Quelle: hasskarl.de
Magazin MitbestimmungZur Sache: Angriffe aufs Streikrecht sind kein Kavaliersdelikt
Johanna Wenckebach über das Recht auf Streik und darüber, warum sich die Rechtsprechung hier ändern muss.
Der WSI-Streikreport zeigt, dass Deutschland im internationalen Vergleich auch nach Ende der Coronapandemie bei Weitem keine streikwütige Nation ist. Nach Verzicht auf Tarifrunden und Lohnentwicklung im Lockdown hat die Zahl der Arbeitsniederlegungen zuletzt aber zugenommen. Die Transformation, aber insbesondere auch Reallohnverluste durch Inflation stellen Verteilungsfragen, in denen Gerechtigkeit keinesfalls ein Automatismus ist. Fortschritt bei Beschäftigtenrechten, Löhnen und Arbeitszeit gab es nie kampflos.
Das zentrale Mittel der Beschäftigten, ihren Forderungen in ungleichen Machtverhältnissen Nachdruck zu verleihen, sichert das Grundgesetz: Ohne das Streikrecht würde die sogenannte Koalitionsfreiheit – das „Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“, wie es in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz heißt – ins Leere laufen. Bundesarbeitsgericht und Bundesverfassungsgericht haben immer wieder unterstrichen, dass das Streikrecht ein entscheidendes Instrument für Verhandlungen auf Augenhöhe ist. Sie haben auch klargestellt, dass
Gewerkschaften nicht an einen Katalog begrenzt zulässiger Kampfmittel gebunden sind.
Allerdings ist das Streikrecht seit jeher ein Dorn im Auge derjenigen, die sich einen Kapitalismus ohne diese Art von Gegenmacht wünschen. Sie greifen das Streikrecht regelmäßig offen an, etwa wenn sie ein Verbot von Streiks in der Daseinsvorsorge fordern oder eine Zwangsschlichtung.
Meist laufen die Angriffe gegen das Streikrecht, die ein objektives Hemmnis für die Nutzung des Verfassungsrechts auf Streik in der Praxis darstellen, weitgehend unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung: wenn die Deutsche Bahn die Eisenbahnergewerkschaft (EVG) mit einer einstweiligen Verfügung unter Androhung immenser Schadenersatzforderungen zur Unterlassung ihres Streiks zwingt und sich die teure Anwaltskanzlei auf ihrer Website damit brüstet, den Streik verhindert zu haben. Wenn Arbeitgeber bei Streiks in der Pflege vor den Gerichten für die Besetzung von Notdiensten eine Personalstärke einfordern, die sie im Alltag gerade nicht verwirklichen. Wenn Verdi im Einzelhandel flächendeckend mit Schadenersatzklagen wegen der Streiks überzogen wird. Wenn Auszubildende nicht zur Prüfung zugelassen werden, weil ihnen aufgrund der Teilnahme an Streiks Ausbildungszeiten fehlen.
Letzteres kann gesetzlich geregelt werden. Einige Bundesländer haben das Streikrecht Auszubildender bereits entsprechend gesichert. Anderes braucht gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit, aber vor allem eine
andere Rechtsprechung. Die sogenannte Rührei-Theorie der Rechtsprechung, nach der eine einzige rechtswidrige Tarifforderung einen gesamten Arbeitskampf rechtswidrig machen soll, erlegt den Gewerkschaften eine überzogene Ordnungsverantwortung auf. Das bringt erhebliche Haftungsrisiken mit sich, die in der Praxis die Verwirklichung des Grundrechts gefährden. Wenn teure Anwaltskanzleien darauf angesetzt werden, diese eine Forderung zu finden, die am Rande womöglich ein in einem Tarifvertrag geregeltes Thema betrifft und so Friedenspflicht auslösen könnte, wenn im einstweiligen Verfahren nach kursorischer Prüfung in kürzester Zeit kurz vor dem Streik eine Belegschaft demobilisiert wird, dann geht es um mehr als Verunsicherung, dann ist das eine Begrenzung des Grundrechts auf Streiks, die angesichts seiner Bedeutung unangemessen ist.
JOHANNA WENCKEBACH ist Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Hans-Böckler-Stiftung.