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Schild mit Aufschrift 'Haus der Selbständigen' Magazin Mitbestimmung

Selbstständigkeit: Damit Einzelkämpfer gemeinsam kämpfen

Ausgabe 03/2023

Mit dem Haus der Selbstständigen in Leipzig geht die Gewerkschaft Verdi neue Wege, um Soloselbstständige zu vernetzen. Von Jeannette Goddar

Nahezu zwei Millionen Menschen in Deutschland arbeiten solo-selbstständig; als Honorar-Lehrkräfte oder Filmschaffende, IT-Experten oder Clickworker, Designer, Handwerker, Fitnesstrainer und vieles mehr. Tarifverträge gelten nur in Ausnahmefällen, ihre Sozialversicherungen müssen die meisten selbst organisieren. Der Mindestlohn greift nicht. Viele kennen nur ihren eigenen Stundenlohn und wissen nicht, wo sie damit in ihrer Branche liegen. Nur wenige sind in Verbänden oder Netzwerken organisiert. Auch wenn immerhin 30 000 Selbstständige Mitglied bei Verdi sind – ihr gewerkschaftlicher Organisationsgrad ist niedrig.

Seit 2020 geht die Dienstleistungsgewerkschaft neue Wege, um Selbstständige zu vernetzen, zu organisieren und zu stärken. Verdi ist Projektpartnerin des „Hauses der Selbstständigen“ in Leipzig; Trägerin ist die Verdi-Tochter INPUT. Passend zu seiner Eröffnung mitten in der Pandemie, hat das Haus einen realen wie einen virtuellen Standort. Wer sich nach Leipzig aufmacht, findet eine Büroetage mit Raum für Gruppen, digitale Veranstaltungen und sieben Arbeitsplätzen.  Im Internet gibt es einen Wissenspool, Onlinekurse zu Verhandlungsführung und Honorarberechnung, eine Ombudsstelle.

Das Haus der Selbstständigen steht nicht nur Gewerkschaftsmitgliedern offen, erklärt die Leiterin Gerlinde Vogl:  „Wir wollen Anlaufstelle für Netzwerke und Verbände sein, Interessen bündeln, Transparenz schaffen und so die kollektive Durchsetzungsmacht erhöhen.“ Wie Letzteres gehen könnte, stand im Zentrum eines Fachsymposiums mit dem Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht (HSI), das die Direktorin Johanna Wenckebach eröffnete: „Auch für Soloselbstständige ist kollektives Handeln entscheidend. Nicht alle arbeitenden Menschen sind abhängig beschäftigt“, erklärte Wenckebach. Erörtert wurde eine neue EU-Leitlinie, die Soloselbstständigen unter Umständen erlaubt, sich zu kollektiven Verhandlungen zusammenzuschließen. Bisher steht dem das Wettbewerbsrecht entgegen. 

Für erste Transparenz sorgte das Haus der Selbstständigen mit einer Honorarumfrage unter Soloselbstständigen. Die Stundensätze in den verschiedenen Branchen liegen zwischen 5,28 Euro und 360 Euro; nahezu ein Drittel der Befragten hatte keine Altersvorsorge. Wichtige Ergebnisse etwa für die Arbeit von Gunter Haake vom Verdi-Referat Selbstständige: „Nur mit guten Zahlen aus den Branchen können wir politisch arbeiten.“ Gemeinsam mit Referatsleiterin Veronika Mirschel setzt Gunter Haake sich seit Langem für Selbstständigen-Arbeit ein.

Schon vor mehr als 20 Jahren nahmen die beiden einstigen Studienkollegen an der Deutschen Journalistenschule die Beratung freier Medienmenschen auf. „Seit wir im Jahr 2000 unter dem Dach der IG Medien mit dem „Mediafon“ eine damals einmalige Beratung aufbauten, wissen wir, wie wichtig Netzwerkarbeit ist“, konstatiert Haake. Bei Verdi wurde das Mediafon zum Beratungsnetz Selbststaendigen.info ausgebaut. Ausweiten kann auch das Haus der Selbstständigen seine Arbeit. In einer zweiten Projektphase finanzieren das Bundesarbeitsministerium und der Europäische Sozialfonds den Aufbau dreier weiterer Häuser in Berlin,  Hamburg, Köln.

