des Berliner Projekts ist es unter anderem, zu erforschen, wie Algorithmen helfen können, Personalentscheidungen vorurteilsfrei zu fällen – mit Chancen für die Mitbestimmung: „Algorithmen berechnen zum Beispiel Vorschläge, ein Arbeitsteam so zusammenstellen, dass es besonders gut zusammenarbeitet. Das könnten Betriebsräte nutzen, um Karrierehürden aufzubrechen“, sagt Lücking.

Auch sogenannte Legal Technology könnte Betriebsräten unter die Arme greifen. Schon jetzt hilft eine automatisierte Rechtsberatung bei einfachen Prozessen, etwa wenn Verbraucher eine Entschädigung bei Flugverspätungen erstreiten. Das Berliner Start-up Abfindungsheld hat im vergangenen Jahr eine Software entwickelt, die gekündigten Arbeitnehmern automatisiert möglichst hohe Abfindungen erstreiten soll. Dazu fragt sie alle notwendigen Daten des Arbeitnehmers ab und vergleicht diese mit ähnlichen Fällen. Der Gang zum Rechtsanwalt entfällt für den gekündigten Arbeitnehmer. Ein Algorithmus entscheidet stattdessen über die Erfolgsaussichten einer Klage. Auf ähnliche Weise könnte Legal Tech Gewerkschaften und Betriebsräten helfen, Arbeitnehmer rechtlich zu beraten.

Die Bundesregierung hat das Thema KI ebenfalls auf ihre Agenda gesetzt und kürzlich ein Strategiepapier namens „AI made in Germany“ veröffentlicht. Dort wird unter anderem festgehalten, dass sowohl die „Einbeziehung und Partizipation der Beschäftigten bei der Entwicklung und Einführung spezifizierter Anwendungen von großer Bedeutung“ sind und die Bundesregierung weiterhin „die betrieblichen Mitbestimmungsmöglichkeiten bei der Einführung und Anwendung von KI sichern“ wird.

Klar ist: An dem Thema künstliche Intelligenz kommt zukünftig kaum jemand vorbei.

Aufmacherfoto: Wolfgang Roloff

WEITERE INFORMATIONEN

Künstliche Intelligenz verändert die Joblandschaft:

Stellenzuwächse: Datenanalysten, Wissenschaftler, Software- und Anwendungsentwickler sowie E-Commerce- und Social-Media-Spezialisten. Auch Funktionen, die ausgeprägte „menschliche Fähigkeiten“ erfordern, wie Verkaufs- und Marketingberufe, Innovationsmanager und Kundendienstmitarbeiter, werden zunehmend nachgefragt.

Stellenabbau: Zu den Stellen, die voraussichtlich überflüssig werden, gehören die Routinejobs von Büroangestellten wie von Sachbearbeitern für Datenerfassung, Buchhaltung und Lohnbuchhaltung und Leichte Tätigkeiten in der Industrie.

Quelle: World Economic Forum

Strategiepapier der Bundesregierung zum Download plus weiterer Informationen

Forschungsprojekt der Hans-Böckler-Stiftung „Diskriminiert durch Künstliche Intelligenz“

Interview: Frau Zweig, was können Computer besser, und was Menschen?

Einsatz von Algorithmen: Was sagen die Gewerkschaften?

 

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