Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungLogistik: Countdown zum Kunden
Der Onlinehandel lässt die Paket- und Logistikbranche boomen. Die Arbeit der Zusteller ist von einer Kultur der „Sofortness“ und hohem Zeitdruck geprägt. Dafür gibt es meist nur wenig Geld. Von Karin Hirschfeld
Brian ist schon unterwegs. Als roter Punkt eilt der Paketbote über den Stadtplan. Der Kunde kann seinen Weg live am Display verfolgen. Noch 14 Pakete hat Brian abzuliefern, bevor er da ist. Schließlich die letzte Ankündigung: Noch eine Viertelstunde. Falls der Paketempfänger nun doch das Haus verlassen muss, kann er immer noch umdisponieren. Re-Routing nennen die Logistiker das: die Zustellung an den Lieblingsnachbarn, an den Paketshop – oder doch lieber am nächsten Tag. „Follow my parcel“ – mit diesem Motto wirbt der Paketdienst DPD für einen Service, den es seit Sommer in Großbritannien gibt und voraussichtlich ab Mitte 2014 auch in Deutschland. Dem Kunden verspricht er eine Lieferung in kleinem Zeitfenster und die Möglichkeit, sich fast bis zum letzten Moment umzuentscheiden.
In Berlin-Wedding hingegen ist die Welt, was die Technik angeht, noch ganz einfach, zumindest beim Express-Boten Jaroslaw Novak*. Für seinen Schwager, einen Subunternehmer von DHL Express, fährt er Pakete aus. Zehn Stunden Arbeit sind das mindestens. Express bedeutet Eile und garantierte Lieferzeiten. Die Ausstattung ist noch Low-Tech: „Mein Telefon und der Scanner, das ist alles.“ Ob in seinem Wagen ein GPS-System eingebaut ist? Keine Ahnung. Dass sein Arbeitgeber ihn technisch überwachen könnte, bezweifelt er. „Das läuft eher so, dass ein Kunde mal bei DHL anruft, weil wir zu spät dran sind. Dann erhält mein Chef eine Nachricht und droht mit Gehaltsabzügen.“ Bisher, sagt er, sei es dazu aber nie gekommen.
DAS 31,5 KILO-PAKET FÜR 4,90 EURO
Die Paketbranche boomt – angeschoben durch den Internethandel. Im Jahr 2012 stiegen nach Erhebungen des Bundesverbandes des Deutschen Versandhandels (bvh) allein die Umsätze durch den E-Commerce um gut 27 Prozent. Der Versandhandel hat ein Volumen von fast 40 Milliarden Euro erreicht. Fast jeder zehnte Euro, der im Einzelhandel ausgegeben wird, geht an Versandhändler. Jedes Paar Schuhe, jedes Notebook, das im Netz bestellt wird, muss zum Kunden – und wieder zurück, wenn die Ware nicht gefällt. Inzwischen stammt die Hälfte des Paketaufkommens aus Lieferungen an Privatleute.
Anbieter wie die Deutsche Post AG und ihre Tochter DHL Express sowie eine Reihe von Wettbewerbern wie DPD, UPS, GLS oder Hermes profitieren vom Boom. Neben den Lieferungen selbst spielen auch Retouren eine große Rolle. Gerade bei Kleidung wird ein großer Teil der Waren anprobiert und zurückgeschickt. Doch der Erfolg bereitet den Dienstleistern auch Kopfzerbrechen. Der Preisdruck ist hoch. Seit Jahren lassen sich keine Preiserhöhungen mehr durchsetzen, der Erlös pro Sendung war zuletzt leicht rückläufig. Gerade die großen Versandhändler wie Amazon oder Zalando drängen auf immer niedrigere Kosten für ihre Pakete. Das Portal ZVAB, auf dem Antiquare historische Bücher anbieten und dass zum Amazon-Reich gehört, gibt DHL-Paketmarken für Sendungen bis 31,5 Kilo für gerade mal 4,90 Euro an seine Mitglieder weiter. Ein Privatkunde muss am Schalter für die gleiche Marke 13,90 Euro auf den Tisch legen.