„Ich wollte die Lage nicht hinnehmen."

  • Textildesignerin Anna Spenn vor einem Schild mit Aufschrift Geld
    Anna Spenn, Designerin für Kleidung und Kostümbild

Ich mache Upcycling-Kleidung. Das bedeutet: Menschen bringen mir getragene Sachen und bitten mich, etwas Neues daraus zu machen. Mein Honorar kann ich nur teilweise nach Aufwand kalkulieren. Brauche ich dringend einen Auftrag, muss ich meine Preise senken. Eigentlich kann ich mir das nicht leisten; hochwertige Handarbeit  benötigt Zeit – und auch Erfahrung.

Damit geht es mir wie vielen anderen Selbstständigen in meiner Branche. Die Lage ist so schlecht, dass sich viele ganz bewusst nicht ausrechnen wollen, was sie für eine Stunde bekommen; und wie eine Kalkulation aussehen müsste, in der Krankengeld, Urlaub, Rente eingerechnet sind.

Wenn wir unter uns Selbstständigen nicht einmal Stundensätze ansprechen können, wird es ungeheuer schwierig, sich zu organisieren. Auch können viele es sich zeitlich kaum leisten, sich zu engagieren.  Eine Lage, in der alle zu wenig verdienen und niemand darüber spricht, wollte ich dennoch nicht hinnehmen. Also habe ich vor einigen Jahren mit einem freien Träger Gelder für einen Kongress eingeworben und anschließend eine Initiative für Handarbeit und nachhaltige Textilien namens #engmaschig gegründet. Mit einer Kollegin habe ich eine Performance entwickelt. Wir stricken Geld, um darauf aufmerksam zu machen, dass man von der Vergütung für textile Handarbeit nicht leben kann. Schon zwei Mal sind wir bei Verdi-Veranstaltungen aufgetreten, zuletzt bei der 1.-Mai-Demo auf dem Alten Markt in Leipzig.

Weil die Themen endlos sind, habe ich auch noch eine Initiative von und mit freiberuflich tätigen Müttern und Vätern ins Leben gerufen, die sich im Haus der Selbstständigen trifft. Denn wir haben zwar Anspruch auf Elterngeld, das sich an dem vorangegangenen Jahreseinkommen bemisst. Doch kaum jemand beantragt mehr als das Basiselterngeld. Wenn 100 Prozent kaum zum Leben reichen, sind 70 Prozent, zu denen man nichts hinzuverdienen darf, zu wenig. In meinem Bekanntenkreis arbeiten Freiberuflerinnen und Freiberufler deswegen auch möglichst weiter, wenn ein Kind kommt.

„Wir sind keine Paradiesvögel"

  • Roman Klink, Drehbuchautor und -lektor auf einer Treppe
    Roman Klink, Drehbuchautor und -lektor

Ich bin Freiberufler aus tiefstem Herzen. Nach sechs Jahren bei einer großen Filmeinkaufsfirma habe ich mich  für die Selbstständigkeit entschieden. Als Drehbuchautor und -lektor wollte ich einfach selbst etwas schaffen, anstatt den Output anderer Menschen zu verwalten. Heute arbeite ich für ganz unterschiedliche Auftraggeber. Meist werde ich auf Basis von Projektkalkulationen bezahlt, gelegentlich nach einem Stundensatz. Sozialversichert bin  ich über die Künstlersozialkasse, die den Arbeitgeberanteil meiner Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung bei meinen Kunden eintreibt.

Insofern haben wir künstlerisch tätigen Selbstständigen einen Vorteil. Für alle anderen Freiberufler klafft in der Sozialversicherung eine Lücke, die mich wirklich umtreibt. Mich ärgert ein Vorurteil, das ich in der Coronazeit noch häufiger gehört habe, auch von politisch Verantwortlichen: „Selbstständige zahlen nicht in die Sozialkassen ein, sind also nicht Teil der Solidargemeinschaft, warum sollten sie unterstützt werden?“ Zum einen weiß niemand, ob das stimmt – wie viele Soloselbstständige sich freiwillig versichern, wird nirgends erhoben.