Doch private Endverbraucher sind keine leichte Klientel. Ihre Versorgung erfordert eine andere Logistik als die von Geschäftskunden. Einerseits haben Privatkunden es eilig, ihre Onlinebestellung in Händen zu halten, andererseits sind sie werktags kaum zu Hause. Wer sich nicht am Arbeitsplatz beliefern lassen darf, auf Nachbarn vertrauen kann oder die Angebote von Paketshops oder Packstationen nutzt, wird selbst zum Logistikproblem. Denn mehrfache Zustellversuche bedeuten für die Lieferanten ein Minusgeschäft. Daher gibt es viele Versuche, neue Zustellkonzepte zu entwickeln, das Geschäft flexibler und effizienter zu machen.
TRACKING BEDEUTET AUCH KONTROLLE
Um die Besonderheiten der Privatkundschaft in den Griff zu bekommen, experimentieren die Anbieter mit der Zustellung am Abend oder am Wochenende. So hat die Deutsche Post begonnen, in einigen Großstädten Standardpakete auf Wunsch zwischen 18 und 22 Uhr abends abzuliefern. Für diese späten Touren werden zusätzliche Arbeitskräfte engagiert. Auch eine genauere Vorankündigung der Sendung gehört zum Konzept. Um größere Paketmengen zu bewältigen, investiert das Unternehmen erheblich in seine IT-Infrastruktur. Fast alle Anbieter experimentieren mit Systemen, die dem „Follow my parcel“-System von DPD ähneln. Es geht um die intelligente Verknüpfung der Kundenwünsche mit der Zustelllogistik.
Hinter der grafischen Darstellung der Paketroute in Echtzeit und dem Re-Routing bis kurz vor der Zustellung steckt eine ausgeklügelte Technik. „Die Tour des Fahrers ist in seinem Handscanner hinterlegt und wird automatisch geändert, wenn ein Empfänger kurzfristig umdisponiert“, erklärt Peter Rey, Sprecher von DPD. Das sei nötig, um die Routen kalkulierbar zu machen. Um die Vorhersagegüte zu erhöhen, wandert mehr Logistik-Intelligenz vom Paketboten in das System. Bisher konnten die Fahrer ihre Touren weitgehend selbst planen. Damit wäre es dann vorbei. Dem Zusteller dürfte es einserseits recht sein, nicht umsonst beim Kunden vorzufahren. Aber nicht nur die Kunden schauen dem Paketboten dann dank des elektronischen Bewegungsmelders bei der Arbeit zu, sondern auch der Arbeitgeber.
Schon jetzt erhalten Zusteller, deren Fahrzeuge mit GPS ausgestattet sind, bei Abweichungen vom Plan mitunter einen Anruf aus der Zentrale.„Für den Zusteller bringen solche Systeme zusätzlichen Stress“, kommentiert Sigurd Holler, bei ver.di in Rheinland-Pfalz zuständig für Postdienste, Speditionen und Logistik, das Live-Tracking. Falls dem Boten auf den letzten Metern unvorhergesehene Baustellen oder schwer entzifferbare Klingelschilder in die Quere kommen, wird es am Steuer ungemütlich. Denn die moderne Technik ermöglicht nicht nur die Sendungsverfolgung, sondern auch Verhaltens- und Leistungskontrollen. „Wir hören öfter, dass Subunternehmer solche Daten auswerten, um das Verhalten der Paketboten zu kontrollieren“, sagt Sigurd Holler. In Lkws von Speditionen kommen heute schon Systeme zum Einsatz, die die Überwachung von Bremsverhalten, Spritverbrauch oder Fahrtempo ermöglichen. Logistik-Experte Holler befürchtet, dass am Ende der Entwicklung der „gläserne Fahrer“ stehen könnte. „Die Risiken werden am Anfang oft unterschätzt. Und dann merkt man, was alles machbar ist.“ Wo es keine Betriebsräte gibt, entscheiden die Arbeitgeber im Alleingang.