Zum anderen leuchtet aber auch nicht ein, warum sich Selbstständige auch noch allein in dem Wildwuchs der Versicherungsangebote zurechtfinden sollen. Abhängig Beschäftigte müssen nichts tun, um Mitglied der Solidargemeinschaft zu werden. Ihr Arbeitgeber zieht ihre Beiträge einfach vom Gehalt ab. Als Selbstständige erledigen wir neben unserer eigentlichen Arbeit auch noch alles von der Akquise bis zur Buchhaltung. Und nun sollen wir noch überlegen, wie wir uns der Solidargemeinschaft annähern können? Das ist, Entschuldigung, nicht unser Job. Das muss die Politik lösen. Es gibt 1,9 Millionen Selbstständige, wir sind weder Paradiesvögel noch Sonderfälle. Dass wir so viele sind, habe ich übrigens jüngst bei einer Tagung vom Haus der  Selbstständigen und dem Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung erfahren. Den Besuch habe ich von meiner Arbeitszeit abgeknapst. Verdi-Mitglied bin ich schon seit 20 Jahren – schlicht, weil ich schon immer dachte, es ist gut, zu wissen, wo ich mich im Zweifel beraten lassen kann.

„Entwicklungsland bei Honoraren“

  • Dozent Karl Kirsch
    Karl Kirsch, Honorarlehrkraft für Integrationskurse

Ein Drittel meines Berufslebens als Erwachsenenbildner habe ich in Spanien verbracht. Nach zwölf Jahren dort war ich bei meiner Rückkehr 2007 nach Deutschland entsetzt. In puncto Entlohnung von Honorarlehrkräften fand ich ein Entwicklungsland vor. Stundenlöhne von elf Euro waren keine Seltenheit. Ich erinnerte mich meiner gewerkschaftsnahen Familie und engagierte mich bei Verdi in der Landes- und auch in der Bundeskommission Selbstständige. So kam es auch, dass ich mich 2022 mit Gesicht und Namen an einer Honorarumfrage des Hauses der Selbstständigen beteiligt habe. Transparenz ist ein wichtiger Schritt im Kampf um eine gerechte Bezahlung. Je weniger bekannt Honorare sind, desto mehr Menschen verkaufen sich unter Preis.

Ich selbst arbeite in einem der wenigen Bereiche, in denen die Bezahlung geregelt ist. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge müssen Honorarlehrkräfte in Integrationskursen 42,22 Euro pro Unterrichtsstunde bekommen; inklusive Vor- und Nachbereitung. Bezahlt werde ich dafür, dass ich Menschen, die noch nicht lange in Deutschland leben, helfe, sich in der ihnen fremden Sprache auszudrücken. Eine wichtige Arbeit für die Gesellschaft. Es leuchtet mir nicht ein, dass sie weniger wert sein soll als etwa die Arbeit von IT-Experten. Wie viele andere Freie arbeite ich immer für dieselbe Volkshochschule. Wir sind also arbeitnehmerähnlich beschäftigt. Darauf weisen wir als Gruppe aktiver VHS-Dozentinnen und -Dozenten immer wieder hin. Wer so arbeitet, sollte eine Festanstellung einfordern können – vorausgesetzt, er oder sie will es.

Ich selbst arbeite gern selbstständig – allerdings nicht zu einem Stundensatz, der schlicht nicht existenzsichernd ist. Meine monatliche Rente, die ich seit Kurzem beziehe, liegt nach 36 Beitragsjahren bei 372,33 Euro, obwohl ich fast genauso viel unterrichtet habewie eine schulische Lehrkraft. Um wie diese auf E 12/E 13 zu kommen, müsste mein Stundensatz indes bei 70 bis 80 Euro liegen. Nur so käme ich auch auf eine Rente von über 1000 Euro. Das stelle ich am Ende meines Berufslebens fest – ebenso wie ich schmerzlich bemerke, dass das Hamsterrad Lehre mir nie ermöglichte, meine Selbstständigkeit wirklich zu entwickeln und noch ein zweites Standbein aufzubauen.

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