SUBUNTERNEHMER STATT ARBEITNEHMER
Nicht nur, dass die Fahrer immer enger an das IT-System ihrer Unternehmen angebunden sind. Auch der Status des Arbeitnehmers verschwindet – zugunsten von Freiberuflern oder Subunternehmern. Das Outsourcing erschwert die Interessenvertretung der Beschäftigten. So erledigt DHL Express die gesamte Zustellung mit Fremdfirmen. Anders die Paketsparte der Deutschen Post. Dort ist mit ver.di vereinbart, maximal 990 Zustellbezirke nach außen zu vergeben; den Beschäftigten wird hier ein vergleichsweise hohes Gehalts- und Schutzniveau geboten. DPD, GLS und Hermes vergeben die Zustelljobs größtenteils oder vollständig fremd, während UPS nach Gewerkschaftsangaben immerhin zu rund 60 Prozent eigene Paketboten beschäftigt.
Die Subunternehmen sind weitgehend mitbestimmungsfreie Zonen. „Die Zusteller zu organisieren ist schwierig“, so die Erfahrung von Walter Kloss, Betriebsratsvorsitzender bei der Deutschen Post AG in Hannover. „In den Subunternehmen sind Gewerkschaften und Betriebsräte nicht erwünscht. Vertreter von ver.di werden aufgefordert, sich bloß nicht im Betrieb blicken zu lassen.“ Seit etlichen Monaten, verstärkt durch den Undercovereinsatz von Günter Wallraff bei GLS, machen die Arbeitsbedingungen der Paketzusteller durch Negativschlagzeilen von sich reden. Die Kritik: Subunternehmer, die 1400 Euro brutto oder weniger zahlen, ausufernde Arbeitstage sowie eine willkürliche Behandlung durch die Arbeitgeber.
VER.DI FORDERT EIGENE ZUSTELLER
Eine Reaktion von Unternehmerseite auf das zunehmende Imageproblem gab es bereits. Mit dem Siegel „FairKEP“ hat der Bundesverband der Kurier-Express-Post-Dienste (BdKEP) einen Verhaltenskodex etabliert, der auch den Umgang mit Subunternehmen umfasst. Allerdings wirkt das Ganze noch recht halbherzig. Auskünfte darüber, welche Unternehmen das Siegel bisher erworben haben, will der Verband derzeit nicht erteilen. Aus ver.di-Sicht gibt es nur eine solide Lösung, die Arbeitsbedingungen in den Griff zu bekommen: „Die Unternehmen sollen das Geschäft mit eigenen Zustellern machen, und das zu vernünftigen tariflichen Bedingungen“, sagt Rolf Bauermeister, Leiter der Bundesfachgruppe Postdienste bei der Gewerkschaft.
Mit der Initiative „Fair zugestellt statt ausgeliefert“, die im März dieses Jahres gestartet wurde, will ver.di Überzeugungsarbeit leisten, um diesem Ziel näherzukommen. „Die Zusteller sind das schwächste Glied in der Kette. Eine Organisation über Sub- und Subsubunternehmerstrukturen bedeutet, dass für die Beschäftigten kein auskömmlicher Lohn mehr übrig bleibt“, erklärte ver.di-Vize Andrea Kocsis. Auch der technische Wandel erreicht das schwächste Glied der Kette, die Beschäftigten, ungefiltert. Sollten Serviceangebote wie „Follow my parcel“ Schule machen, könnte auch der Berliner Paketbote Novak bald als „Jaroslaw“ oder „Herr Novak“ auf dem Smartphone der Kunden erscheinen. Strikt freiwillig, versteht sich: Bei DPD sollen die Mitarbeiter der Subunternehmen dafür um Zustimmung gebeten werden.
* Name von der Redaktion geändert